"Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen." (Goethe)





"Wie war es doch ..."


Wie ist es doch ...

... mit Keinzelmännchen so bequem.
Keinzelmännchen sind jederzeit ersetzbar. Keiner braucht sie, und jeder kann sie benutzen. Keiner will sie, und jeder kann etwas von ihnen wollen. Keinzelmännchen haben keinen Wert. Sie sind eine leere Währung. Keinzelmännchen haben keine Bedeutung und lassen sich für alles verwenden. Sie sind die Joker im Spiel und tun das, wofür sich kein anderer findet. Keinzelmännchen können etwas, das keiner will. Was Keinzelmännchen tun, hat keinen Wert. Keinzelmännchen gibt es nicht, und dennoch werden sie niemals alle. Mit Keinzelmännchen darf man machen, was man will, weil sie nicht vorhanden sind. Keinzelmännchen dürfen nichts wollen, weil sie nicht vorhanden sind. An Keinzelmännchen kann man sich nicht schuldig machen, weil keiner da ist, an dem man sich schuldig machen könnte. Keinzelmännchen braucht keiner zu erfinden, weil sie schon immer vorhanden waren, ohne vorhanden zu sein.


Wie war es doch ...

... mit Keinzelmännchen so bequem.
Keinzelmännchen werden nicht erfunden, sondern dazu gemacht. Keiner von ihnen ist ersetzbar. Jeder braucht sie, und sie lassen sich nicht benutzen.



"Keinzi! Komm' mal her!" schallte Hinnys Stimme durch den Klassenraum.
"Diese verwünschte Rothaarige ...", dachte Hinny. "Alle laufen ihr hinterher und hängen an ihren Lippen, alle verehren sie, dabei ist sie nicht mehr als ein widerlich arrogantes, frühreifes Ding. Wenn ich nur wüßte, wie ich sie unmöglich machen könnte ..."
"Keinzi" drehte sich zu Hinny um und ließ ihre langen roten Locken über die linke Schulter rieseln.
Hinny wußte mit einem Mal nicht mehr, was sie zu "Keinzi" sagen wollte. Sie rettete sich in ein wegwerfendes:
"Wollte nur mal wissen, ob dein Makeup noch sitzt, hihihi!"
Am liebsten wäre es Hinny gewesen, wenn sie "Keinzi" etwas unterstellen könnte, das "Keinzis" Schulkarriere ein für allemal beendete. "Keinzi" nahm kein Blatt vor den Mund und war auf widerwärtige Art selbstbewußt, das mußte irgendwann auf Ablehnung stoßen, und diese Gelegenheit würde Hinny zu nutzen wissen.
Nein, "Keinzi" hatte ihr Referat nicht verloren. Hinny hatte es gestohlen und verbrannt. Aber das würde nie jemand herausfinden.
"Keinzi" hieß eigentlich Maja. Vor zwei Jahren sollten alle Schüler Quietsche-Entchen mitbringen. Maja gestand, daß sie keins mitgebracht hatte, weil sie zu Hause keins gefunden hatte und in ihrer Eile keins mehr kaufen konnte. Das genügte. Nach halbstündigem Gelächter war aus Maja "Keinzi" geworden.
"Keinzi" hielt ihr Referat. Das Referat war nicht mehr vorhanden, das Papier war zu Asche geworden, doch "Keinzi" hielt es trotzdem - ohne Papier. Und sie bekam eine Eins.
Hinny dachte an halbautomatische Waffen mit Zielfernrohr. Zu Hause spielte sie ein Egoshooter-Spiel und verwendete "Keinzis" Facebook-Profil-Bild für das Aussehen der Opfer.
Hinny mochte den Physiklehrer. Der Physiklehrer konnte "Keinzi" nicht leiden. Er schickte Blaue Briefe an "Keinzis" Eltern, in denen er sich seitenlang über "Keinzis" Verfehlungen ausließ: daß sie immer zu spät in den Unterricht kam, daß sie nur selten ihre Hausaufgaben machte, daß sie ihren Tisch im Hörsaal bemalte und das Physikbuch gleich noch dazu.
"Schlechter als Fünf kann er mich nicht bewerten wegen meiner Drei im ersten Halbjahr", erklärte "Keinzi" ihren fuchsteufelswilden Eltern. "Und mit nur einer Fünf werde ich versetzt. Denkt daran - es ist mein Abitur, ihr habt eures schon."
Die Eltern hatten keine Lust, ihre Tochter zu verhauen. Sie gingen mit giftiger Miene zur Tagesordnung über.
Hinny war nicht alleine. Hinny hatte Freundinnen. Eine von ihnen - Daisy - war kreativ und dachte sich Geschichten aus. Hinny tat, was sie konnte, um diese Geschichten zu verbreiten, über Facebook und in Form von Briefen an den Direktor. Besonders gründlich war Hinny, wenn es um Geschichten über "Keinzi" ging. Nachdem "Keinzi" den Direktor dreimal davon überzeugen mußte, daß die vorgeworfenen Geschichten frei erfunden waren, dämmerte es "Keinzi" endlich, wer dahintersteckte. Sie beobachtete Daisy und Hinny auf dem Schulhof, wie sie miteinander tuschelten. Als gerade niemand anders in der Nähe war, ging "Keinzi" auf Daisy und Hinny zu, riß die überraschten Mädchen auseinander und lobte sie überschwenglich.
"Ihr seid klasse!" rief "Keinzi". "Ihr seid die Besten! Ihr schreibt den tollsten Blog, den es gibt! Und wenn ihr euch noch einmal, ein einziges Mal Lügengeschichten über mich ausdenkt, zeige ich euch an wegen Verleumdung. Und wenn ihr mich jetzt zusammenhaut, dann habt ihr sofort eine Anzeige wegen Körperverletzung am Hals."
Die zierliche "Keinzi" schien einen gewissen Eindruck auf die große Daisy und die kräftige Hinny zu machen. Daisy und Hinny begannen wie ein Hornissenschwarm zu summen, zu drohen, zu giften, hoben jedoch nicht die Fäuste. Ehe die beiden auf die Idee kommen konnten, nach "Keinzi" zu schlagen, war "Keinzi" bereits wieder im Schulgebäude.
"Genau das", dachte "Keinzi", "was mir hier passiert, das wird mir nun mein ganzes Leben lang immer wieder passieren. Wen das Schicksal trifft, nicht nur hübsch, charismatisch und intelligent, sondern auch noch selbstbewußt zu sein, wird zur ewigen Zielscheibe für Neider. Er wird für immer in einem Egoshooter-Spiel gefangen sein, und zwar als der Gejagte. Nur wer mit dieser Rolle zurechtkommt, kann das überleben."






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