Wasteland - Keine Zeit für Träume

Ohne Träume ist die Seele ein ödes Land.

Die Seilbahn hielt an einem steilen Hang. Eos war allein im Abteil. Sie schob die Tür des Wagens zur Seite und atmete die kalte Luft ein. Über die Felsen zogen Nebelschwaden. Die Seilbahn lief auf schmalen Gleisen. Hier oben gab es fast nur Geröll, braungraue Steine, auf denen sich feine Schneeflocken niederließen. Eos war schon einige Male hinaufgefahren. In der Nähe der Bergstation lag ein verwunschen wirkender See inmitten schneebedeckter Felswände. Dort hatte Eos viel fotografiert.




Dieses Mal durfte Eos schon am Hang aussteigen, weil ihr Vorgesetzter ihr erlaubt hatte, zwischen Tal- und Bergstation Fotos zu machen. Er hatte ihr sogar den Schlüssel zu dem Häuschen besorgt, das neben den Schienen am Hang stand. Es war ein sehr kleines Häuschen mit einem großen Fenster hangabwärts. Niemand wohnte dort, es diente nur technischen Zwecken. Gerade die technischen Häuschen liebte Eos besonders. Auf Eos wirkten sie so, als wären sie jemand - Menschen, deren Inneres darauf wartete, erkundet zu werden.
In dem unbewohnten Häuschen schaute Eos durch das Fenster auf den felsigen, mit feinem Schnee bedeckten Hang, dessen unteres Ende im Nebel versank. Sie legte den zweiten Film in die Kamera, als das Türlein aufgeschlossen wurde. Ein Mann trat ein, der Eos bekannt vorkam. Er trug weite weiße Kleidung aus einem dünnen, knittrigen Stoff, ein synthetisches Material. Die weißblond gefärbten Haare waren ausrasiert, die Augen schwarz umrandet.
"Du bist viel zu dünn angezogen", sagte Eos.
"Ich friere nicht", erwiderte der Fremde. "Darf ich mich vorstellen - Cato."
"Ich bin Eos. Es ist seltsam - ich habe dich schon mal gesehen. Im Traum."
"Ich bin nur ein Traum", erklärte Cato, "ich bin gar nicht wirklich da."
"Du stehst vor mir, du bist kein Traum."
"Du glaubst nur, daß ich da bin. Das ist eine Illusion, und die verschwindet auch gleich wieder und kommt vielleicht nie wieder zurück, wie jeder Traum."
"Ist dir das denn recht, gleich wieder zu verschwinden?"
"Das ist mir sehr recht, denn ich bin geschützt, und du kannst mich nicht greifen und festhalten."
"Warum bist du eigentlich zu mir gekommen?"
"Weil du so lange nichts mehr geträumt hast", erklärte Cato. "Jetzt begegne ich dir als Traum in der Wirklichkeit."
"Wer hat dich denn geschickt?"
"Träume lassen sich nicht für immer verbannen, die finden irgendwann von selbst den Weg zu den Menschen."
"Warum willst du denn nicht, daß ich dich greifen und festhalten kann?"
"Weil mich niemand an sich binden soll."
"Das heißt aber, daß dich niemand lieben darf und daß du auch niemanden lieben darfst."
"Das ist doch auch besser so."
"Warum ist das besser so?"
"Du hättest sowieso keine Zeit für mich."
"Doch, sicher."
"Du hast noch nicht einmal Zeit zum Schlafen. Du schläfst so wenig, daß du fast keine Träume mehr hast."
"Ich vermisse meine Träume", seufzte Eos. "Ohne Träume ist die Seele ein ödes Land. Ich hätte gerne mehr Träume."
"Dann mußt du mehr Zeit zum Schlafen haben."
"Vor allem will ich mir mehr Zeit für dich nehmen."
"Leere Versprechungen! Überfordere dich nicht."
"Ich werde es einrichten, du wirst es sehen. Leider habe ich dich bisher immer nur im Traum getroffen, Cato. In der Wirklichkeit habe ich dich vergeblich gesucht."
"Es hätte sich nicht gelohnt, mich zu finden", war Cato sicher. "In deinen Träumen bin ich ein guter Mensch, in der Wirklichkeit ein schlechter."
"Schlecht oder gut ist nicht der Mensch, sondern sein Verhalten", entgegnete Eos. "Und über sein Verhalten entscheidet jeder selbst."
"Was meinst du damit?"
"Du entscheidest, ob du gut oder schlecht bist. Und in der Wirklichkeit scheint dich etwas daran zu hindern, gut sein zu wollen."
"Ja - es lohnt sich nicht, in der Wirklichkeit gut zu sein."
"Hast du es denn jemals versucht?"
"Ja."
"Wann war denn das?"
"Das muß ungefähr dreißig Jahre her sein."
"So, und du meinst, weil es sich damals nicht gelohnt hat, gut zu sein, lohnt es sich heute auch nicht."
"Guck' dir die Wirklichkeit an, da hat sich doch ewig nichts mehr dran geändert."
"Und hast du dich verändert?"
"In dreißig Jahren wird sich wohl jeder Mensch verändern, zumindest äußerlich."
"Und wenn du dich auch verändert hast, wirst du heute vielleicht mit der Wirklichkeit anders umgehen können als damals, wenn du versuchst, gut zu sein."
"Du willst mich überreden, gut zu sein."
"Ich will dich ermutigen, dein Verhalten zu ändern."
"Welchen Zweck verfolgst du damit?"
"Zweck?"
"Ja, du machst das doch nicht aus Selbstlosigkeit. Du bezweckst doch etwas damit."
"Cato, dein Argwohn ist das Problem, glaube ich. Du traust den Menschen nur Böses zu. Dann wunderst du dich, wenn dir die Wirklichkeit nur in düsteren Farben erscheint. Wie willst du die Welt denn hell machen, wenn du den Menschen keine Chance gibst? Du mußt Vertrauen lernen."
"Vertrauen? Niemals."
"Das ist es, Cato. Du mußt den Mut haben, zu vertrauen, sonst bleibst du immer allein und hast vor allen Menschen Angst. Dein Leben bleibt eine Hölle."
"Die Welt ist eine Hölle."
"Die Hölle ist in dir, Cato. Sie ist so lange in dir, bis du eine Brücke zu anderen Lebewesen geschlagen hast und anderen die Tür zu deinem Herzen öffnest."
"Um mein Herz habe ich eine Festung gebaut, und das ist gut so. Die anderen warten doch nur darauf, daß ich ihnen die Tür öffne. Dann können sie die Festung stürmen und ausbrennen."
"Und du meinst, die haben nichts anderes vor."
"Was sollen sie denn sonst mit mir anfangen?"
"Dich mit Leben erfüllen, dich mit Freude erfüllen ..."
"Mich? Warum sollte jemand den Wunsch haben, mich mit Leben zu erfüllen?"
"Weil auch du liebenswert bist, ebenso wie die anderen."
"Ich bin ein schlechter Mensch. Ich verdiene es nicht, daß ich geliebt werde."
"Jeder verdient es."
"Ach, ich will es gar nicht", wehrte Cato ab. "Ich würde nur enttäuscht werden. Ich will zuviel. Ich will bedingungslos geliebt werden, und das gibt es nicht. Also wünsche ich es mir gar nicht erst."
"Du wirst bedingungslos geliebt. Dein Schöpfer liebt dich, so wie du bist."
"Mein Schöpfer? Ich habe einen Erzeuger, der hat mich geschlagen und eingesperrt ..."
"Den meine ich nicht."
"Gib dir keine Mühe, ich glaube nicht an Gott."
"Das mußt du auch nicht", meinte Eos. "Es genügt, wenn du daran glaubst, daß jemand will, daß es dich gibt, dich, so wie du bist."
"So, wie ich bin? So schlecht, wie ich bin?"
"Dein Verhalten ist schlecht, nicht du selbst."
"Wenn jeder Mensch, den es gibt, erwünscht ist ... dann sind doch alle Verbrecher in dieser Welt auch erwünscht, alle Mörder und Betrüger ..."
"Als sie zur Welt kamen, waren sie unschuldig. Aber dann haben sie ihre Seele an den Bösen verkauft. Es war ihre eigene Entscheidung, sich von ihrem Schöpfer abzuwenden."
"Das habe ich auch getan, deshalb verdiene ich es nicht mehr, geliebt zu werden."
"Der Schöpfer liebt jeden Menschen. Aber wer sich dem Bösen verschreibt, kann die Liebe nicht mehr fühlen. Er irrt allein durch die Dunkelheit, weit weg von anderen Menschen und auch von sich selbst."
"Und diesen Unsinn soll ich dir glauben."
"Du wirst die Liebe, die Freude und die Erfüllung nur empfinden, wenn du darauf vertraust, daß es sie gibt."
"Aber das ist dann doch nur Einbildung", entgegnete Cato. "Die ganze Welt ist doch nur Einbildung."
"Vertrauen ist keine Einbildung. Es ist eine Erfahrung."
"Wenn ich niemandem vertraue, kann ich daran nichts ändern. Ich kann mich nicht entscheiden, jemandem zu vertrauen."
"Wenn eine Bank einem Kunden Kredit gibt, kann die Bank das auch selbst entscheiden. Und du entscheidest, ob du der Wirklichkeit Kredit gibst."
"Du meinst ... eine Chance."
"Ja."
"Und wenn ich enttäuscht werde?"
"Nur wenn du es wagst, kann sich für dich etwas verändern."
"Die Einsamkeit, die Angst und die Dunkelheit in meiner Festung sind mir vertraut, ich kenne es nicht anders, ich habe mich damit arrangiert. Aber wenn ich mich aus meiner Festung hervorwage, und ich werde von den Menschen enttäuscht, dann kommt etwas viel Schlimmeres, und das will ich verhindern. Also bleibe ich lieber in meiner Festung."
"Vielleicht wirst du mir eines Tages doch in der Wirklichkeit begegnen, Cato."
"Lieber nicht!"
"Warum?"
"Das würde zuviel Unruhe stiften."
"Es würde mich freuen, wenn dein Leben durcheinandergeraten würde."
"Wenn mein Leben deinetwegen durcheinandergeraten würde."
"Ich will dir helfen, Cato."
"Nein, du willst nur deine Macht testen."
"Ich will mein Leben mit dir teilen."
"Das kannst du doch gar nicht. Du hast doch nie Zeit für mich, nicht einmal im Traum hast du genug Zeit für mich."
"Zeit und Zeit ist nicht dasselbe. Sicher - ich werde meinen Terminkalender überprüfen und schauen, was ich verändern kann, um mehr Zeit für dich zu haben. Aber dir ist nicht damit gedient, wenn ich rund um die Uhr bei dir sitze und mich um mein eigenes Leben nicht mehr kümmere, denn dann kannst du dich um dein eigenes Leben auch nicht mehr kümmern. Außerdem kommt es darauf an, wie man die gemeinsame Zeit verbringt. Wenn man nur nebeneinander herlebt, erreicht man niemals Nähe zum anderen, egal wie lange man sich im selben Raum befindet. Es geht darum, sich wirklich mit dem anderen zu beschäftigen, anstatt ihn nur zu benutzen."
"Ich will gar nicht, daß man sich mit mir beschäftigt. Ich will nur benutzen und benutzt werden."
"Du hast gesagt, du willst bedingungslose Liebe, Cato."
"Ach, die gibt es doch eh nicht."
"Die gibt es."
"Kannst du mir das beweisen?"
"Ja. Du mußt aber auch deinen Träumen eine Chance geben, deinen Wünschen und deiner Sehnsucht. Versuche, durch die Tür von der Traumwelt in die Wirklichkeit zu gehen, so wie du jetzt vor mir stehst, als ein offener, aufrechter Mensch, der sich mitteilen kann und auf andere Menschen zugehen kann. Versuche, das zu bewahren, was du jetzt kannst. Versuche, das Vertrauen zu bewahren, das du jetzt zeigst."
"Aber ich vertraue dir doch gar nicht."
"Doch. Du bist ehrlich, du teilst dich mit. Das kannst du nur, weil du mir vertraust."
"Und gleich werde ich es nicht mehr können. Gleich werde mich wieder von dem Traum-Cato in den wirklichen Cato verwandeln, und ich werde weit weg sein von dir."
Eos legte ihre Arme um Cato und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Langsam, tastend schloß er seine Arme um sie, so vorsichtig, als könnte ihm etwas zustoßen, wenn er sie berührte. Cato wurde mehr und mehr durchsichtig, und schließlich stand Eos vor einem leeren Fußboden und schaute durchs Fenster in die einsame, felsige, im Nebel versunkene Bergwelt.











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