"Lassen Sie ihn los", forderte Maja erneut mit zitternder Stimme. "Er ist so ein netter Herr und hat Ihnen nichts getan."
Nachdenklich schaute die Libelle den Brummer an.
"Ja, er ist ein lieber kleiner Kerl", sagte sie zärtlich und biß ihm den Kopf ab.
(aus: Waldemar Bonsels - "Die Biene Maja und ihre Abenteuer")

"You are a difficult case. But don't give up hope. Everyone is cured sooner or later. In the end we shall shoot you."
"Sie sind ein schwieriger Fall. Aber geben Sie die Hoffnung nicht auf. Jeder wird früher oder später geheilt. Am Schluß erschießen wir Sie."
(O'Brien in: George Orwell - "1984")

"The number our envious persons, confirmation our capability."
"Die Anzahl unserer Neider bestätigt unsere Fähigkeiten."
(Oscar Wilde)


Hauro und Deirdra machten sich auf den Weg durch das Innere des Häuserblocks. Goldenes Licht schimmerte ihnen aus Türöffnungen und von Fenstersimsen entgegen, es sickerte durchs Treppenhaus und lugte vom Aufzugschacht herüber. Alles war Teil eines Hotels, und keines von den billigen, sondern eines, dessen Ausstattung nicht auf den ersten Blick den Preis verrät. Hauro wußte den Weg durchs Labyrinth. Er war oft hier gewesen, entweder auf Tournee oder auf der Flucht vor organisierten Banden, deren Bekämpfung er sich verschrieben hatte. Und bei beidem waren ihm Fehler unterlaufen: zu viele Drogen bei Tourneen und zu wenig Vorsicht beim Umgang mit organisierten Banden. Ihm fehlte das linke Auge, als Folge eines Schußwechsels. Ansonsten gehörte Hauro zu den Männern, die etwas hermachten, wie es hieß. Deirdra war etwas anderes wichtiger. Sie wollte herausfinden, wie Geschöpfen beizukommen war, die ihr böses Ich hinter einer wohlwollenden Fassade versteckten.
"Du kannst sie nur mit ihren eigenen Waffen schlagen, Hase", sagte Hauro zwischen zwei Zimmertüren. "Der Böseste ist der Charmanteste. So steht es in einer Fabel. Grobschlächtige Unholde sind als Bösewichte leicht zu erkennen. Die gefährlichsten Wölfe haben höfisches Gebaren. Sie fressen Kreide und stecken im Schafspelz. Viele von ihnen sind beliebt und angesehen. Es hat keinen Sinn, sie offen anzugreifen."
Deirdra schloß das Doppelzimmer mit der Nummer -849 auf, das ebenso fensterlos war wie alle Zimmer in den unterirdischen Stockwerken. Drinnen schimmerte weiches Licht wie Goldstaub über dem Bett. Deirdra ließ sich auf die kunstseidene Überdecke fallen. Hauro nahm auf dem Hochflor-Teppichboden Platz und zeichnete mit Kreide auf eine graue Pappe, die in einer von Deirdras Einkaufstüten gewesen war.
"Hier werden sie entlanggehen", erklärte Hauro die Linien und Pfeile auf der Pappe. "Sie wollen töten, und sie werden töten."
"Wer denn nun schon wieder?" seufzte Deirdra.
"Wölfe aus dem Obergeschoß", antwortete Hauro. "Die Namen kenne ich nicht, aber sie gehören zu einem Rudel, vor dem man sich besonders in acht nehmen muß."
"Wer ist denn mehr gefährdet, du oder ich?"
Hauro lächelte.
"Erst wenn einer von uns stirbt, wird es der andere wissen", sagte er mit vieldeutiger Miene.
Hauro und Deirdra waren entschlossen, wenigstens im Privatleben ihre Gelassenheit zu bewahren - wie einen Schatz, der nicht unter die Wölfe fallen sollte. Von der Macht der Gewohnheit ließen sie sich hinwegziehen aus einer Wolfswelt, in der das Leben eines Hasen nichts zählte. Sie lachten über Scherze, die nur lustig waren, solange der eigene Kopf nicht im Betonmischer steckte.
"Hört das denn nie auf?" fragte Deirdra mit einem Blick auf die bekritzelte Pappe.
"Hase", wisperte Hauro, "solange du Hase bist, geht es dir wie allen Hasen."
Es wurde laut auf dem Flur. Jemand schlug der Reihe nach gegen mehrere Zimmertüren.
"Hier ist eine Wolfsplage ausgebrochen", rief eine zarte Stimme, die sich wie Silberglocken anhörte. "Wir werden alle Wölfe verjagen! Meldet euch, wenn ihr von Wölfen verfolgt werdet!"
"Das ist eine Falle", zischte Hauro. "Reg dich nicht!"
Deirdra erinnerte sich an Schilderungen über den Massenmörder von Utøya, der seine Opfer auf ähnliche Art wie die Silberglocken-Stimme in Sicherheit wiegen wollte, um sie hervorzulocken und zu erschießen. Deirdra lag flach auf dem Bett, als wäre sie ein Teil der kunstseidenen Überdecke. Eines der vielen Lämpchen, die den Spiegel am Kleiderschrank einrahmten, flickerte und ging aus.
"Wie kommen wir bloß hier weg?" fragte Deirdra, als auf dem Flur wieder Stille eingekehrt war.
"Geduld ist die stärkste Waffe", betonte Hauro.
"Und wenn sie die Tür eintreten?" sorgte sich Deirdra.
"Wenn du den Wölfen nicht entgehen kannst, dann verhindere, daß sie in dein Inneres schauen", riet Hauro. "Und glaube ihnen kein Wort, was sie auch sagen. Und glaube keinem Schaf, das könnte ein verkleideter Wolf sein."
"Wie können wir uns schützen?" fragte Deirdra. "Das beschäftigt mich mehr als alles andere - so daß ich darüber schon das Leben vergesse."
"Es gibt einen Punkt, einen 'point of no return', ab dem es nur möglich ist, sich zu schützen, indem man andere Gestalten beseitigt."
"Und an diesen Punkt will ich nie kommen", sagte Deirdra bestimmt. "Ich will nie zu einem Wolf werden."
"Dann ist die Darstellende Kunst der einzige Weg", meinte Hauro. "Was ich auf der Bühne vorführe, ist für mich ein Kinderspiel. Wenn ich vor 10000 Leuten ins Mikrophon schreie, ist das entspannend wie Meditation. Ich tue, was mir liegt, und mir droht dabei keine wirkliche Gefahr. Wenn sich jedoch ein armseliger Hase gegen einen Wolf verteidigen will, ohne dabei sein gesellschaftliches Ansehen zu verlieren oder seine moralischen Werte aufzugeben, muß er die Darstellende Kunst in ihrer höchsten Vollendung beherrschen. Der Hase muß den Wolf von dem Wunsch ablenken, ihn zu fressen. Und der Wolf darf nicht merken, wie der Hase vorgeht - und was in dem Hasen vorgeht. Der Hase spielt um nichts weniger als um sein Leben. Die größten Helden der Darstellenden Kunst wenden ihr Können im Alltag an. Sie bleiben unbekannt, weil niemand mitbekommt, wann und wie sie ihre Kunst einsetzen."
"Dieses Spiel habe ich schon gespielt", erinnerte sich Deirdra. "Mehrmals bin ich nur deshalb mit dem Leben davongekommen, weil ich einem Wolf so begegnet bin, wie er es nicht erwartet hat. Weil ich den Wolf verwirrt und abgelenkt habe, hatte ich genügend Zeit für die Flucht. Danach aber - als ich gerettet war - hatte ich das Gefühl, um Jahre gealtert zu sein. Alle Kraft war weg, und es hat lange gedauert, bis sie zurückkam. Eines Tages wird sie nicht mehr zurückkommen."
"Warum glaubst du das?"
"Wir wandern schon so lange von Gefahr zu Gefahr ...", seufzte Deirdra.
"Sei in der Gefahr zu Hause", riet Hauro. "Wenn du dich mitten im Kreuzfeuer gemütlich eingerichtet hast, bekommst du das Gefühl von Sicherheit."
"Gemeinsam mit dir fühle ich mich immer zu Hause, immer am richtigen Ort", stellte Deirdra fest. "Es ist, als würden wir immerzu dieselben Gedanken haben und mit derselben Stimme reden. Dabei haben wir eine so unterschiedliche Geschichte und so unterschiedliche Eigenschaften."
"Wer weiß, vielleicht sind wir gar nicht so verschieden ...?"
"Ja, das kann sein", überlegte Deirdra. "Vielleicht sind wir deshalb zu einem Gespann geworden."
"Wir ziehen einen unfaßbaren Neid auf uns", meinte Hauro. "So viele Todfeinde hat kaum einer. Wir verstehen einander ohne langes Nachdenken. Und wir sind oft genug aufeinander angewiesen."






"Dazu fällt mir eine Fabel ein", erzählte Deirdra. "Es war einmal ein Wolf, der fraß Kreide und fragte einen Hasen, ob er mit ihm tanzen wollte. Der Wolf legte feine Manieren an, tat schön, lobte den samtig-weichen Pelz des Hasen, lobte den Hasen für sein artiges, bescheidenes Wesen und erschlich dessen Vertrauen. Der Hase ließ sich von dem Wolf zum Tanz auffordern. Wie sie miteinander tanzten, griff der Wolf so recht zu, als wenn er den Hasen gar nicht mehr loslassen wollte. Der Wolf behauptete, er habe so sehr Gefallen an dem Hasen gefunden und sei so glücklich über dessen Bekanntschaft, daß er sich vor Freude kaum zu lassen wüßte. Kaum war aber die Musik aus, schleppte der Wolf den Hasen fort, sperrte ihn in seinem prächtigen Bau ein und ließ ihn als Sklaven dienen. Als der Hase wehklagte, wie der Wolf ihm dies antun könnte, zeigte der Wolf eine gar betrübte Miene und behauptete, er habe den Hasen nur beschützen wollen. Beim Tanze nämlich seien andere Wölfe gewesen, die hätten es abgesehen auf den zarten Hasen und ihn auffressen wollen. Nur er habe den Hasen davor bewahrt, indem er ihn in seinem Bau unterbrachte. Die Dienste, die er dafür von dem Hasen erwartete, seien nur als kleine Gegenleistung zu verstehen. Keinesfalls habe er vorgehabt, den Hasen zu versklaven. Doch wenn er ihn aus seinem Bau hinauslasse, müsse er mitansehen, wie der Hase von den anderen Wölfen zerrissen werde, und das, bei Gott! - das könne er nicht ertragen. Der Hase glaubte ihm wiederum und arbeitete hart für den Wolf, der sich immerzu neue Arbeiten für ihn erdachte und ihn kaum zum Schlafen kommen ließ. Eines Tages brachte der Wolf von seinen Streifzügen eine Peitsche mit, die er von einem Fuhrwerk gestohlen hatte.
'Welch ein Segen!' rief der Wolf dem Hasen zu. 'Denke dir, eine echte Peitsche, aus Leder und mit neun Schnüren! Lasse dir damit nur das Fell bürsten, dann wirst du wacher und kannst deine schwache Leistung etwas aufbessern.'
Der Hase wurde nun täglich gepeitscht und mußte sich darüber hinaus dauernd anhören, wie wenig er leistete und daß es doch eine Gnade sei, dem Wolf dienen zu dürfen.
'Du könntest mehr Vertrauen zeigen', rügte der Wolf. 'Man möchte fast glauben, daß du an unserer guten Freundschaft zweifelst. Wohin das noch führen soll, ei ei, das weiß ich nicht.'
'Die Hasen sind alle meine Freunde', erwiderte der Hase schüchtern.
'Deine Freunde?' lachte der Wolf. 'Glaubst du, dann hätten sie dich hier vergessen, wenn sie wirklich deine Freunde wären? Erst neulich habe ich draußen die Hasen reden hören, wie du sie mit deiner ungeschickten Art schon immer gestört hast. Glaube mir, von denen hast du bestimmt nichts Gutes zu erwarten. Das bedauere ich sehr, denn ich - ich bin dir ein wahrer Freund und Wohltäter.'
Der Hase schwieg dazu, denn tatsächlich hatte er von den anderen Hasen nichts mehr gehört und gesehen, seit er in dem Wolfsbau lebte.
Eines Tages forderte der Wolf den Hasen auf, reichlich Wasser zu holen und den Herd anzufeuern, denn es sollten Gäste kommen, und dafür müsse alles vorbereitet werden. Der Hase folgte den Befehlen und wurde auf Schritt und Tritt von dem Wolf gescheucht und konnte es dem Wolf nicht recht machen.
'Wir müssen uns gut halten', zischte der Wolf. 'Wir dürfen uns vor dem hohen Besuch nicht blamieren. Du willst doch auch einen guten Eindruck hinterlassen? Bedenke, wir beide sitzen im selben Boot!'
Die Kreidevorräte waren aufgebraucht, und der Wolf hatte seine heisere Stimme wieder und bellte dem Hasen in die Ohren, daß der jedesmal zusammenschrak."
"Und dann?" fragte Hauro, als Deirdra eine Pause machte. "Wer hat wen gefressen?"
"Bei der Küchenarbeit fand der Hase ein Buch, das der Wolf in seinen Bau geschleppt hatte. Es war ein Buch mit Hasen-Rezepten."
"Ach."
"Der Hase wußte nun, daß der Wolf nichts anderes mit ihm vorgehabt hatte, als ihn zu versklaven und ihn schließlich, wenn er einen rechten Appetit bekommen hatte, zu braten und zu essen. Anschließend konnte sich der Wolf nach dem nächsten Hasen umsehen, den er mit süßen Worten gefügig machte.
Der Hase schmückte den Tisch mit Blumen und fragte den Wolf mit harmloser Stimme, ob er nicht auch die Eingangstür schmücken sollte, um die Gäste zu bewillkommnen. Der Wolf kam nicht auf den Gedanken, daß der Hase seinen Plan entdeckt haben könnte. Er öffnete dem Hasen, der einen Armvoll Blumen trug, die Türe und herrschte ihn an:
'Daß du auch ordentlich bist dabei!'
Der Hase machte sich innerlich bebend an die Arbeit und lugte und lauschte, ob sich der Wolf entfernte. Als der Wolf sich im Schaukelstuhl eine Pfeife stopfte, sah der Hase den richtigen Augenblick gekommen und sauste davon. Der Wolf tobte und heulte. Er setzte dem Hasen nach, konnte ihn aber nicht mehr erwischen. Die Gäste erschienen, lauter wilde Wölfe. Als sie erkannten, daß der Wolf nichts für sie zu essen hatte, wurden sie wütend und fraßen ohne langes Überlegen ihren Gastgeber auf."






Vom Flur her waren Schüsse zu hören, gedämpft durch die Schallschutzisolierung der Tür. Aus den Zimmerlautsprechern erklang das Lied der Schlange Kaa aus dem Trickfilm "Das Dschungelbuch":

Hör auf mich, glaube mir,
Augen zu, vertraue mir!
Schlafe sanft, süß und fein,
will dein Schutzengel sein!
Sink nur in tiefen Schlummer,
schwebe dahin im Traum,
langsam umgibt dich Vergessen,
doch das spürst du kaum!


"Der Wolf wollte den Hasen nicht nur umbringen, er wollte ihn auch gesellschaftlich vernichten", meinte Deirdra. "Er wollte den Hasen isolieren, gegen seine Freunde ausspielen, verunsichern, erniedrigen und erreichen, daß der Hase sich dem Wolf unterwirft. Das war der Grund, warum der Wolf den Hasen nicht sofort gefressen hat."
"Also ging es dem Wolf nicht in erster Linie um Nahrungssuche."
"Dem Wolf ging es um Futter für sein Ego."
"Was ist denn aus dem Hasen geworden?" fragte Hauro.
"Er hatte alles verloren, nur eines nicht: seine Freunde", erzählte Deirdra. "Und sie waren es vor allem, um die der Wolf den Hasen beneidet hat. Wer sich dem Bösen verschreibt, hat keine Freunde."
"Das Beste, was wir erreichen können, ist, daß wir uns schützen ... wenigstens teilweise, wenigstens zeitweise."
Deirdra erinnerte sich an einen Spruch, der an mancher Hausfassade zu lesen war:

Wenn dieses Haus so lange steht,
bis aller Neid und Haß vergeht,
dann wird es hier so lange stehn,
bis daß die Welt wird untergehn.








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