© Annemarie Gramberg, ARISTON, Detmold





Sei kein Frosch

Rana wurde "der Frosch" genannt, nicht nur, weil er stets Grün trug. Er war auch in seinem Wesen kalt und schlüpfrig wie eine Amphibie. Er galt als schillernd, als Blickfang, als Magnet, und er führte gerne vor, wie leicht es ihm fiel, Frauen in ergebene Gespielinnen zu verwandeln. Jede einzelne, mit der er in sorgsam berechneter Umarmung durch den Ballsaal zog, glaubte wahrhaft, sie sei nun seine Auserwählte und werde ihn heiraten dürfen ... und die Gäste, die Rana schon mit so vielen verschiedenen Frauen gesehen hatten, glaubten es ebenfalls.
Rana verliebte sich in mich, aber er konnte das nicht leiden; er wollte es nicht leiden. Vielleicht hatte ich seine Routine durcheinandergebracht. Rana tat eines Tages so, als würde er mich nicht mehr kennen, und setzte seine Routine fort.
Ich hätte Rana gerne vergessen, weil er gewissenlos und gewalttätig war. Anderen Menschen hat er noch weit mehr angetan als mir. Da gab es die Freundinnen, die er betrogen und bewußtlos geschlagen hat. Da gab es die Geliebten, die er mit falschen Hoffnungen lockte. Eine von ihnen wurde eines Morgens tot im Badezimmer gefunden, die leere Tablettenschachtel neben sich. Sie war neunzehn Jahre alt.
Je älter Rana wurde, desto mehr achtete er darauf, daß keine seiner Freundinnen älter als zwanzig war. Sein zunehmender körperlicher Verfall schien ihn so lange nicht zu stören, wie er in das Gesicht eines jungen Mädchens blickte, anstatt einen Blick in den Spiegel zu werfen.
Rana war glücklich - zumindest gab er sich Mühe, diesen Eindruck zu erwecken. Hinter den runden Stehtischen der Bars wisperte man, daß Rana sich zu Hause mit Angstzuständen verkroch und glaubte, die Menschheit habe sich gegen ihn verschworen. Kam er dann aber wieder zum Vorschein, strahlte er vor Eitelkeit und streckte alle zehn Finger aus, als wollte er sagen:
"Seht her, die Welt gehört mir. Und die Menschheit gehört mir auch."
Eines Tages begegnete mir Azura, die Elfe. Sie trug ein lichtblaues Schnürmieder, ein kleines blauschillerndes Röckchen und hohe eisblaue Schnallenstiefel. Ihr langes blaues Haar war zu hoch angesetzten "Manga-Zöpfen" gebunden. Als Azura an mir vorbeiging, entdeckte ich die durchsichtigen Flügel auf ihrem Rücken.
"Ich sehe so aus wie viele hier", sagte Azura, "eben ein Cyber-Girl. Die Flügel allerdings ... sind echt."
"Weißt du was?" hatte ich einen Einfall. "Wenn du eine richtige Elfe bist und zaubern kannst ... vielleicht kannst du mir dann helfen."
Ich erzählte ihr von Rana, und sie erkundigte sich:
"Gibt es denn keinen anderen Mann, den du lieben kannst?"
"Bisher habe ich keinen gefunden, soviel ich auch gesucht habe", seufzte ich. "Mein Herz schlägt nur für Rana, den Verbrecher. Ich bin an einen der schlechtesten Menschen gebunden, die mir je begegnet sind. Und ich überlege, was ich tun kann, um meine Lage zu verändern."
"Rana ist doch der Frosch", überlegte Azura. "Vielleicht liegt hier die Auflösung des Rätsels."
"Und was muß man tun?"
"Das Märchen vom Froschkönig handelt von einem Frosch, der in Wahrheit ein Prinz ist. Er kann aber seine menschliche Gestalt erst wiedererlangen, als er an eine Wand geworfen wird. Nun frage ich mich, was passiert, wenn man Rana gegen eine Wand wirft."
"Einen Frosch, den kann auch eine Prinzessin an die Wand werfen, aber einen athletischen Achtzig-Kilo-Mann wie Rana, den schafft wohl so leicht keiner."
"Das ließe sich schon machen, denn bedenke, ich bin eine Elfe."
"Also, ich kann es jedenfalls nicht."
"Meinst du, du liebst ihn noch und willst ihn nicht umbringen."
"Ja, so ist es", nickte ich. "Ich will ihn nicht umbringen, sondern erfahren, was er in Wahrheit ist. Ich will wissen, was übrigbleibt, wenn er seine schillernde Fassade verliert."
"Dann soll der Zauber sein: Rana soll zu dem Wesen werden, das in seinem Herzen ist."
"Wie können wir das machen?"
"Wir gehen ins Gewerbegebiet, da gibt es kahle Höfe und Betonmauern."
Der Morgen graute. Es war Sonntag, und das Gewerbegebiet war menschenleer. Azura und ich gingen zwischen den Mauern der Fabrikgebäude hindurch, und ich stellte mir das prunkvolle Schlafgemach der Prinzessin vor, die den Frosch zu erschlagen versuchte, der sich in ihr Bett legen wollte.
Azura schrieb mit Kreide seltsame Zeichen auf eine Mauer. Der frisch gegossene Beton schimmerte bleich im ersten Tageslicht.
"Du darfst dich nicht verwirren lassen", mahnte Azura. "Der Zauber kann Rana nicht umbringen, nur er selbst kann das."
"Was bedeutet das?"
"Vielleicht hat er sich selbst längst getötet."
Rana kam in den Hof, wo Azura und ich standen.
"Da seid ihr", schrie er. "Das wußte ich, daß ich euch hier finde. Das wußte ich."
"Mit dir hätte ich hier zu allerletzt gerechnet", sagte ich. "Für dich gibt es mich doch schon lange nicht mehr."
"Ha, aber mich gibt es für dich, und du hast nichts Besseres zu tun, als die ganze Nacht mit dem ganzen Ballsaal die Köpfe zusammenzustecken und abzulästern. Die staubigste Kröte würde ich lieber küssen als dich."
"Und ich werde nie begreifen, was mich an ein solches Scheusal bindet wie dich."
Rana konnte das nicht hören, denn er war damit beschäftigt, Flüche und Verwünschungen aus sich herauszuschreien, so laut, daß er heiser wurde. Er verwendete dabei vor allem Wörter, die als nicht druckbar gelten.
So oft ich etwas zu sagen versuchte, schrie Rana noch lauter. Am Ende hob er die Fäuste und wollte auf mich eindreschen.
"Jetzt kannst du ihn ...", raunte Azura.
Ich fühlte eine überirdische Kraft in meinen Armen. Ich hob den sich maßlos zur Wehr setzenden Rana in die Höhe und schleuderte ihn gegen die Betonmauer, daß es krachte. Als die grauweiße Staubwolke sich langsam legte, sah ich auf der Erde, vom Staub bedeckt, einen toten Frosch.
"Also, das war von ihm noch übrig", sagte Azura wie zu sich selbst. "Das war alles."
Mit einem Papiertaschentuch nahm ich den toten Rana in seiner Froschgestalt vom Boden auf und warf ihn in einen nahebei stehenden Müllcontainer.
"Mehr hat er nicht verdient", sagte ich und weinte. "Nein, wirklich nicht. Jede Träne um ihn ist eine zuviel."
"Du hast gesucht und gesucht", sagte Azura, "du hast immer nach dem Menschen in ihm gesucht, du hast nach dem Guten in ihm gesucht."
"Eigentlich ist er noch viel schlechter als ein toter Frosch. Ein toter Frosch tut wenigstens keinem etwas. Mir tut der Frosch leid, aber Rana ... der darf mir nicht leidtun."
"Trinken wir einen."
"Kaffee, wenn es zu einer Beerdigung passen soll."
In einer Bäckerei bestellten wir Streuselkuchen und frisch gebrühten Bohnenkaffee.
Jahr für Jahr fahren Azura und ich seither an Ranas Todestag zur städtischen Müllverbrennungsanlage, wo er kremiert wurde. Am Zaun, draußen im Moor, legen wir einen Kranz nieder.
"Erlöse uns von dem Bösen", lasse ich alljährlich auf die Schleife drucken.
Ob man Rana vermißt hat, werdet ihr fragen.
Gefunden hat ihn keiner mehr, gesucht hat ihn aber auch keiner.






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