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Rafas Freundin verhielt sich ruhig, als er im "Elizium" auf mich zukam und mir die Hand gab; allerdings bewachte sie uns aus sehr geringer Entfernung.
"Hallo", sagte Rafa wie gewöhnlich.
Wie gewöhnlich sah ich ihn stumm an, und wie gewöhnlich fragte er:
"Was 's' los?"
"Solange ich Gelegenheit habe, dich anzusehen, werde ich dich ansehen", antwortete ich zum wiederholten Mal.
"'Gelegenheit'", ahmte Rafa mich gereizt nach. "Was heißt das denn? Was ist überhaupt an mir, das du angucken mußt?"
"Du bist es. Du."
"Inwiefern ich?"
"Es ist deine Person, dein Wesen. Das ist nicht irgendeine Fassade, die ich angucken will. Das bist du selber. Da bin ich mir sicher, ganz sicher."
Umso sicherer bin ich mir, als mich seine zur Schau getragene Fassade fühlbar abstößt. Er hat sein Gesicht mit Schminke zugekleistert und ist reichlich betrunken. Selbst seine Mimik wirkt übertüncht. Seine Züge sehen verwaschen aus. Er kommt mir klein und unbedeutend vor und sehr fremd. Es handelt sich zwar einwandfrei um Rafa, doch das, was mich so anzog, finde ich nicht mehr an ihm. So, wie das Leben aus einer Leiche entschwunden ist, sind die Wärme und die Zuneigung aus ihm entschwunden.
"Wenn er sich mir nicht schon ganz anders gezeigt hätte", denke ich, "dann würde ich rein gar nichts um ihn geben. Er wäre mir im schlechten Sinne gleichgültig. Eben das möchte er wohl bezwecken."
"Du kannst überhaupt keine Gefühle für mich haben, weil du mich gar nicht kennst", meint Rafa.
"Ich kenne dich vielleicht besser, als du glaubst", erwidere ich.
"Von woher?" fragt er. "Wir haben uns immer nur kurz hier am Wochenende gesehen, und am Wochenende bin ich immer betrunken; da ist mit mir sowieso nichts anzufangen. Da hast du mich gar nicht kennenlernen können."
"Oh, ich denke, ich hatte schon die Möglichkeit, viel über dich zu erfahren. Die Gespräche, die ich mit dir geführt habe, gingen immer in die Tiefe."
"Ich führe nur Gespräche, die in die Tiefe gehen", behauptet Rafa.
Ich sehe mich vorsichtig nach der Freundin um und frage wie schon einmal:
"Werde ich eigentlich gleich zusammengeschlagen?"
"Nein", antwortet Rafa auch heute.
"Deine Freundin hat mir nämlich schon wieder versprochen, mich zusammenzuschlagen", setze ich ihn in Kenntnis.
"Das tut sie nicht", ist er überzeugt. "Aber - das kommt wirklich nicht so gut, daß ..."
"Was?"
"Daß wir hier so miteinander reden. Das mag die gar nicht. Die Frau ist nämlich echt furchtbar eifersüchtig."
"Mir gefällt das ja auch nicht, daß wir immer nur hier miteinander reden", sage ich mit einem Seitenblick auf die Freundin. "Kürzlich habe ich geträumt, du wärst in meinem Zimmer, und ich würde zu dir sagen:
'Endlich kann ich einmal mit dir reden wie mit einem normalen Menschen.'"
"Das wäre auch nicht schlecht", bemerkt Rafa.
"Ich würde dir gerne auch noch einen anderen Traum erzählen, wenn wir nur einmal für fünf Pfennig Ruhe hätten", fahre ich fort und bin recht wütend. "Wenn wir nur fünf Minuten Zeit hätten. Du wirst es aber wahrscheinlich nie schaffen, mich anzurufen und zu mir zu kommen."
"Was heißt denn 'schaffen'?"
"Du hast eine Hemmschwelle, die überwindest du nicht. Vermutlich willst du mich auch gar nicht anrufen. Etwas hindert dich daran, zu mir zu kommen."
"Genau. Ich kenne deine Ziele nicht."
"Du kennst meine Ziele nicht?"
"Nein."
"Ich glaube fast eher, du kennst meine Gefühle nicht."
"Das kann auch sein."
"Dabei müßtest du sie kennen."
"Herrje ... wie willst du Gefühle für mich haben, ohne mich im Geringsten zu kennen?" erregt sich Rafa. "Das geht überhaupt nicht. Das ist unmöglich."
"Du hast es von Anfang an vermieden, mich zu besuchen. Du hast dich nie auf mich eingelassen. Du hast es von Anfang an unmöglich gemacht, daß wir uns außerhalb von Lokalen kennenlernen."
"Ich habe eine Freundin. Ich liebe sie, und ich bin gerne mit ihr zusammen. Ich kann nichts dafür, wenn ich mich verliebe."
"Das war aber einmal anders, und da kannten wir uns schon."
"Ostern. Seit Ostern bin ich mit der ... oder ... April ..."
"Mitte Mai."
"Genau."
"Ich weiß noch den Tag. Du hast mich damals angerufen, und das war das einzige Mal, daß du mich überhaupt angerufen hast."
"Da war ich zwei Tage mit ihr zusammen."
"Einen", berichtige ich. "Das war ein Sonntag. Und zwar gleich, nachdem wir das hatten ... uns nähergekommen waren. Am Montag hast du mich angerufen, und du hast mir das verschwiegen. Ich habe an deiner Stimme gemerkt, daß etwas nicht stimmt. Infolgedessen ... habe ich im Traum etwas Großes, Schwarzes gesehen, das auf mich zurast - ein Unheil. Und dann ... stellte ich fest, daß du mich tatsächlich ... entsorgt hattest. Du hattest mich mal so eben in den Mülleimer geworfen. Du hattest mich mal so eben fallengelassen."
"Ich lasse niemanden fallen."
"Oh, doch. Es hat dir nichts ausgemacht, mich zu verletzen. Es hat dir nichts ausgemacht, auf meinen Gefühlen herumzutrampeln."
"Also. Bei mir komme an erster Stelle ich", erklärt Rafa. "Und dann ... kommt eine ganze Weile nichts."
"Wer wirkliche Gefühle für jemanden hat, der bindet sich. Und ich bleibe meinen Gefühlen treu."
"Genau", sagt Rafa schnell. "Genau das tue ich. Ich bleibe meinen Gefühlen treu. Wenn ich mich verliebe, verliebe ich mich, und dann stehe ich dazu. Ich habe mich in meine Freundin verliebt, und ich bin mit ihr zusammen."
"Vorher ... unmittelbar vorher aber ... waren wir ..."
"Ich weiß", lenkt er ein und wirkt etwas verschämt. "Wir hatten da ... sicher, ich weiß."
"Und du hast gewußt ... du hast genau gewußt ... du hast genau gewußt ... wie wichtig du mir bist. Ich kann das nicht fassen. Ich kann das einfach nicht fassen."
"Mädchen, wie kannst du Gefühle für mich haben? Du siehst mich immer nur kurz in diesem Lokal, in dem wir uns ... zu treffen pflegen. Wenn du mich siehst, bin ich unter Drogeneinfluß."
"Ich habe Gefühle für dich."
"Und ich habe festgestellt, daß du nicht so bist, wie ich gedacht hatte."
"Was war denn an mir nicht so, wie du geglaubt hast?"
"Du bist nicht so, wie ich gehofft habe. Wir haben völ-lig verschiedene Vorstellungen. Ich kann mir nicht vorstellen, mit dir zusammenzusein. Gut?"
"Deine Freundin gibt dir, was du willst. Was ich dir zu geben hätte, davon weißt du nichts, und du würdest es vermutlich auch nicht wollen."
"Willst du mich neugierig machen?" fragt Rafa mit einem herablassenden Lächeln.
"Nein, ich sage nur, was ist", erwidere ich. "Jedenfalls ... ist dir deine Freundin hundertmal wichtiger als ich."
"Hundertmal? Hundertmal ... Auf jeden Fall ist sie mir wichtiger als du."
"Das genügt schon ... das reicht aus ..."
Die Freundin gibt Rafa eine Plastiktüte. Ich mache ein paar Schritte rückwärts, um ihr nicht ins Gehege zu kommen. Rafa folgt mir.
"Wieso - was reicht aus?" möchte er wissen.
"Ich nehme an, wenn ich irgendwann nicht mehr ins 'Elizium' komme, wird sich für dich nichts Wesentliches ändern", verpacke ich sorglich eine sanfte Drohung.
"Hör' mal", hakt Rafa ein. "Da du bisher immer im 'Elizium' warst, wird sich für mich schon etwas ändern."
"Du hast vor zwei Wochen zu mir gesagt, du leidest darunter, daß ich dir Fragen stelle. Ist das wahr?"
"Ich würde darunter leiden", flüchtet er in die Möglichkeitsform.
"Du würdest darunter leiden?"
"Ich würde darunter leiden ... wenn ich mit dir zusammen wäre."
"Wenn du darunter leidest, kannst du dem aus dem Weg gehen, indem du nicht mit mir sprichst. Du bist aber immer wieder, immer wieder in meine Nähe gekommen und hast dich den Fragen ausgesetzt. Wie erklärst du das?"
Rafa erklärt es gar nicht. Er gibt seiner Freundin die Plastiktüte zurück.
"Ich habe mir Folgendes überlegt", setze ich hinzu, "wenn du wirklich unter den Fragen leidest, dann bedeutet das, du kannst auf mich nicht verzichten."
"Nein."
"Du kannst also ganz gut auf mich verzichten - wenn ich das recht verstanden habe."
"Ich kann ... auf dich verzichten", sagt er zögernd. "Das heißt aber nicht, daß ich nicht mit dir sprechen will. Ich habe nichts gegen dich, wirklich nicht."
Ich finde diese Äußerung höhnisch, betrachte es aber als müßig, ihm das zu sagen.
"Du interessierst dich überhaupt nicht für mich", werfe ich ihm vor.
"Ich interessiere mich für alle Menschen", behauptet er und scheint in die Rolle des unnahbaren Heiligen flüchten zu wollen.
"Das ist dummes Gerede", weise ich ihn zurecht. "Man kann sich überhaupt nicht für alle Menschen interessieren. Das ist nur Gerede. Damit redest du dich nur heraus. Du kennst dein Vokabular, und ich kenne es inzwischen auch."
Rafa lächelt.
"Du mauerst dich ein und fühlst dich wohl damit", fahre ich fort.
"Genau."
"Du bist heute so und morgen so und übermorgen so."
"Genau."
"Und wenn man dich darauf anspricht, kommt nur 'Hee, hee!' und irgendeiner von diesen dummen Sprüchen."
"Genau", sagt er immer noch lächelnd; es ist, als freue er sich darüber, erkannt und verstanden worden zu sein.
"Du lernst mich aber nie richtig kennen, wenn du deine Mauer nicht auch mal ein bißchen aufmachst und dich auf mich einläßt", gebe ich zu bedenken.
Ich ziehe mit beiden Händen ein wenig an Rafas Revers. Es geschieht aus Versehen. Ich hatte nicht vor, ihn zu berühren.
"Du baust eine Mauer um dich herum und findest das in Ordnung", vermute ich. "Zu mir hast du letztes Mal aber gesagt, daß es dich stört, daß ich eine Mauer um mich herumbaue."
"Ich weiß das nicht mehr. He - das ist - zwei Wochen ungefähr her, und ich war besoffen."
"Also, der Wortlaut war ... Du hast ungefähr gesagt:
'Ich leide darunter, daß du mir immer solche Fragen stellst. Du baust damit eine Mauer um dich herum.'
Und du hast dich sehr aufgeregt.
Wie kannst du es nun in Ordnung finden, dich einzumauern und mir gleichzeitig eben das zum Vorwurf machen?"
"Deine Vorstellungen - sind abnorm", wehrt sich Rafa. "Die sind völlig abnorm. Was du da sagst, das klingt so ... das klingt völlig daneben."
"Du hast meine Frage nicht beantwortet."
"Weil das völlig abnorm ist, was du sagst."
"Laß' uns ..."
"Das ist ab-so-lut daneben", unterbricht mich Rafa und wird immer aufgebrachter. "Das geht gar nicht."
"Ich will das einfach nicht mehr, daß wir uns nur hier sehen", beschwere ich mich. "Es geht mir auf die Nerven. Ich habe immer wieder versucht, mich von dir zu verabschieden. Ich schaffe es nur nicht."
"Verabschieden?"
"Ich kann mich nicht von dir verabschieden, weißt du?"
"Weshalb willst du dich denn von mir verabschieden?"
"Es geht so nicht weiter", sage ich eindringlich. "Ich ertrage das nicht mehr."
"Was erträgst du nicht mehr?"
"Daß ich sehen muß, daß du mit einer anderen zusammen bist. Ich halte das nicht mehr aus. Ich gehe daran kaputt."
"Und mir gibst du die Schuld."
"Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, was ist."
Unmittelbar hinter Rafa sehe ich Luisa mit ihrem Freund auf dem Podest sitzen. Die beiden küssen sich. Ivo ist auch wieder im "Elizium"; mit Valeria und Cilly steht er an einem Tisch. Ich frage mich, ob die Neugierde Ivo hergetrieben hat. Die "Abschiedsvorstellung" von Rafa und mir dürfte ihm ausreichend Stoff zum Lästern liefern. Ivo hat keine besondere dramatische Begabung, und so liegt es nahe, daß er ein wenig teilhaben möchte an den Dramen, die Rafa aufführt.
"Du gibst mir wohl die Schuld", beharrt Rafa.
"Du entziehst dich der Verantwortung", tadele ich ihn.
"Bitte, du mußt es ja wissen", sagt er achselzuckend.
"Nein, du weißt es", widerspreche ich.
Ich schaue ihn an. Das tue ich in dieser Nacht weder lange noch oft. Ich mag ihn nur halb ansehen, nicht voll und offen wie sonst. Ich fühle, daß ich einen Menschen, der mir gegenüber eine ablehnende Haltung einnimmt, weder ansehen noch anfassen will.
"Was empfindest du für mich?" möchte ich noch einmal von ihm wissen.
"Ich liebe dich nicht", sagt er, als gelte es, ein seit Langem bestehendes Mißverständnis aufzuklären. "Das habe ich dir auch schon öfter gesagt."
"In Ordnung, das reicht. Damit weiß ich genug. Du erwiderst meine Gefühle nicht."
"Warum erwidere ich deine Gefühle nicht?"
"Du sagst, du liebst mich nicht. Das ist alles, was ich hören muß, um zu wissen, daß du meine Gefühle nicht erwiderst."
"Du liebst mich, und ich erwidere deine Gefühle nicht", folgert Rafa. "Ja, schön."
"Damit wäre die Sache wohl erledigt. Das heißt, für dich wäre sie erledigt. Für mich ist sie noch einige Jahre lang nicht erledigt."
"Du kannst dich doch gar nicht in mich verlieben", zweifelt Rafa aufs Neue. "Du kennst mich überhaupt nicht."
"Ich vermute, ich kenne dich besser, als du glaubst. Besonders deine Schwächen. Besonders deine Schwächen."
"Mädchen, du kannst keine Beziehung prophezeien, weil du nur genau fünfzig Prozent davon beeinflussen kannst. Die anderen fünfzig Prozent beeinflusse ich."
Unser Gespräch schwimmt vor meinen Augen wie ein weißer Nebel. Es ist mir, als bestünde es nur aus wenigen Silben, die dauernd wiederholt werden.
"Ich glaube, du kommst nicht damit zurecht, daß ich mich an dich gebunden habe", äußere ich meine Vermutung. "Du kommst mit meiner Zuneigung nicht zurecht."
"Wie willst du dich in mich verlieben? Du kannst dich nicht in jemanden verlieben, den du gar nicht kennst."
"Du glaubst mir meine Gefühle nicht. Ich dachte mir, daß du sie mir nicht glauben würdest. Du wirst sie mir wahrscheinlich bis an dein Lebensende nicht glauben."
"Echt - wir beide haben völ-lig verschiedene Vorstellungen von einer Beziehung. Wir kommen nie auf einen Nenner."
"Du wirst wahrscheinlich noch lange mit deiner Freundin zusammensein. Du wirst wahrscheinlich auch noch nächstes Jahr mit ihr zusammen sein."
"Das Längste, was ich hatte, dauerte ... drei Jahre."
"So lange wird das hier wohl auch dauern. Du liebst deine Freundin, und du bist glücklich mit ihr."
"He - dreimal war schon Schluß", wendet Rafa ein.
Er nimmt Gefühle betont leicht. Das Zerbrechen einer Beziehung wird von ihm heruntergespielt auf die Ebene einer verlorenen Runde "Mensch, ärgere dich nicht!". Eine neue Runde ist stets möglich, und wenn auch sie verloren ist, wird eben noch eine angefangen.
Ich will keines von den Mädchen sein, die Rafa umschichtig, nacheinander oder gleichzeitig "liebt" und als "meine Freundin" bezeichnet, weil sie mit ihm ins Bett gehen. Ich will nicht bei ihm "an die Reihe kommen", "hinausgeworfen werden" oder "das Ziel erreichen". Ich will nicht in seinem Spiel gegen andere Mädchen "gewinnen". Ich will sein Spiel überhaupt nicht mitspielen. Entweder bin ich für einen Menschen die Einzige, das ganze Leben - oder er wird auf mich verzichten müssen - und können.
"Was willst du überhaupt?" frage ich Rafa und denke ein "von mir" hinzu.
"Glücklich sein", antwortet er in seiner verallgemeinernden Art.
"Na, das bist du ja nun", bemerke ich. "Du hast eine Freundin, die liebst du, und du hast deine Fassade ..."
Er lächelt und sagt:
"Ja."
"Dir fehlt nichts."
"Nein."
"Seltsam ... Mitte Mai hast du zu mir gesagt, dir würde sehr wohl etwas fehlen; nur würde das eine halbe Stunde dauern, mir das zu erklären."
"Das sage ich jetzt auch", entgegnet Rafa. "Es würde eine halbe Stunde dauern, dir das zu erklären."
"Dann nimm' dir die halbe Stunde."
"Die habe ich nicht."
Rafa geht auf die Treppe zu.
"Du willst sie nicht haben", mutmaße ich. "Du lügst dich heraus ... nein, besser ... du weichst aus ..."
Ich gehe um ihn herum.
"Unsere Gespräche führen zu nichts", meint Rafa. "Sie bringen nichts. Es entwickelt sich nichts."
"Es hat sich sehr wohl etwas entwickelt."
"Du siehst das anders. Ich kann nur sagen - wir haben eben völlig verschiedene Vorstellungen."
Er geht langsam rückwärts zur Stahltür.
"Warum hast du dir überhaupt meine Nummer aufgeschrieben?" möchte ich wissen.
"Weil ich sie nicht mehr hatte."
"Und wozu wolltest du sie haben?" frage ich nach.
Rafa holt tief Atem und erwidert mit einem Seufzen:
"Damit ich dich anrufen kann, wenn ich Lust dazu habe, dich anzurufen."
"Die Lust dazu scheinst du aber nicht zu haben."
"Vielleicht habe ich sie irgendwann. - So, ich gehe jetzt Bier holen."
"Ich glaube, du hast überhaupt keinen Bock, mich anzurufen."
"Bock habe ich sowieso nie", berichtigt Rafa; es klingt, als wolle er meine Ausdrucksweise tadeln.
Er eilt davon. Als er sich sein Bier geholt hat, stellt er sich mit seinem Glas neben einen Lautsprecher, weit weg von mir.
"Was soll ich mit dem noch reden?" frage ich mich.
Der Anblick der Freundin löst Ekel in mir aus, und die Tatsache, daß Rafa sich zu ihr hingezogen fühlt, umgibt ihn für mich mit einer Hülle aus Widerwärtigkeit, von der ich nicht glaube, daß sie sich noch einmal auflösen wird. Ich habe den Verdacht, daß Rafa auf mich widerlich wirken möchte. Und sein Verhalten und seine Mimik sind mir in dieser Nacht tatsächlich zuwider.
Er verdient mich nicht, weil er mit dem, was ich zu geben habe, nichts anfangen kann. Sollte kein Mensch meiner wert sein, so behalte ich für mich, was ich geben könnte. Es soll nicht an den Falschen geraten.
Im Augenblick sehe ich nur die eine Möglichkeit, wenigstens das "Elizium" längere Zeit zu meiden. Was mich dort erwartet, kann mich nicht mehr freuen; es kann mich nur erdrücken. Ich will mir verdeutlichen, daß es keinen Sinn hat, Rafa streicheln und umarmen zu wollen, weil ich dies beides nicht mehr tun werde. Meine Sehnsucht läuft ins Leere, wie im letzten Jahr und in den Jahren davor. Ich will Rafa endlich begraben können. Ich will wieder unterschwellig trauern können, wenngleich ich das nie richtig konnte. Die Trauer ist der schwarze Schleier vor meinen Augen, durch den ich dabei zusehe, wie mein Leben dahingeht. Am Ende begrabe ich ja mich, nicht Rafa.
Wie in der Woche zuvor verließ Rafa das "Elizium", kurz nachdem ich mit ihm gesprochen hatte. Er trank nur sein Bier aus und ging dann. Derek und Talis haben gesehen, wie er draußen auf einem Bordstein saß - mit der Freundin.
Rafa wird sein Spiel bald in Ruhe weiterspielen können. Ich verschwinde von seinem Spielbrett.
Ich darf ihn nicht mehr wollen. Ich muß ihn mir fortdenken. Der Kanal ist nicht mehr belegt, das Bild ist von der Mattscheibe verschwunden, geblieben ist nur ein Weißes Rauschen.
Im "Elizium" wurde es kurz nach zwei schon leer; dies wird nicht zuletzt an der dürftigen Musik gelegen haben. Ich sah Luisa an der Hand ihres Freundes hinausgehen. Mit andächtig-gemessenen Schritten folgte sie ihm. Talis brachte mich nach Hause. Er schien ein wenig betroffen von meinem Entschluß, vorerst nicht ins "Elizium" zu kommen.
"Du brauchst ja nicht mit ihm reden", meinte er.
"Ich sehe ihn; das ist schon zuviel", erklärte ich.
Talis kann Rafa nicht leiden, doch ich habe den Eindruck, daß er mir glaubt, daß es mir mit Rafa ernst ist.
Rafa hat sich für seine Mauer entschieden. Meine lichten Träume von ihm hatten unrecht. Bisher hat mich noch nie ein Traum belogen. Ich fürchte, daß ich mich auf meine Träume nicht mehr verlassen kann.

Ende Juli hatte ich einen Traum, dem ich Glauben schenken kann, der zu meiner Wirklichkeit paßt. Ich sah viele Todgeweihte. Kinder liefen im Sonnenlicht umher, und der Tod fing sie eines nach dem anderen weg. Keines durfte übrigbleiben. Am Ende mußte auch ich gehen. Ich hatte das schon geahnt und wollte nicht vor der Zeit aufgeben. Die Kinder, die noch nicht niedergemacht waren, riß ich an mich und konnte sie doch nicht retten.
Das große Schlachten fand zur Hälfte auf einer sonnigen Wiese und zur Hälfte im "Elizium" statt. Die Übermacht Tod war erbarmungslos gründlich. Ein Verhandeln gab es nicht.

Eine ähnlich ausweglose Lage erlebte ich schon in einem Traum, den ich vor sechzehn Jahren hatte.

Ich war damals elf. Ich lief im Nachthemd in der Schule umher, und man teilte mir mit, daß ich bald sterben sollte. Das Nachthemd würde mein Totenhemd sein. Ich kam in den Musikraum, in dem lauter Erwachsene meine Beerdigung feierten. Sie stießen mit Sekt an. Neben der Tür stand ein offener Kindersarg auf dem Boden, der viel zu klein war für mich. Niemand schien mich wahrzunehmen. Ich ging hinauf in eines der oberen Stockwerke und fand mein Sterbebett; daneben lag ein Stapel DIN A 4-Blätter, etwa zwei Meter hoch. Ich nahm von dem Papier und begann zu schreiben, so schnell und so viel ich konnte. Ich hatte das Gefühl, daß ich nicht sterben würde, solange ich schrieb. Ich schrieb noch, als ich aufwachte.

Die Botschaft, die der Traum enthält, ist nach wie vor gültig. Das Schreiben ist für mich der Ausweg aus dem Nichtvorhandensein. Ich bin nicht länger ein im Schwerelosen umhertreibender Körper. Ich nenne diese Macht "die Zauberkraft des geschriebenen Wortes". Aus den Buchstaben wächst mir etwas entgegen, mit dem ich in Verbindung trete. Das von mir Geschaffene wirkt von sich aus. Es spricht zu mir.
Das Belastende an der Sehnsucht ist für mich vor allem das Gefühl, als würde mir das Blut aus den Adern gesaugt. Es ist, als könnte ich nicht mehr stehen und laufen und müßte auf der Stelle zusammenbrechen. Der Wunsch, meinen Körper zu verlassen und von mir zu gehen steigt in mir auf.
Wahrscheinlich kann ich es mir dennoch leisten, diese lähmende, auslaugende Empfindung zuzulassen. Ich nehme an, mein Unterbewußtsein würde mir dieses Gefühl vorenthalten, wenn ich nicht imstande wäre, damit umzugehen. Ich suche die Wahrheit, und zu einem beträchtlichen Teil ertrage ich sie auch. Von Rafa kann ich das nicht behaupten!
Unglücklicherweise werde ich Rafa doch nicht so lange "auf Entzug" setzen können, wie ich es vorhatte. Ich habe erfahren, daß schon Anfang August wieder eine EBM-Nacht in der "Halle" stattfindet. Nun - die "Halle" ist groß. Ich bin Rafa nicht so ausgesetzt wie im "Elizium", und auch der Anblick seiner Freundin bleibt mir weitgehend erspart.

In einem Traum wurde die hohe Wand unterhalb des DJ-Pults im "Elizium" neu gestrichen. Künstler bepinselten sie bunt, grob und ausgelassen. Es entstand ein richtiges Gemälde, und das wurde mit besonderen Lampen angestrahlt. Die Abdeckfolie war noch nicht weggeräumt, da tanzte ich schon mit einigen anderen vor der Wand. Rafa stand in der Nähe, ging aber bald. Statt seiner kam der Terminator ins "Elizium", der "Beender", ein unheimlicher, riesenhafter Kunstmensch aus der Kinowelt. Im Film hat der Terminator nur eine Aufgabe - die Aufgabe, Menschenleben zu beenden. Der Terminator erklärte, das "Elizium" und zwei andere Discotheken seien "verrückt" und müßten samt ihrer Besucher vernichtet werden. Ich verwandelte mich in Sarah Connor, die im Film die Gegenspielerin des Terminators ist und ihn am Schluß auch besiegt. Ich verließ das "Elizium" mit so vielen Leuten, wie ich zum Mitkommen bewegen konnte. Wir gingen einen grasbewachsenen Hang hinauf. Die Sonne schien. Unter uns waren Verwandte von mir und auch Carls Mutter, eine einfache Frau, die nicht begriff, was vor sich ging. Der Terminator holte uns rasch ein. Im Gefolge hatte er Männer, die ähnlich furchterregend aussahen wie er. Wir versuchten nicht, dem Trupp zu entfliehen. Einige von uns zielten mit Bleistiften auf einen Gefolgsmann des Terminators. Er fiel hin und war tot.
"Es ist aus", dachte ich. "Unser Schicksal ist besiegelt."
Ich begann, mit dem Terminator zu verhandeln.
"Ich schlage dir vor, mich mitzunehmen und dafür die anderen in Ruhe zu lassen", sagte ich.
Er war einverstanden.
"Gehen wir", wandte er sich an seine Männer.
"Und die?" fragte einer von ihnen und zeigte auf meine Schützlinge. "Machen wir die nicht noch hin?"
"Mensch - ihr habt keine Zeit", mahnte ich. "Das dauert ewig, jeden Einzelnen umzubringen. Die Zeit habt ihr gar nicht. Später könnt ihr die immer noch töten."
"Stimmt eigentlich", fand der Terminator. "Gehen wir."
Wir gingen den Hang weit hinauf. Ich war voll Erleichterung darüber, daß ich die armen Menschen retten konnte, die hatten ermordet werden sollen. Übermütig sagte ich:
"Ich habe meine Tasche noch unten im Auto. Kann ich die nicht noch ...?"
"Oh, nein", wehrte der Terminator ab. "Nicht auch noch das."
"Ist schon gut."
In einer großen Lagerhalle wohnte der Terminator mit seinem Gefolge. Wie ich bereits wußte, hatte er dort eine geräumige, saubere Küche voller Lebensmittel. In der Halle kletterte ich auf hohe, zierliche Stahlregale, die schwankten. Die Halle hatte einen Betonboden, graue Wände und nur Dachfenster. Ich fand in einem Regalfach sehr viel graues Toilettenpapier. Das erinnerte mich an die Katakomben der Hochschule. Ich kletterte schließlich auf das höchste Regal, das umzukippen drohte und nur gehalten wurde, weil es über Eck stand. Unter mir sah ich den Terminator, der noch gewachsen zu sein schien, damit ich ihm nicht aus den Fängen geriet. Ich hatte jedoch ohnehin keine Flucht vor. Ich war ein Pfand, eine Geisel.
"Ich danke dir dafür, daß du meine Leute am Leben gelassen hast", sagte ich.
Er hörte das erst gar nicht.
"Ich will mich dafür bedanken, daß du meine Leute nicht umgebracht hast", wiederholte ich.
"Drei Discotheken sind verrückt", sagte der Terminator. "Sie müssen vernichtet werden."
Dieses Sprüchlein war alles, was er dazu äußerte. Mit großen, kindlichen Augen sah er mich an.

Auch der Traum, den ich einige Tage zuvor hatte, spielte halb im "Elizium" und halb auf einer sonnigen Wiese. Auch in jenem Traum hatte ich Schutzbefohlene, die ich vor dem Tode retten wollte. Doch da half mir kein Verhandeln, und es gab keinen Ausweg und keine Hoffnung. Der Tod war übermächtig und gnadenlos.
In dem heutigen Traum nun war es mir möglich, mein Schicksal und das der mir Anbefohlenen in die Gewalt zu bekommen. Und je mehr Mut ich zeigte, desto menschlicher, schwächer und weicher wurde der, von dem die tödliche Gefahr ausging. Ich fühlte, daß das gastliche Monster mit dem Kinderblick mich nie töten würde, auch wenn es das behauptete. Dem Terminator lag etwas an mir. Ich hatte Macht über ihn.
Es gibt auch in meinem wirklichen Leben ein gastliches Geschöpf mit Kinderblick, von dem nicht viel Gutes zu erwarten ist. Und ich muß Macht über dieses Geschöpf erringen. Ich muß furchtlos vorwärtsgehen und darf mich nicht schonen.
Es ist merkwürdig, wie sich die Hoffnungslosigkeit in Hoffnung verkehrt hat.

In einer der folgenden Nächte hatte ich traumübergreifende Gespräche mit Rafa, in denen ich mit ihm herumstritt und ihm vorwarf, das Verwirrspiel, das er mit mir aufführt, geplant zu haben. Wie erwartet wies er den Vorwurf heftig zurück. Das änderte meine Ansichten jedoch keineswegs.

In was für Gestalten Rafa mir schon begegnet ist! Als Wildkaninchen ... als Terminator ... Sogar im Mondschein kann er mir begegnen.
Rafa ließ neulich seine Band im "Autodafé" abbilden. Jetzt habe ich ein zweites Foto von ihm, freilich mit Spiegelbrille und Freundin. Es muß im Mai entstanden sein, der Aufmachung nach zu urteilen. Ich werde das Foto ausschnittvergrößern und dabei Dolf wegschneiden und die Freundin wegretuschieren. Es geht ohnehin nur um ihre rechte Schulter und ihren rechten Arm.
Rafa verkauft sich jetzt als "Honey". Besonders ausgefallen finde ich das nicht; allein bei Abba kommt der Name gleich zweimal vor: "Honey Honey". Rafa wird den Namen kaum gesetzlich schützen können.



Carl berichtete, daß Rafa am Samstag im "Elizium" durchgehend am DJ-Pult war und aufgelegt hat. Er blieb bis zum Schluß.
"Er hat sich da oben richtig verbarrikadiert", meinte Carl. "Er ist nur ein paarmal kurz nach unten gerannt und dann gleich wieder nach oben. Er hat gar nicht mit Leuten geredet wie sonst. Seine Freundin hing unten herum. Getanzt hat er überhaupt nicht."
Zu der Musik, die Rafa auflegte, meinte Rikka:
"Gewiß, man kann die ewig gleichen Stücke in dieser Reihenfolge spielen und in jener. Ändern tun sie sich dadurch nicht."
Derek hörte, wie Rafa von jemandem gerufen wurde.
"Wenn du 'Kotzbrocken' rufst, kommt der auch", sagte Derek Carl ins Ohr.
Die kleine Iana, die noch immer in Derek verliebt ist, haßt Rafa ebenso.
"Rafa hat mich angefaßt!" berichtete sie Carl ganz entrüstet, als Rafa einmal nach ihr gegriffen hatte.
Talis, der Gärtner, würde Rafa gerne mal mit einem Kaktustrieb verhauen.

Anfang August gab es im Traum Veränderungen auf der Erdkruste. Nichtirdische Lebensformen wanderten ein. Sie bauten sogenannte Heutore, Tore aus Heu, groß wie Tunneleinfahrten. In diesen Toren nisteten sie und legten Eier. Es waren fremdartige Vogelwesen, groß wie Menschen. Zu ihrer Brut gehörte auch ein Geschöpf, das mich und meine Freunde sehr zum Lachen anregte. Es war recht harmlos und unbedarft, dabei trotzdem intelligent. Es hatte halblanges Haar und trug mittelalterliche Kleidung. Es war männlich und hieß "Honey" (Oh, Gott!).
An einigen Stellen brach die Erdkruste auf, und die Heutore wurden weitgehend zerstört. Der Honigvogel lief fort und schloß sich einer Gruppe von Monstern an, die gefährlich waren und auch Menschen umbrachten.
"Ich muß ihn suchen", sagte ich zu Constri. "Ich will lachen."
"Du bist irre", meinte Constri. "Diese Monster schrecken vor nichts zurück."
"Der 'Honey' ist kein Monster. Er ist eine harmlose Figur. Er ist bei den Monstern; er ist aber keiner von ihnen."
Ich ging in die Richtung, in die der komische Vogel gelaufen war und kam zu einer großen Baustelle. Der Boden war lehmig. Es war sehr laut. Ich gelangte in eine große, nach allen Seiten offene Halle, die von Leuchtstoffröhren erhellt wurde. Drinnen mußte ich auch durch Lehm gehen. Ich erschrak sehr, als sich unmittelbar vor mir ein langer, vielgliedriger, schwarzer stählerner Arm durch den festen, gelblichen Lehmboden zog und tentakelhafte Bewegungen ausführte. Ich entdeckte noch viel mehr solcher Arme. Sie gruben sich überall in die Erde. Es erleichterte mich über die Maßen, als ich erkannte, daß die Arme zu einer riesigen spinnenähnlichen Maschine gehörten und nicht zu einem Lebewesen. Menschen steuerten die Maschine. Mein Vater war auch bei ihnen. Er fragte mich, was ich suchte.
"Ich suche eine Witzfigur, einen, über den man immer lachen muß", erzählte ich.
"Und deswegen kommst du hierher?" staunte mein Vater.
"Du ahnst ja gar nicht, wie komisch der ist", versuchte ich meine Unternehmung verständlich zu machen. "Ich muß den finden. Ich muß den einfach finden."
Ich zeigte ihm Comics, die jemand von "Honey" gezeichnet hatte und einige Fotos von "Honey". Mein Vater lächelte und nickte anerkennend.
"Siehst du?" sagte ich zu ihm. "Siehst du?"
"Doch, doch."
"Ich muß ihn finden."

In meinen Träumen wird mir Rafa in immer ausgefalleneren Verkleidungen vorgeführt. Ich soll ihn wohl nicht zu rasch erkennen. Ich soll wohl ihm gegenüber auf meine Gefühle hören und nicht wissen, was er schon alles verbrochen hat. Daß auch "Honey" in Wirklichkeit Rafa war, habe ich erst Stunden nach dem Aufwachen festgestellt. Ich erinnerte mich daran, daß die Figur "Honey" noch einen weiteren Vornamen hatte, der mit Rafas zweitem Vornamen übereinstimmte. Das hätte mich schon während des Traums darauf bringen können, wer sich hinter "Honey" verbarg. Er war jedoch eine so lächerliche Erscheinung, daß ich nicht darauf kam. Ich fühlte nur, daß ich unbedingt lachen wollte, und zwar über ihn. Und ich brachte mich ohne Zögern selbst in Gefahr auf der Suche nach ihm.

In einem Traum hatte ich die Pflicht, bei Leuten, denen man es sehr schwer recht machen konnte, einen Singvogel zu versorgen. Es war ein Kanarienvogel. Er konnte sprechen, und deshalb mußte ich es auch dem Vogel unbedingt recht machen. Er hätte sich sonst bei seinen Besitzern beschweren können. Die Aufgabe flößte mir Furcht ein.
Ich war mit dem Vogel allein im Wohnzimmer. Das Tier wirkte auf mich in seiner Winzigkeit fremdartig und mitleiderregend. In seinem Käfig war es unerreichbar. Es kam mir wie ein launischer Behinderter vor.
Ich fragte den Vogel von Zeit zu Zeit, wie der Käfig stehen sollte, höher oder weniger hoch. Schließlich wollte der Vogel schlafen, und ich mußte die Samtportieren zuziehen. Ich faltete und raffte die Stoffmassen etwas und sah es kommen, daß das meinen Arbeitgebern mißfallen würde. Ich beschloß, die Vorhänge noch einmal umzudrapieren.

Der Kanarienvogel war ein launisches, verschlossenes, hilfloses, fremdartiges, eingesperrtes, einsames, mitleiderregendes, winziges, unbedeutendes Geschöpf, das singen konnte ... und mir fiel die leidige Pflicht zu, die Verantwortung dafür zu übernehmen und es ihm unbedingt recht zu machen ...
Wen haben wir denn da schon wieder?
Ich wollt's nicht glauben. Ich will's nicht glauben.
Nur zeitweise sollte ich das Tier versorgen; Besitzer hatte es schon. Für eine kurze Frist war ich daran gefesselt, die böse Folgen haben konnte. Denn wenn ich den Vogel nicht zufriedenstellte, gefährdete ich meine Arbeit. Der Vogel hatte Macht trotz seiner Hilflosigkeit.
Schrittweise hat sich der Terminator in einen Kanarienvogel verwandelt. Vor dem Terminator mußte ich mich in Acht nehmen; auf den Kanarienvogel mußte ich achtgeben.
In einem weiteren Traum ging es um Folgendes:

Ein gottverlassener Bezirk namens Renz warb um Einwohner oder wenigstens um Besucher. "Renz? Keiner kennt's!" hieß der Werbespruch, der Neugierde erregen sollte. Ich dachte mir, daß einer, der dort leben wollte, auch ohne Werbung hinziehen würde und daß die Werbung bestimmt keinen dazu bringen würde, hinzuziehen, der dort nicht leben wollte.

Das heißt für mich mit anderen Worten: bei einem Menschen, der mich liebt, habe ich keine Eigenwerbung nötig.

In derselben Nacht träumte ich auch noch, ich würde mit Constri und Till an einer Gaststätte vorbeikommen, in der man gut einkehren konnte. Die Gaststätte hatte zugemacht, und weil das Schild und die Tür fehlten, konnte man nicht mehr erkennen, daß dort eine einladende Schänke gewesen war. Man sah nur noch spiegelnde Fenster. Till meinte, in das Haus käme bald wieder eine Wirtschaft - nur wann und was für eine, das wußte er nicht.

Die spiegelnde Fassade der Gaststätte läßt mich an eine andere spiegelnde Fassade denken, eine Fassade mit Spiegelbrille.



Wir waren seit etwa zwanzig Minuten in der "Halle", als Till uns begrüßte. Er hatte Geburtstag. Ich gratulierte ihm, und er umarmte mich, wie es seine Art ist. Eben hatte er mich losgelassen, da griff jemand nach meiner Schulter. Einen Schritt von mir entfernt stand Rafa, reichte mir lächelnd die Hand und sagte:
"Hallo."
Ich erwiderte seinen Gruß tonlos und ohne Lächeln. Ich hielt seine behandschuhte Hand in meiner, solange er sie dort ließ. Bei ihm war ein fremdes Mädchen. Er ging mit dem Mädchen weiter. Ich wandte mich ab.
"Hat Rafa dir echt die Hand gegeben?" wunderte sich Talis.
Rafa und das Mädchen sollen noch zusammen an der Bar gestanden haben. Wie ich ihn kenne, hat er mit den Mädchen, mit denen er spricht, meistens etwas vor.
Rafas Freundin sah ich nur von ferne und flüchtig. Sie hielt sich in der Nähe des DJ-Pults auf, wohin ich grundsätzlich nicht gehe. Rafa soll die "Halle" mitsamt der Freundin verlassen haben, kurz nachdem er mich begrüßt hatte. Es war erst ein Uhr, und gewöhnlich bleibt Rafa in der "Halle" bis drei Uhr. Schon wieder ist er so früh gegangen. Auf der Tanzfläche habe ich ihn gar nicht gesehen.
Die Musik gefiel mir nicht besonders. Viele Stücke waren schon zu oft gelaufen, als daß sie mich noch hätten reizen können. Außerdem habe ich nicht vor, mich auch in Zukunft von Rafa mit einem "Hallo" abfertigen zu lassen. Ich werde also nicht nur das "Elizium", sondern auch die "Halle" meiden, und ich glaube nicht, daß mir dadurch sehr viel entgeht. Auch Constri und Carl waren von der Musik in der "Halle" gelangweilt.
Derek meinte, von mir hätte er ein Verhalten wie das im Fall Rafa nicht erwartet.
"Ich habe gedacht, du hast ein fertiges Bild von einem Mann im Kopf und suchst nur nach einem, der dem entspricht", sagte er.
Ich erklärte Derek, daß ich meine Ansprüche an einen Mann nicht stellen, sondern bloß feststellen kann. Nach diesen Ansprüchen muß ich mich richten, ob ich das will oder nicht. Ich kann mir nicht aussuchen, wen ich liebe.
Derek findet wie ich, daß "Ganz in Weiß" ein schönes Stück ist und sich abhebt gegen die anderen Stücke von Rafa.
"Es gibt haufenweise Leute, die schlechter singen können als Rafa", sagte Derek. "Nur hat der seine Stimme viel zu leise geregelt."
"Das war Absicht", erzählte ich.
"Es wirkt wie ein Fehler."
"Das tut es auch."

Ein Traum am nächsten Morgen spielte in einem Hotel aus den fünfziger Jahren. Ich fand Rafa an einer Bar. Er war ungeschminkt und trug seine Haare offen. Er sagte zu mir:
"Ich hatte eben das Vergnügen, mir von dem Jochen welche 'runterhauen zu lassen."
Der Sockenschuß hatte Rafa ins Gesicht geschlagen, so wie mir der Anblick von Rafas Freundin ins Gesicht schlägt. Der Sockenschuß war überhaupt sehr schlagfreudig. Er rannte durch das Hotel und schlug zahlreiche Leute ins Gesicht - wie er eben an ihnen vorbeikam. Ich hatte Hunger und ging in den Speisesaal. Es war ein dunkler Raum mit einem kühlen Steinboden und seltsam gebogenen, stahlverkleideten Wänden. Er war leer. Tische standen nicht darin. Ich fand nur die Wirtin und zwei Serviermädchen vor einer Theke. Die Wirtin paßte äußerlich zu dem Hotel. Sie war nicht mehr jung und etwas füllig. Ich erzählte ihr, daß ein Irrer im Haus umherliefe. Da kam der Sockenschuß auch schon herein. Er hatte am Eingang gelauert. Zuerst griff er die Wirtin an. Ich versteckte mich hinter ihr. Er traf mich nicht.

Nein, Rafa stößt mich nicht ab.
Es ist die Frage, wie gleichgültig mir ein Mensch werden kann, nach dem ich solche Sehnsucht habe.
Carl erzählte mir, in der nächsten Nacht sei Rafa wieder bis etwa vier Uhr im "Elizium" geblieben. Er soll vorwiegend mit Sanna und ihren Bekannten geredet haben, und er soll auch getanzt haben. Eine Zeitlang stand er neben Carl. Er warf Carl ein Begrüßungslächeln zu. Das hat Rafa seit Monaten nicht mehr gemacht, so lange schon nicht, wie er mich kennt. Sucht er den Kontakt zu meinen Leuten, weil er mit mir selbst nicht mehr sprechen kann?

In ebenjener Nacht sah ich im Traum ein Bild an meiner Wand hängen. Es hing schon lange dort, ohne daß ich es mir je recht angesehen hätte. Ich trat heran und betrachtete es genau, und eine dramatische Geschichte spielte sich vor meinen Augen ab.
Ich sah erst nur ein stehendes Bild von einem schlammigen, schilfbewachsenen Ufer unter einem sommerlich-dunstigen Himmel. Im Schlamm lag ein Boot, halbvoll mit Wasser. Ein Indianer war in das Boot gestürzt und hatte die Besinnung verloren. Er ertrank langsam. Ein Weißer mühte sich vergeblich ab mit dem schweren Körper. Die Geschichte ging nun in bewegten Bildern weiter. Der Zwillingsbruder des Ertrinkenden kam herzugelaufen. Er hatte das Gleiche an wie der Indianer, der in dem schlammigen Wasser im Boot lag - nichts als eine helle, verschlissene Hose. Er hatte auch das gleiche lange, schwere Haar. Er gab dem Weißen kurze Anweisungen und zog dann seinen Bruder aus dem Boot. Er verletzte sich dabei. Auch sein Bruder war verletzt. So waren beide nach der gefährlichen, anstrengenden Rettung voller Blut und Schlamm. Der fast ertrunkene Bruder kam zu sich, und die beiden umarmten sich heftig und innig. Dann gingen sie eng umschlungen fort durch das helle Ufergras. Ich war sehr gerührt.

So haben Rafa und ich uns umarmt, so sind wir umschlungen durch die Straßen gelaufen.
In diesem Traum waren wir nicht nur beide unkenntlich, sondern wir waren uns auch zum Verwechseln ähnlich. Unsere Rollen waren austauschbar. Glaube ich immer noch, daß Rafa an mir hängt und daß er und ich einander vor dem Untergehen bewahren können?

In einem anderen Traum lagen die Bücher von der Schwarzen Reihe vor mir, die ich für die Prüfung durcharbeiten muß. Ich fand eines darunter, das gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Es war ganz dünn und hieß "Abdominelle Blutungen". Ich werde sehr traurig und fühle mich angestrengt und belastet, wenn ich etwas über schwere Verletzungen und Krankheiten lese. Es erinnert mich daran, auf wieviele Arten ein Menschenleben angegriffen und zerstört werden kann. Und es erinnert mich an meine Aufgabe, daran etwas zu ändern, wie ich es kann und soll.

In einem weiteren Traum las ich in einem Bilderbuch aus den vierziger Jahren. Es handelte von Schwesternschülerinnen. Sie trugen einheitliche graue Tracht mit Schürzen und Häubchen. Als sie einen Spaziergang machten, kam ein kleines blondes Mädchen im Hängerkleid auf sie zu. Es nahm eine der jungen Frauen bei der Hand und zog sie fort. Es wollte der Schülerin einen Zettel zeigen, der auf ihrem Schreibtisch im Schwesternheim lag. Auf dem Zettel stand:
"Ich erwarte Sie heute um 20.00 im Hotel im Speisesaal. Ein Verehrer."
Doch bevor die beiden im Wohnheim ankamen, änderte eine neidische junge Dame "20.00" in "21.00" um, damit die Schülerin den Termin verpaßte. Von den Verwirrungen, die sich daraus ergaben, handelte das Buch. Am Ende ging es gut aus. Die Schwesternschülerin und ihr Verehrer fanden sich.
Eine Frau wurde durch die Liebe eines Mannes von ihrem klösterlichen Dasein befreit. Und keine Intrige konnte daran etwas ändern.

In einem weiteren Traum ließ ich das letzte Gespräch, das Rafa und ich miteinander geführt haben, noch einmal ablaufen und zerlegte es Satz für Satz. Währenddessen beobachtete ich Rafa. Er hatte wieder offenes Haar und war nur wenig geschminkt. Ich fand in dem Gespräch mehrere Rollen, die Rafa nacheinander gespielt hatte - die des unbedarften, unwissenden Kindes, die des gereiften Weisen, die des allwissenden Dozenten, die des unnahbaren Heiligen. Rafa redete in Widersprüchen, mit denen er sich wohl undurchschaubar machen wollte.

Rafa widerspricht sich über einen längeren Zeitraum hinweg, von einem Tag auf den anderen und auch von einem Augenblick zum anderen. Ein Teil der Widersprüche scheint ihm nicht bewußt zu sein.
Ich möchte ihn so vieles fragen. Er würde mir in Widersprüchen antworten, und daraus würde sich meine nächste Frage an ihn ergeben. Constri glaubt, ich würde wohl nie aufhören, Fragen an Rafa zu haben. Ich habe vielleicht ein Leben voller Fragen an ihn.
Es muß doch einen Grund dafür geben, daß Rafa eine solche Bedeutung für mich erlangt hat.
Er fordert mich heraus. Er hat ein herausforderndes Wesen. Was fordert er? Was will er erreichen?
Ich denke, daß Rafa eine deutliche Neigung zum Beschönigen, Vereinfachen und Verharmlosen hat. Die Mißtöne, die er wahrnimmt, werden verdrängt. Die Menschen können grundsätzlich allesamt von ihm "geliebt" werden, auch kurz hintereinander und gleichzeitig. Beziehungen kommen und gehen, und Schuld trifft Rafa nie, da nach seiner Ansicht auch die Bindung tief und wahrhaftig ist, die nur für zwei Stunden hält. In Rafas Scheinwelt ist alles nett, freundlich und harmlos, und was darin geschieht, bestimmt ausschließlich er. Wer dieses "Gesellschaftsspiel mit Spielleiter" nicht mitmachen will, ist entweder "abnorm", oder es gibt ihn gar nicht. Demzufolge bin ich "abnorm", beziehungsweise nicht vorhanden. Das ist die Rolle, die Rafa mir zugewiesen hat.
Carl meinte, es sei wohl kein Zufall, daß Rafa Anstreicher geworden ist; das Überpinseln sei eben sein Metier.
Und ich versuche, die ganze Fassadenmalerei zu zerstören und das wieder freizulegen, was dahinter ist.
Carl hat am Samstag im "Elizium" gehört, daß Rafa in OS. auftrat und deshalb nicht anwesend war. Ich habe auf Rafas Vorstellung gerne verzichtet.
Mitte August hatte ich folgenden Traum:

Ein unscheinbares Gebäude wurde umgestaltet zu einem Kunstwerk, der Kulisse für eine Multimedia-Performance. Der Eintrittspreis sollte hoch sein; zur Sicherheit hatte ich mir zweitausend Mark mitgenommen. Der Eingangsbereich war überfüllt. Alle Besucher hatten sich fein angezogen. Ich bildete keine Ausnahme. Ich trug meinen Taftrock und einen engen grauen Pullover. Im Innern des Hauses hörte das Gedränge auf. Sanftes Licht erhellte die Räume. Es gab mit Stahl verkleidete Bars. Man reichte erlesene Speisen und Getränke.
Die Vorstellung war außergewöhnlich. In der Pause nach dem ersten Teil wurde das Licht heller. Ich ging mit Leuten, die ich kannte, zu einem großen, niedrigen Tisch aus Marmor, an den Stoffsofas in Marmorfarben gerückt waren. Ich setzte mich. Meine Bekannten nahmen nicht bei mir Platz. Ich saß zwischen Fremden, mit denen ich mich jedoch angeregt unterhielt. Als das Licht wieder schwächer wurde, erhob sich alles. Ich sah, daß an der Bar schon frische Gläser standen und neue Köstlichkeiten. Ich hatte mein Geld gezählt. Der zweite Teil der Aufführung begann in wenigen Minuten. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich noch zur Toilette. Jede Minute, die ich versäumte, war eine teure Minute; das wußte ich, und doch trieb mich eine Gewohnheitsmäßigkeit, ein "Das-macht-man-eben" zu der Tür mit der Aufschrift "Toiletten". Ich ging hindurch und bog falsch ab, so daß ich in einen Duschraum geriet. Ich war auf einmal der Ansicht, meine Haare waschen zu müssen. Ich hatte aber kein Shampoo, keinen Föhn, keine Bürste, kein Spray, kein Handtuch, nichts ...
Ich bezahlte Miete für einen schäbigen Holzschrank. Ich mußte ihn mieten, wenn ich die Duschräume nutzen wollte. Neben dem Schrank lief Wasser aus einer Brause. Ich ließ meine Haare naß werden. Mir gegenüber stand eine Frau vor ihrem Spind, und ich bat sie um Shampoo. Sie gab mir welches und fragte:
"Sind Sie öfters hier?"
"Ich wohne nicht in K."
"Wie können Sie mir dann das Shampoo zurückgeben, das ich Ihnen geliehen habe ...?"
Es war ein besonderes Shampoo. Es war orangefarben und nicht so schäumend und ergiebig wie das gewöhnliche, das ich verwende.
Der einzige Mann in den Waschräumen für Damen stand vor dem Schrank links neben meinem. Er trug eine Lederjacke und hatte gefärbte Haare. Seine Freundin, ein unscheinbares Geschöpf, schien er ganz nach seinen Vorstellungen geformt zu haben. Ihr Haar war blondiert und toupiert, und auch sie trug eine Lederjacke. Sie wurde von dem Mann für seine eigene Performance verwendet, die er ungefragt in dem engen Flur zwischen den Schränken aufführte. Der Mann störte mich beim Haarewaschen. Er hatte sich und seiner Freundin Künstlernamen gegeben, und die ritzte er in das Holz meines Schrankes. Ich beschwerte mich. Er entgegnete schnell:
"Ich bin nicht daran schuld!"
"He, aber von selber schreiben sich die Namen nicht!" gab ich zurück.
"Nein, aber ich bin nicht daran schuld", beharrte der Mann.
Ich dachte an die Performance, die ich eigentlich sehen wollte und von der ich immer mehr versäumte. Ich hielt mich stattdessen in diesem Flur auf und mußte mich von dem kindlich wirkenden Mann andauernd fragen lassen:
"Wie findst du's? Wie findest du die Performance?"
Zu der Performance gehörte auch, daß der Mann sich in den Finger und in den Arm schnitt. Das Blut spritzte gegen einen Stapel leerer Pappkartons, die links in meinem Schrank standen.
"He, jetzt ist es aber genug", sagte ich ärgerlich.
"Ich bin da nicht schuld dran!" rief er.
"Und wessen Blut ist das dann?"
"Meins, aber ich bin nicht schuld!"
"Du hast den Inhalt von meinem Schrank vollgesaut, und für den habe ich teure Miete bezahlt."
"Ich kann da nichts für ..."
"Es sind nur Pappkartons, aber das nächste Mal sind es vielleicht meine Kleider!"
"Und? Schuld habe ich daran nicht!" wies er die Verantwortung von sich.
Als ich meine Haare ausspülte, war ich allein in dem Flur. Ein Blick in den Spiegel ließ mich erschauern. In dem orangefarbenen Shampoo war ein Bleichmittel gewesen! Meine Haare hingen dünn und ausgefranst herunter und hatten ein unregelmäßiges, gelblichweißes Kunstblond. Nur über der Stirn war am Ansatz noch meine Haarfarbe zu sehen. Und das war nicht alles ... meine Schminke war auch fort, und meine Augenbrauen und Wimpern waren ganz entfärbt. Und statt meines Pullovers hatte ich eine grellorangefarbene Satinbluse an.
"Nein! Nein! Nein!" rief ich voller Entsetzen.
Mit einer hilflosen Bewegung fing ich an, mir die Kajalstriche neu zu ziehen. Ich wußte nicht, wie ich das Trümmerfeld aufräumen konnte, das aus mir geworden war.

Natürlich war der ebenso kindlich-unsichere wie kindlich-rücksichtslose "Mann im Damenklo" auch wieder Rafa. Ich erkannte ihn während des Traums wie gewöhnlich nicht. Doch das, was er sagte, läßt keine Zweifel zu.
"Wie findst du's?" pflegt Rafa allerlei Leute zu fragen, wenn eins seiner Stücke gespielt wird.
Und was sein Verhalten mir gegenüber betrifft, weist Rafa grundsätzlich jede Schuld von sich.
Zu dem Mann im Traum fühlte ich mich nicht hingezogen. Ich fühlte mich nur unangenehm provoziert. Er rückte mir doch sehr auf den Leib. Und er hatte dabei nichts im Sinn, als sich hervorzutun.
Es gibt demnach Teile von Rafa, die mich sehr an ihn binden, und es gibt Teile von ihm, die ich nicht ausstehen kann. Es gibt Träume, in denen ich nur die anziehende Seite von ihm erlebe und Träume, in denen mir nur seine abstoßende Seite begegnet. Anscheinend erlebe ich die Freundin als Teil seiner herablassend-geltungssüchtigen Fassade, in die er sie einbaut wie einen Kalksandstein. Für mein Unterbewußtsein hat die Freundin mit Rafas Innenleben nichts zu tun - sie taucht nicht oder nur in einer bedeutungslosen Nebenrolle auf, wenn Rafa sich mir im Traum zuwendet und sich mir aussetzt.
Von Rafas Fassade fühle ich mich regelrecht angegriffen. Ich mußte mich von ihm zurückziehen. Und ich muß darangehen, mich selbst wieder in Ordnung zubringen.
Nehme ich Rafa eigentlich an, wenn ich seine Fassade, sein Getue nicht annehme? Ist das, was das Wesentliche an ihm verdeckt, selbst wesentlich, selbst Teil seines Wesens? Ich will sein Wesen unverhüllt sehen. Ist es unverhüllt noch sein Wesen?

In einem Traum begegnete mir Folter. Er und ich waren ganz allein im "Elizium", und er legte für mich lauter rare, sehr gut erhaltene Vinylplatten von David Tibet und seinem Projekt Current 93 auf. Ich hatte meinen Schreibtisch in die schwarze Ecke vor der Stahltür gestellt und saß dort und lernte für meine Zwischenprüfung. Folter erzählte davon, wie selten und "abgef...t" diese und jene Platte sei, und sowas hätte ich noch nie gehört.
"Echt, da platzt dir der Kopp von!" versicherte er.

Ich höre viel und gerne Current 93 (oder "Kurrett dreiundneunzig", wie Folter es ausspricht). Viele alte "Current-Sachen" sind rein atonal und bilden eine eigenwillige Hintergrundstimmung, wie es sie bei fremdartigen Kulthandlungen geben könnte. Nicht von ungefähr wird Industrialmusik mit Ritualmusik in Verbindung gebracht. Das gilt für die ambienten Stücke wie für die rhythmischen. Die meisten industriellen Rhythmen klingen rituell, hypnotisch-monoton.

In einem anderen Traum war es Nacht, und ich war in der Innenstadt. Constri fragte mich, ob ich denn meinen Spätzug nach Sylt noch bekommen würde.
"Den kriege ich!" war ich überzeugt.
Ich bekam ihn, hatte aber kaum das Allernotwendigste bei mir. Statt Geld hatte ich nur meine EC-Karte. Mein Ziel war eine einsame Nordseeinsel, die hinter Sylt lag. Auch dorthin fuhr noch ein Zug. Ich war eben auf der Insel angelangt und ausgestiegen, da drückte ich schnell einen Schalter mit der Aufschrift "Halt! Noch warten!". Ich wollte mir von einem Schaffner den Fahrplan zeigen lassen, und er sollte mir sagen, wo ich mein Gepäck abholen konnte.
"Steigen Sie ein! Sie können noch mit!" rief ein anderer Schaffner.
"Ich fahre nicht mit", antwortete ich. "Ich lasse mir nur etwas erklären."
Der Zug fuhr wieder zurück, und ich blieb allein auf der Insel, allein mit den wenigen Bewohnern. So einsam die Insel auch war, es gab dort einen EC-Geldautomaten. Es handelte sich um einen älteren, recht abgegriffenen Automaten. Der Schlitz für die Karte war durchaus noch zu finden. Die Anzeige jedoch, auf der dem Kunden kurze Fragen gestellt werden, war in Bodennähe und schlecht einsehbar, und sie befand sich ein Stück entfernt hinter einer Glasscheibe. Die Flüssigkristallanzeige war gelbgrundig, und die schwarzen Buchstaben und Zahlen darauf konnte man kaum erkennen, so klein waren sie. Ein ganzer Wirrwarr von Buchstaben und Zahlen erschien, höchst unüblich für einen Geldautomaten. Außerdem waren die Tippknöpfe nicht beleuchtet und klein und schwer voneinander zu unterscheiden. Ich mühte mich lange mit dem Automaten ab, den doch eigentlich - so dachte ich - wirklich jeder bedienen konnte. Mir standen bei diesem einfachen Vorgang schier unüberwindbare Hindernisse im Weg. Es fing an mit dem Eingeben der Geheimnummer. Ich meinte, auf dem Display die Anweisung zu erkennen, die Nummer nach einem alphabetischen Schlüssel umzuwandeln. Da ergab die Ziffer "3" den Buchstaben "C" und so weiter. Immer wieder machte ich etwas falsch, oder eine Taste war nicht zu finden. Ich drückte mehrmals die Korrekturtaste, doch auch die fand ich nicht immer. Ich befürchtete, daß der Automat meine Karte einbehielt aufgrund falscher Bedienung. Wenigstens war es Nacht, und ich konnte mich ungestört mit dem Automaten auseinandersetzen. Nur einmal unterbrach mich ein Mädchen, das eine Frage hatte. Ich beantwortete die Frage eilig und rang weiter mit der Maschine. Schließlich gelang es mir, die ersten beiden Ziffern meiner Geheimnummer in Buchstaben verschlüsselt einzugeben. Die letzten beiden Ziffern aber konnte ich nicht umwandeln, denn ich hatte das Alphabet nicht mehr im Kopf. Ich versuchte, mich an das griechische Alphabet zu erinnern, doch auch das gelang mir nicht. Da gab ich die letzten beiden Ziffern einfach als Zahlen ein. Der Automat nahm es an. Nun wollte ich es endlich schaffen.
"200?" fragte der Automat.
Ich wollte hundert Mark und drückte auf die Zahl "100.000" auf dem Display, da diese der Zahl "100" noch am ehesten ähnelte. Mit Schwung öffnete sich eine Schublade, und darin lag ein Hundertmarkschein.
"Das ist doch, was ich wollte!" rief ich erfreut und nahm ihn heraus.
Die Schublade war gegen mein leeres Portemonnaie gestoßen, und es regnete aus dem Portemonnaie Silbermünzen. Ich sammelte sie rasch ein. Ich ahnte, daß sie eine bösartige Kraft hatten, solange sie verstreut herumlagen. Ich mußte sie alle finden, um die Kraft zu bannen.

Vor fast zwei Jahren hatte ich schon einmal einen Traum von einem Zug, der mich weit fortführte. Ich wollte mit Constri und Rikka gemeinsam fahren. Wir hatten es sehr eilig. Ich vergaß meine Sachen in einem Schrank im Bahnhof, der nicht verschlossen war. Constri und Rikka blieben hinter mir zurück. Ich wollte den Zug unbedingt erreichen, obwohl eine Stunde später bereits der nächste fuhr. Ich stieg in den letzten Waggon, eine Minute vor der Abfahrt. Die ICE-Waggons waren schwarz und nur halb so hoch wie die gewöhnlichen. Ich schob eine Klappe zur Seite und kroch in das dunkle Wageninnere. Die Klappe schloß von selbst. Der Zug fuhr an. Ich stellte fest, daß das Abteil keine Fenster hatte und auch keine Sitze, nur einen Teppichboden. Ein Mädchen saß noch da, das erklärte mir, wir seien von dem Rest des Zuges und von der Außenwelt volkommen abgeschnitten. In einem Schränkchen befand sich das Notwendigste, und es gab auch Licht darin. Ich hatte gar nichts bei mir. Wenigstens lag mein Mantel in dem Schränkchen.

Ich zog einige Lehren aus diesem Traum:
Eine Reise sollte ich nur antreten, wenn ich
-  erwartet werde,
-  die richtige Ausstattung dafür habe,
-  die Verbindung zu meiner Lebenswelt behalte,
-  mich nicht eingeschlossen fühle wie in einem fahrbaren Sarg
-  und genügend Geld zur Verfügung habe.
Keine überstürzten, undurchdachten, mich und andere überfordernden Abfahrten! Lieber einen Zug verpassen als lediglich den Zug erwischen und dabei alles andere verlieren!
Der Traum riet mir davon ab, an der Zwischenprüfung teilzunehmen. Sie hätte mich damals überfordert. Ich bereue es nicht, sie hinausgeschoben zu haben. Heute traue ich mir die Prüfung zu.
Allerdings habe ich mit dem Prüfungsstoff nie so verzweifelt kämpfen müssen, wie ich mit dem Geldautomaten auf der einsamen Insel gekämpft habe.
Der Geldautomat war meine einzige Verbindung zur Außenwelt, zur Mitwelt. Ich war darauf angewiesen, ihn in den Griff zu bekommen. Er bot mir immer neue Hindernisse, immer ausgesuchtere Schwierigkeiten. Ich fühlte mich von dem Kunstwesen herausgefordert. Ich war voller Kampfgeist. Ich wollte die Maschine beherrschen lernen. Ich wollte die Abläufe durchschauen. Mit ruhigem, überlegtem Handeln wollte ich das Kunstgeschöpf bezwingen, das mich verwirren wollte. Ich war sicher, daß ich mir selbst helfen mußte. Ich wollte andere an meinem Ringen nicht teilhaben lassen.
Es muß eine eigene Bewandtnis haben mit dem Geldautomaten.
Rafa als Geldautomat? Als störrischer, schlecht zu bedienender Geldautomat ... abgegriffen und vielbenutzt ...

Ende August träumte ich von einem Bildschirm, der war groß wie eine Leinwand; er war aber sonst ein Bildschirm, wie man ihn bei Videospielen findet. Er zeigte lange Zeit das gleiche Bild:
Vor einem schwarzen Hintergrund saß rechts unten eine Fee auf dem Rand eines Kraters. Sie war geschminkt und hatte langes dunkles Haar. Ihr Kleid war eng und sehr ausgeschnitten. Sie setzte sich auf möglichst anziehende Weise zurecht. Aus dem Krater stieg Rauch. Es war gefährlich, die Fee zu gewinnen, und das wußte sie. Sie wußte auch, daß ihr die meisten Männer fast nicht widerstehen konnten.
Oben links stand vor einem wilden Wald ein Monster, einem riesenhaften Gorilla ähnlich. Es spähte gierig-sehnsüchtig zu der Fee hinüber, die so schwer zu erringen war.
Das Spiel begann; es lief vor mir ab wie ein Film.
"Aach, die Frau", seufzte das Monster. "Aach, was für eine Frau. Da zahlt man aber ganz schön drauf, wenn man die haben will. Und ob sie einen dann auch will, kann man nicht vorhersagen. Ein riskantes Unternehmen. Ich laß' mich nicht gern auf Risiken ein."
Das Monster rannte in den Wald. Es verschwand im tiefen Dickicht und erschien nicht lange danach wieder auf einem breiten Waldweg. An der Hand führte es ein anderes Zauberwesen. Das war ganz nackt und hautfarben. Es hatte sehr kurze Beine und war insgesamt klein. Der Kopf hatte die Größe einer Pflaume und war ohne Haare und ohne Gesicht. Die sehr ausladenden Brüste waren in die Nähe des Halses verlagert. Die Brüste schienen das Gesicht zu ersetzen.
"Die hab' ich mir geholt. Sie ist so häßlich", sagte das Monster lächelnd. "Aber im Bett kriege ich von ihr, was ich will. Die ist eine sichere Sache. Mit der lasse ich mich auf nichts ein. Außerdem verdiene ich eh nichts Besseres. Ich bin doch selber häßlich."
Und fort lief es, und das nackte Wesen rannte neben ihm her.

So war das wohl mit Rafa und seiner Freundin. Mich zu erobern war ihm zu aufwendig und zu gefährlich. Da hat er sich für die Sängerin entschieden. Sie ist ihm zu Willen. Er kann sie biegen und formen, und sie vermag ihn nicht zu durchschauen.
Malda hat erzählt, daß Rafa am letzten Freitag in der "Halle" war und vorwiegend Platten aufgelegt hat. Er scheint mehr und mehr an Kappas Stelle treten zu wollen. Kappa läßt ihn gewähren, wohl deshalb, weil nach wie vor Kappas Name im Programm steht.
Carl berichtete, daß Rafa am Samstag zum zweiten Mal nicht im "Elizium" war. Ich frage mich, ob er sich sagt:
"Was Hetty kann, kann ich schon lange!"
- und das "Elizium" ebenfalls meidet. So recht kann ich aber nicht daran glauben, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß Rafa meinetwegen seinen "Stammladen" aufgibt.

In einem Traum stand ich in einem weißlich-hellen, fast leeren Zimmer. Auf einem Tisch lagen zwei Haufen weißer Tumorzellen. Sie gehörten zu einem Tumor, der auf lange Sicht das Leben verkürzte - mein Leben. Weil die Zellhaufen offen dalagen, hatte ich die Möglichkeit, sie zu zerstören und auf mein Schicksal Einfluß zu nehmen. Nun waren Wespen in dem Raum, von denen hielt sich immer eine schwebend eine Handbreit über dem Haufen. Sie bewachte den Tumor. Sie ließ mich nicht heran an die Quelle der Gefahr. Constri sah das und war ratlos.
"Du kannst nichts machen", meinte sie. "Die Wespen stechen dich doch."
"Und wenn", entgegnete ich. "Ich lasse das nicht so, wie es ist."
Ich begann, die Zellen zu vernichten. Gleich kamen mir mehrere Wespen in die Quere. Sie stachen mich immer nur in die Fingerspitzen und ließen dort ihren Stachel zurück. Mit Schwung zog ich die Stachel heraus. Einer der Stachel war kein Insektenstachel, sondern ein winziger Dart aus Messing, an seinem Ende weiß.
Die Wespe, die bewachend über den Tumorzellen schwebte, sah man kaum. Die Wespen, die herumflogen und angriffen, sah man besser. Die "Wachwespe" wurde hin und wieder auch zum Angreifer, und eine andere übernahm dann ihren Platz. Ich tat, was ich zu tun vorhatte und ließ mich von den Wespen nicht beirren. Ich kämpfte und kämpfte und wachte schließlich auf.

Immer wieder hat Rafa mich verletzt, auf vielerlei Arten. Der weiße Dart kann Amors Pfeil gewesen sein, der mich an ihn bindet. Während ich mit Rafa kämpfte, kämpfte ich um mich, um mein Leben. Die Sehnsucht zersetzt mich langsam und offensichtlich, und ich muß ihr folgen, wohin sie mich auch führt. Ich nehme es in Kauf, angegriffen zu werden, wenn ich um dessentwillen mein Leben erhalten kann. Ich nehme es in Kauf, ohne zu zögern und ohne zu zweifeln.
IConstri wird bald in eine eigene Wohnung ziehen. Jahrelang hat sie bei mir gewohnt, die meiste Zeit davon in meinem Zimmer. Als ich im Juni krank im Bett lag und ihr verbot, noch eine einzige Nacht in meinem Zimmer zu verbringen, nahm sie mir das sehr übel. Indes, das Maß war voll. Ich fühlte mich von Constri bedrängt. Sie zwang mir eine Rolle auf, die ich nicht übernehmen wollte. Ich hatte grundsätzlich stets und allumfassend verfügbar zu sein. Ausnahmen ließ sie gelten, doch handelte es sich um Ausnahmen, die ich mir eine nach der anderen erstreiten mußte.
Carl erzählte, Constri hätte darüber geklagt, daß ich neuerdings abweisend, unerreichbar und fremdartig sei. Sie meinte, zwischen ihr und mir sei etwas zerbrochen.
"Das kenne ich schon", sagte ich. "Zwischen ihr und mir zerbricht immer etwas, wenn ich mich zurückziehen und mehr für mich leben möchte. In Constris Augen darf ich das nämlich nicht. Fälle wie diesen gab es schon öfter. Da will ich einfach nur für mich sein und in Ruhe gelassen werden, und schon zerbricht angeblich etwas."
Constri hat ein vereinnahmendes Wesen, und das stört meinen Weg zu mir selber. Ich will mich besinnen auf das, was ich bin und die Rolle allein finden, die zu mir paßt. Ich komme mit Constri nur dann zurecht, wenn sie sich nicht auf mich stützt.
Einen Tag, bevor die Prüfung begann, kam Rikka vorbei, weil sie zufällig in der Nähe war. Ich fand es schön, wieder einmal unter vier Augen mit ihr zu sprechen. Wir redeten über Berufe und über das Arbeiten. Die Prüfung ist für mich ein Schritt nach vorn. Es hätte nicht so bleiben können, wie es war. Ohne Schulden ging es freilich nicht ab, doch das hatte ich gewußt. Ich kann nicht leben ohne mein gewohntes Einkommen, und ich kann nicht lernen und gleichzeitig arbeiten gehen.
Ich war an jedem der vier Prüfungstage nach der Hälfte der angesetzten Zeit mit den Fragen fertig und sah zu, daß ich nach Hause kam. Dort lernte ich weiter. Ich habe bis zum letzten Augenblick gelernt. Viel aufzunehmen in kurzer Zeit fällt mir erheblich leichter, als über Monate hinweg gleichmäßig Wissen anzusammeln.
Ich finde, daß sich das Fach Medizin als solches für mich eignet, weil es mir Denkhilfen bietet. In der Medizin muß in vielschichtigen, sich bewegenden und verändernden Strukturen geforscht werden. Das liegt mir.
Mir fällt auf, daß ich mich zu einem Beruf hingezogen fühle, in dem mir größtmögliche Verantwortung abverlangt wird. Aber ich ersehne die Verantwortung nicht nur. Ich fürchte sie auch. Und ich muß von mir verlangen, Verantwortung zu tragen, da dies mir hilft, mich selbst und andere zu erreichen.
Vor über zwanzig Jahren habe ich in Gedanken eine Welt entstehen lassen, die so aussah wie die, in der ich leben wollte. Es war immer Nacht. Es gab eine Stadt, hinter der begann ein endloses Moor. In gleichmäßigen Abständen rauschte ein Zug mitten in das Moor hinein. Der Zug hatte Waggons aus schwarzem Stahl, die hatten keine Fenster. Die Ampel auf der Strecke, die aus dem Moor wieder herausführte, war immer rot. Es kam auch nie ein Zug zurück.
Constri und ich waren in dieser Welt bereits erwachsen und elegante Damen. Wir hatten zahlreiche Freunde. Meine Aufgabe war es, Menschen vor dem Tode zu bewahren, die sich dagegen wehrten. Es waren immer Menschen, die eigentlich nicht sterben wollten, sich aber vor dem Leben so sehr fürchteten, daß sie sich dem Tod überließen. Sie flohen vor sich und vor ihrer Furcht.
Eine Variante des Rollenspiels war die Fallende Statue.
Am oberen Ende einer kurzen, steilen Asphaltstraße ragte ein hohes graues Standbild empor. Diese Statue fiel von Zeit zu Zeit um und zerbrach auf der Straße. Sie wurde jedesmal wieder aufgebaut. Das Fallen der Statue kündigte sich stets vorher durch lautes Knirschen an. Wenn dieses Knirschen ertönte, lief ein lebensmüder Mensch auf die Straße, um sich von dem Standbild erschlagen zu lassen. Von der gegenüberliegenden Seite kamen andere, die zerrten ihn weg.
Es wundert mich nicht, daß Rafa mich als unheimlich und bedrohlich erlebt. Wenn er sich mir aussetzt, wird er sich auch sich selbst und seinen Gefühlen aussetzen. Und das ist es, was er fürchtet.
Es hat ihn wohl verunsichert, daß ich in ihm nicht den "schlechten Menschen" sehe, dessen Rolle er spielt. Diese Rolle ist er gewohnt; sie stützt und trägt ihn. Als ich daranging, sein Selbstbild umzustürzen, fühlte er sich angegriffen.
"Wenn ich berechenbar werde, nehme ich mir einen Strick", hat er gesagt.
Er will nicht erkannt werden. Das Bild zu erhalten, das er von sich verbreitet, scheint ihm wichtiger zu sein, als sich selbst zu erhalten.
Carl hat vom Sockenschuß geträumt.

"Ich sah den auf einem Gehweg, und da fiel der auf einmal hin; der sank so zusammen und war ganz schwach und machtlos", erzählte er.

"Im Moment ist der ja wirklich noch mit das kleinste Problem", meinte ich, "obwohl sich das ändern kann, weil diese Geisteskrankheiten in Schüben verlaufen."
"Den hab' ich schon lange nicht mehr hier vorm Haus gesehen. Und ich glaube, die Leute wollen auch mit dem nichts mehr zu tun haben. Der muß sich langsam einen neuen Wirkungskreis suchen."
"Wenn er es man auch tut."
"Ungewollt hat Rafa dafür gesorgt, daß der Sockenschuß nicht mehr ins 'Elizium' kommt. Der Sockenschuß hat doch immer allen Leuten erzählt, du seist in ihn verliebt. Und jetzt kam da ein anderer und hat einfach sein Weltbild umgeworfen. Da ist der abgedreht. Das konnte der nicht verarbeiten."
Ich erinnerte mich an noch jemanden, der wegen Rafa aus der Fassung geraten ist.
"Ivo ... der konnte das mit Rafa und mir auch nicht verarbeiten.
'Das wer' ich nie verstehn', hat der immer gesagt."
"Der hat Rafa auch nicht verstanden", meinte Carl. "Wenn der beschrieben hat, was Rafa macht, hat der in Wirklichkeit beschrieben, was er selber macht. Er hat sein Verhalten auf Rafa übertragen. Daß es sein eigenes war, hat er gar nicht gesehen."
Carl und ich haben über Metamorphosen gesprochen.
Bei mehreren Leuten habe ich im Laufe meines Lebens "Kokonphänomene" beobachten können. Es waren verschlossene Menschen, die ich vergebens zu erreichen suchte. Nachdem sie sich für lange Zeit von mir zurückgezogen hatten, tauchten sie unerwartet wieder auf und waren offen und zugänglich. Sie berichteten davon, eine Persönlichkeitskrise durchlebt zu haben.
"Ich kenne da einen gewissen Herrn, von dem du wahrscheinlich hoffst, daß er sich auch nur eingesponnen hat", sagte Carl.
"Ich wage es nicht zu hoffen", sagte ich.
Allerdings hatte ich bei den anderen an eine Wendung der Dinge auch nicht mehr geglaubt.
Carl ist selbst einer von diesen Menschen.
Als ich ihn vor vier Jahren im "Read Only Memory" kennenlernte, verstanden wir uns sogleich gut und trafen uns fortan fast jede Woche in BS. im "Puzzle". Mir fiel auf, daß Carl tiefergehende Gespräche vermied. Ein halbes Jahr lang hörte ich von ihm gar nichts, und als er sich wieder meldete, hatte er sein Coming Out hinter sich und berichtete, zu sich und anderen einen viel besseren Zugang gefunden zu haben. Er war mittlerweile auch telefonisch erreichbar und wohnte bei mir in der Nähe.
In meiner Wohnung gab es damals ein leeres Zimmer, aus dem ich einen Wintergarten machen wollte. Ich wünschte mir, einmal mit Carl in diesem Wintergarten Kaffee zu trinken.
Inzwischen hat Carl dieses Zimmer in ein Gewächshaus verwandelt, und wir trinken fast jeden Tag miteinander Kaffee, seit über drei Jahren.

In einem Traum habe ich ungeweinte Tränen zu Haufen zusammengekehrt. Ich tat das ganz nüchtern, wie etwas Alltägliches, Selbstverständliches.

Wenn ich mich jetzt, im Wachsein, an die sandigen Haufen erinnere, fühle ich einen ungeheuren Ekel, Ekel bis zur körperlichen Übelkeit. Sind ungeweinte Tränen gefährlich für mich?

In einem anderen Traum war ich mit Rafa und zwei Gefährten eingesperrt. Unsere Hinrichtung in einer Gaszelle stand bevor. Rafa - in dem Traum hieß er Heinrich - unterhielt geschäftliche Beziehungen zu unseren Henkern. Er war der Einzige, der unser aller Leben retten konnte. Er ging auch sogleich zu den Leuten hin, die uns gefangenhielten und begann zu verhandeln.
Als Gefängnis wurde eine Wohnung benutzt, in der ein etwa hundertjähriges Ehepaar lebte. Ich sah Rafa im Wohnzimmer stehen und reden. Er redete und redete. Ich wurde ungeduldig. Ich fürchtete mich immer mehr und rief:
"Heinrich! - Heinrich!"

So hat Gretchen im Kerker nach Faust gerufen.
Traue ich Rafa zu, daß er mich beschützt und errettet? Traue ich ihm mehr zu, als ich ahne?

In einem weiteren Traum sah ich ein Brautpaar in der Nähe des CITICEN. Sie gingen in eine andere Richtung als ich. Ich mußte in einem Bestattungsinstitut etwas erledigen.

Als ich mit Ortfried U.W. besuchte, machte der gleich "Ganz in Weiß" an, und ich mußte Rafas Stimme wieder hören. Ich finde das Lied schön, und ich finde auch "Desolation" von X marks the Pedwalk schön. Aber ich kann die Stücke nur selten ertragen, weil sie mich immer an Rafa erinnern - auf eine traurige Art.

In einem Traum bekam ich einen Brief, in dem stand, bei mir läge ein inoperabler Lungenbefund vor. Ich konnte mich nicht erinnern, in der letzten Zeit geröntgt worden zu sein. Ich sah auf das Datum des Briefes - der 06.06. des vergangenen Jahres.
"Wenn das wahr gewesen wäre, was da steht", sagte ich zu Constri, "dann hätte ich am vorigen Freitag nicht so zu dem Stück von Marusha tanzen können. Dann wäre ich längst tot."

Rafa behauptet, nie sterben zu wollen. Gleichzeitig gibt er sich Mühe, sein Leben zu verkürzen. Ich kenne ihn nicht ohne Zigarette.
Es wird Herbst. U.W. mag ebenso wie ich den Geruch nach Erde und Regen.
Es erstaunte U.W., daß Carl und ich uns meistens in unsere Zimmer zurückziehen, wenn wir daheim sind. Er kennt es so, daß Menschen, die zusammenleben, sich gemeinsam im Wohnzimmer aufhalten. Ich erklärte U.W., wie wichtig der Rückzug in eine eigene, abgeschlossene Welt für Carl und mich ist. Zum Ausgleich essen wir gemeinsam und unterhalten uns dann lange.
Meine Mutter kam am Tag vor der mündlichen Prüfung. Sie brachte Essen und nahm Constri mit; so hatte ich Ruhe, um zu lernen. Ortfried kam auch und brachte eine Dose Ravioli und Pulvercapuccino. Wir hatten ein kleines Abendbrot in meinem Sinne, wie gewöhnlich mit blauem Licht und Kerzenschein.
Zur Prüfung nahm ich nichts mit, keinen Kittel und kein Stethoskop. Ich mußte mir alles leihen. Die Patientin, die ich untersuchte, half mir beim Untersuchen. Sie hat selber Medizin studiert. Wie sich herausstellte, arbeitet sie seit langem im Krankenhaus und kennt Stationen, auf denen auch ich schon Dienst hatte. Es gibt eine Station, die dafür berüchtigt ist, daß dort Studenten gequält werden und zuallererst Urintöpfe ausleeren müssen. Auf dieser Station war ich einmal nahe daran, die Stationsschwester zu ohrfeigen. Meine Patientin hat auf der Station auch gearbeitet - wie ich als Aushilfe in der Pflege -, und sie hat einfach behauptet, Krankenschwester zu sein und keine Studentin. Da wurde sie gleich voller Hochachtung behandelt.
Das Ergebnis der mündlichen Prüfung war mein erster Einser in Medizin; meine Vorbereitung in halsbrecherisch kurzer Zeit war also nicht umsonst.
Ich finde es seltsam, daß ich ein solches Prüfungsergebnis erzielen konnte, ohne je ganz bei der Sache zu sein. Ich dachte ununterbrochen an Rafa. Immer, wenn ich in einem Lehrbuch das Wort "Mann" las, wurde ich wehmütig ...
Ich sehe Rafas Gesicht vor mir - wie er mir zulächelt, ganz verstohlen -, und ich lache. Ich weiß nicht, weshalb ich lache.
Anfang September habe ich Folgendes geträumt:

Rafa konnte seine Freundin leicht dazu überreden, mit ihm in einen Uterus zu kriechen, um darin mit ihm zu schlafen. Die beiden konnten es sich in dem Uterus aber nicht recht bequem machen; dazu waren ihre Körper zu groß und zu sperrig. Es wurde also nichts mit dem Coitus in utero.

Vielleicht sucht Rafa im Coitus das Gefühl allseitiger Geborgenheit - mit Hilfe austauschbarer Attrappen. Und vielleicht findet er gar nicht das, was er sucht.
U.W. kam am Morgen zum Frühstück und brachte Essen und CD's. Er spricht gelegentlich mit Ivo; der scheint ihm zu imponieren. Als U.W. Rafas Bild an meiner Wand sah, fragte er:
"Was soll denn das?"
Ich ging nicht darauf ein. Ich lauschte der "Todesfuge" von Paul Celan mit der Untermalung von Mental Measuretech. U.W. soll nicht so bald erfahren, was es mit mir und Rafa auf sich hat. Ich trage das nicht gern vor mir her.
Abends kam Merle. Sie zeigte auf Rafas Bild und fragte:
"Na? Hast du ihn überwunden?"
"Oh, nein", antwortete ich. "Das dauert noch Jahre. Das habe ich dir doch gesagt."
"Aach ... es gibt doch so schöne Jungs ..."
"Darum geht es nicht."
Es kamen noch mehr Gäste. Der nächste Gast war Derek. Er hatte Fieber. Ich freute mich sehr darüber, daß er trotzdem kam. Ich gab ihm heißen Kakao. Derek findet die Musik, die zur Zeit im "Elizium" läuft, auch sehr fad und abgegriffen. Constri schlug ihm vor, daß er doch auflegen solle. Er will aber lieber selbst Musik machen.
Rafa, der so gern hinterm DJ-Pult steht, hätte im "Elizium" eine neue Linie einführen können. Er ahmt jedoch nur Kappa und Xentrix nach. Ich vermute, daß es Rafa in der Hauptsache darum geht, dort oben zu stehen und daß die Musik, die läuft, für ihn nur eine zweitrangige Bedeutung hat.
Auch Derek ist aufgefallen, daß Rafa sich neuerdings kaum noch im "Elizium" sehen läßt.
"Es liegt an mir", meinte ich. "Wie kommt er sonst dazu, von einem Tag auf den anderen nicht mehr in 'seinen' Laden zu gehen? Er hat festgestellt, daß ich nicht mehr hingehe. Jetzt will er zeigen, daß er auch wegbleiben kann, ebensogut wie ich."
Leider treten am 10.09. Beborn Beton in der "Halle" auf, und das will ich nicht versäumen. Leider muß ich Rafa dann wiedersehen.
Kürzlich hatte ich Rafas Stücke laufen, da fragte mich Carl:
"Ach - kannst du die auf einmal wieder hören?"
"Hin und wieder muß ich sie hören", erklärte ich. "Ich bin halt süchtig nach dieser Stimme."
"Die Stimme ... die hat schon was."
"Das hat sie. Und sie kann leider auch ausgesprochen kalt klingen. Sie kann schüchtern und zärtlich klingen - und frierend kalt."

In einem Traum wies mich eine Frauenstimme zurecht:
"Was hast du mit dem Rafa gemacht? Zehnmal hast du ihm den Kopf auf den Boden gehauen!"

In einem weiteren Traum wurde ich gefragt, was für eine Rolle ich Rafa in meinem Leben gern zuweisen würde.
"Er wäre ein Vasall, ein Diener", antwortete ich und fand das ganz selbstverständlich. "Auf jeden Fall hätte er eine mir nachgeordnete Stellung."

Ich will doch aber gerade das nicht! Ich will einen mir ebenbürtigen Mann. Es stört mich, daß es Rafa an Reife und Stärke mangelt. Mein Verhalten in diesem Traum kann ich mir nicht erklären.

In einem weiteren Traum hörte ich die Kassette, die Rafa herausgebracht hat. In Wirklichkeit kenne ich diese Kassette bis heute nicht. Mitten in einem Stück hörte ich auf einmal die Sängerin singen. Ich lief zur Anlage und spulte das Band vor. Als ich wieder einschaltete, sang die Sängerin immer noch. Und so ging es weiter. Wann ich auch einschaltete - die Stimme der Sängerin erklang. Rafa hatte fast nur sie singen lassen. Ich fühlte mich müde und ohnmächtig.

In einem anderen Traum beschwerte sich ein Mann darüber, daß in seinem Gehirn herumgesucht wurde.

Nun - etwas Derartiges hat Rafa von seiner Sängerin nicht zu befürchten.
Er soll am letzten Samstag wieder im "Elizium" gewesen sein - und ziemlich lange.
Constri findet, daß ein heiler Mann nicht zu mir paßt; ich sei ja selber kaputt.
"Stimmt", sagte ich. "Er müßte an der gleichen Stelle kaputt sein wie ich, nur müßte sein Fehler das Gegenstück zu meinem Fehler sein, das Negativ, damit wir einander helfen und ergänzen können."

In einem Traum sah ich ein Schloß, das stand an einem großen Wasser. Vor der Ufermauer lag ein flaches Boot. Damit überzusetzen war sehr gefährlich. Es tat auch keiner.

Das große Wasser muß das Wasser zwischen den beiden Königskindern gewesen sein, das viel zu tief ist. Ich denke oft an das Lied von den zwei Königskindern, die sich nicht erreichen können. Der Prinz versucht, über das Wasser zu schwimmen. Eine eifersüchtige Nonne löscht die Kerzen aus, die ihm leuchten sollen, und er ertrinkt.
"Immer noch solo?" fragte mich U.W., als wir über Beziehungen sprachen.
"Sicher!" antwortete ich.
"Soll das so bleiben? Du wirst dreißig."
"Ich will nicht solo sein", erklärte ich. "Ich wollte nie solo sein. Ich suche seit vierzehn Jahren. Ich hätte X haben können; die wollte ich aber alle nicht."
"X."
"X. Ich gehe aber keine Kompromisse ein."
"Hör' mal ... den Mann des Lebens ... die Frau des Lebens ... das gibt es doch gar nicht."
"Das gibt es", konnte ich aus Erfahrung sagen. "Es ist wirklich wahr, das gibt es. Und weniger kann ich nicht wollen."
"Also solo auch noch mit dreißig."
"Und vielleicht auch noch mit vierzig. Ich sage dir, du wirst keinen finden, der in dieser Hinsicht so konsequent ist wie ich. Eine Meinung, wie ich sie habe, kommt eigentlich gar nicht vor."
"Naa, vielleicht änderst du deine Meinung auch noch."
"Die ändere ich nicht."



In der "Halle" habe ich Rafa fast nicht gesehen, obwohl er da war. Das lag daran, daß er sich nicht hat sehen lassen.
Carl und Rikka haben ihn beobachtet. Er saß unterm DJ-Pult an einer Bar und stand später auf "seiner" Seite am Rand der Tanzfläche. Er soll meistens allein gewesen sein. Carl hat die Sängerin nur einmal gesehen - in der Nähe der Toiletten. Ich habe die Sängerin gar nicht gesehen, und das war mir recht. Nicht ein einziges Mal hat Rafa getanzt, auch dann nicht, als "Schlachtreif" vom Liederkranz kam. Nicht einmal hat Rafa einen Rundgang durch die "Halle" unternommen. Und selbst als Beborn Beton aufgetreten sind, war er nicht auf der Tanzfläche bei den Zuschauern.
Als Carl neben Rafa an der Bar stand, fragte ihn Rafa grinsend:
"Hast du dich eingefroren?"
Er spielte auf Carls neuartige Tracht an. Carl war besonders schick - er hatte Geburtstag. Er trug ein weites weißes Hemd und dazu eine bläulichweiße, fleckig bedruckte Hose. Seine Haare waren mit einem ledernen Schlauchgummi zusammengebunden. Er hatte weiß geschminkte Augenbrauen, weiße Kajalstriche und weiß geschminkte Lippen. Seine Haare sind ohnehin gebleicht. Er sah wirklich wie eine "Queen of Ice" aus.
Auf die Bemerkung von Rafa hin machte Carl nur große Augen, sagte aber nichts.
Ich stelle fest, daß Rafa mit einem von meinen Leuten geredet hat. Carl hatte den Eindruck, daß Rafa das Gespräch mit ihm suchte.
Rikka kam bald danach zu mir an einen runden Tisch auf der anderen Seite der "Halle". Sie erzählte, sie und Carl hätten eine ganze Weile hinter Rafa gestanden.
"Er hat eine Hose an, die geht über die Knie, und da hat er sich unten Schnallen drangemacht", berichtete sie. "Und er hat weiße Strümpfe an. Und er hat seine Jacke an und sein Stirnband um."
Rafa verhielt sich still. Er stand nur da. Dolf kam öfter in unsere Nähe und setzte sich dort auch hin. Ich frage mich, ob er seinerseits einen Beobachterdienst versah.
Kappa sagte durchs Mikrophon:
"Und jetzt der Newcomer des Jahres!"
Er kündigte ein Stück von Rafa an. Zu dieser Zeit war der "Newcomer des Jahres" wahrscheinlich schon recht betrunken.
Viele tanzten zu dem Stück. Es hat einen sehr leichten Technorhythmus. In dem Stück wird dazu aufgefordert, den Helden einer Videospiel-Serie umzubringen.
"Deine Beine bewegen sich nicht - was ist los?" fragte Derek.
"Das kannst du dir doch denken", entgegnete ich. "Ich kenne doch die Verlogenheit, die hinter diesen schlichten Worten steckt. Ich kenne die verlogene Heiterkeit, die dahintersteckt."
Ich kann einen Liedtext nicht ernstnehmen, wenn er keine persönlichen Botschaften enthält. Solche Botschaften gab es in den Texten, die Rafa früher geschrieben hat. Da war die Rede von Tod und Trauer. Die Botschaften waren versteckt unter Kitsch und Bombast, doch sie blieben hängen in mir. Sie lösten Gefühle aus. Das möchte Rafa heute wohl vermeiden.
Im Oktober soll eine MaxiCD von Rafa erscheinen. Wenn die Sängerin darauf singt, hole ich sie mir nicht.
Als ich einmal von der Toilette kam, sah ich an der Bar unterm DJ-Pult eine Gestalt mit Stirnband. Das kann Rafa gewesen sein. Ich wollte nicht zu nahe herankommen und zu lange hinsehen.
Carl gab auf dem Parkplatz Sekt aus. Constri und Rikka machten den Vorschlag, Walzer zu tanzen, obwohl sie es selber nicht konnten. Jeder versuchte, Walzer zu tanzen - Lenni ... Lena ... Derek ... Talis ...
In der "Halle" wurde ich von mehreren Leuten gefragt, wo ich in den letzten Wochen gewesen sei. Ich erzählte von meiner Prüfung. Flüchtige Bekannte wie Cilly, Edit und Henriette sollen nicht erfahren, was mich in Wahrheit vom "Elizium" und der "Halle" fernhielt.
Rafa ging weit vor drei Uhr. Carl war erstaunt darüber, daß ich ihn nicht gesehen hatte.
"Der war beim DJ die ganze Zeit."
"Ich weiß", sagte ich. "Und er weiß, daß ich da nicht hinkomme. Und er konnte durch Dolf erfahren, daß ich hier bin. Und wenn er mit mir hätte sprechen wollen, hätte er nur zu mir zu gehen brauchen. Er weiß, wo ich mich immer aufhalte."
Am Samstag war Rafa nicht im "Elizium". Nur Dolf war da. Carl nimmt an, daß Rafa seinen "Ableger" hingeschickt hat mit dem Auftrag, zu berichten, wer anwesend sei.

In einem Traum stand Rafa vor mir, und ich strich erst über seine Haare und dann über seine Wange. Er guckte erstaunt, als wäre das etwas Unerhörtes. Ich fuhr fort, sein Gesicht zu streicheln. Ich wollte ihn daran gewöhnen.

In einem weiteren Traum hat Rafa mich zweimal angerufen. Er wollte sich nicht mit mir verabreden, sondern Wortgefechte mit mir austragen. Immerhin - er rief an.

In einem Traum habe ich zusammen mit Rafa Platten aufgelegt. Wir beschlossen, dem Publikum eine einmalige Vorführung zu bieten. Wir taten so, als wären wir heimliche Berühmtheiten.

Seit Mitte September bin ich mit Constri und unserer Freundin Sadia auf einer einsamen Insel. Es gibt dort auch einen Geldautomaten. Er ist ganz neu und hat ein großes, gut ausgeleuchtetes Display, das sogar den Kontostand anzeigt.
An einem Abend haben wir drei zum selbstgemachten Krabbencocktail Federweißen und Wodka getrunken und anschließend unseren Müll nach draußen gebracht. Wir wollten die Tüten nicht in die Tonne unserer Wirtin werfen, weil die für die Entsorgung viel Geld bezahlt. Wir haben den Müll also auf öffentliche Müllkübel verteilt. Es war gegen elf, und die Insel schlief schon. Als Sadia ihre Tüte weggeworfen hatte, spannte sie unterm trockenen Himmel ihren Regenschirm auf und sang. Constri hielt lange Vorträge über Pflaumen und Pflaumenmus. Unter anderem sagte sie:
"Was ist ein Leben in Kummer und Sorge, wenn einen zu Hause immer ein Topf frisches Pflaumenmus erwartet?"
Auf dem breiten, grau gepflasterten Weg zum Hafen fiel Sadia hin, ihren geöffneten Schirm in der Hand. Ich meinte dazu:
"Jetzt müßten uns die alten Damen sehen, die heute beim Bäcker gesagt haben:
'Das sind doch die Damen von heute vormittag.'
Die würden dann sagen:
'Das sind doch die Damen von heute nachmittag.'"

In der Nacht habe ich geträumt, ich würde eine Stellung bei Friedrich II. antreten. Ich kam zu einem Schloß, das aus zwei großen Gebäuden bestand. Ein Knecht sagte zu mir:
"In dem linken Haus ist der Wichmann Verwalter. Zu dem gehen Sie nicht; bei dem sind Sie schon geflogen. Gehen Sie nach nebenan zum Schelling. Der weist Ihnen Arbeit zu. Vorher holen Sie aber noch aus dem Hof des Wichmann-Hauses den Karren Holz, der dort steht und fahren ihn zum Schelling-Haus. Das hat die letzte Schicht nicht mehr geschafft."
Ich ging auf den Hof des Wichmann-Hauses und fand den Karren. Ich hatte aber nicht vor, bei Friedrich II. nur Holz zu fahren. Ich ging in das Gebäude hinein. In einem dunklen Schuppen für landwirtschaftliche Geräte saß Friedrich II. mit seiner Großmutter im vertrauten Gespräch. Die Großmutter sah aus wie meine Oma Berta, die seit vielen Jahren tot ist.
"So weit über mir kann sie nicht stehen", dachte ich.
Ich ging auf die beiden zu und fragte Friedrich - einen Mann mit Perücke, der in meinem Alter war -, wie meine Beschäftigung bei ihm wohl aussähe.
"Ich bin Friedrich", sagte er. "Friedrich II."
"Das dachte ich mir", entgegnete ich. "Darum frage ich Sie."
"Fürchten Sie sich denn gar nicht?"
"Weshalb? Wovor? Ich komme nur her zum Arbeiten und möchte etwas über meine Tätigkeit wissen."
"Das macht doch Schelling."
Ich zuckte mit den Schultern und zog die Augenbrauen hoch. Friedrich lud mich zu einem Familienbankett unter freiem Himmel ein. Man saß auf zwei Meter hohen Barhockern. Ich machte Konversation und hoffte, nicht mit meinem Hocker umzufallen. Als ich einmal zu fallen drohte, hielt ich mich an dem Hocker meiner Nachbarin und riß sie beinahe mit um. Das sollte kein zweites Mal geschehen. Als ich richtig umfiel, ließ ich mich an den Beinen des Hockers hinuntergleiten und tat mir nichts. Ich stieg wieder auf den Hocker mit dem Gefühl, ihn gebändigt zu haben.
Das Mädchen, das neben mir saß, war schüchtern und blond und trug ein dunkelgrünes Nachmittagskleid. Ihre Mama wollte sie gerne mit Friedrich verheiraten. Das folgsame Mädchen war bereit, die Ehe einzugehen. Sie war auch bereit, sich in Friedrich zu verlieben und betrachtete ihn neugierig. Sie stammte aus einem alten Adelsgeschlecht. Die Heirat würde standesgemäß sein.
Ich hatte vor, mich für das bezahlen zu lassen, was ich am besten konnte: reden und herumtändeln. Eben das machte ich mit Friedrich. Er war von mir so eingenommen, daß er keine Augen hatte für die blonde Adlige. Er begann schließlich, mit mir Walzer zu tanzen.

Auch Rafa hatte Arbeit zu vergeben. Er hatte die Stellung einer Beischläferin zu besetzen. Ich wollte mich nicht von ihm einstellen lassen, sondern verlangte von ihm, sich auf mich einzustellen. Da wurde ich sogleich als Bewerberin gestrichen.

In einem weiteren Traum fand ich auf einer Wiese ein junges Schaf. Es lief vor mir her und führte mich zu einer Klinik, die ich besichtigen durfte. Die Schwestern zeigten mir den Patienten Weißberger, einen Fünfundvierzigjährigen mit einer seltenen Hautkrankheit und einem Psychosyndrom. Herr Weißberger hatte ein Sakko an, aus dem große Stücke herausgeschnitten waren. Der halbe Rücken war unbedeckt, und ein Ärmel war fast ganz abgeschnitten. An den bloßen Stellen zeigte die Haut eine dunkelrote Farbe. Der Patient vertrug es nicht, wenn sie von Stoff berührt wurde. Seit langem hatte Herr Weißberger sich an das Leiden gewöhnt, und nur aufgrund einer Laune wünschte er zu erfahren, was dahinterstecke und ob es zu behandeln sei. Herr Weißberger war sehr schweigsam, sehr verschlossen und sehr eigensinnig. Daß die Leute über seinen seltsamen Aufzug sprachen, schien er nicht wahrnehmen zu wollen. Noch ehe die Diagnose gestellt werden konnte, verließ er die Klinik so plötzlich, wie er dort aufgetaucht war.
"Herr Weißberger ist fort", sagte eine Schwester.
"Da kann man nichts weiter machen", sagte eine andere.
Herr Weißberger galt als schwieriger Außenseiter. Seine Gesellschaft wurde gemieden. Die Schwestern in der Psychiatrie hatten versucht, ihn einzugliedern. Eine hatte mit ihm getanzt und das mit einer Videokamera aufnehmen lassen. Das Band bekam die Aufschrift "Ich habe mit Herrn Weißberger getanzt", und die Kopien wurden für zehn Mark verkauft. Der Film sollte dazu anregen, sich mit Außenseitern zu beschäftigen.
Ich ging in den Innenhof der Klinik, der verschwenderisch begrünt war. Es gab sogar einen Teich mit Fischen darin. Zwei junge Schwestern pflückten in der abendlichen Dunkelheit Blumen für die Patienten. Es gehörte zu ihren Pflichten, die Pflanzen zu versorgen, die Tiere zu füttern und es den Patienten so gemütlich wie möglich zu machen.
Das Schaf kam und führte mich wieder von der Klinik fort. Es sprang in großen Sätzen über die Wiese.

So verschieden Rafa und Herr Weißberger in ihrem Äußeren sind, in ihrem Wesen haben sie doch etwas gemein. Auch Rafa ist schwierig und verschlossen, und keiner kommt mit ihm zurecht. Keiner kann ihn halten. Im Grunde möchte Rafa durchschaut werden, doch läßt er niemanden nah genug an sich heran. Bevor es ernst wird, ergreift er die Flucht. Er zieht es vor, mit seinem Leiden zu leben. Man gibt ihn auf. Nur ich tue es nicht.
Am nächsten Abend haben Sadia, Constri und ich wieder etwas getrunken und sind zum Strand gegangen. Vor der Kurverwaltung sind Constri und Sadia auf kleine Wippfigürchen gestiegen, und Sadia legte sich so ungeschickt auf die Seite, daß die Stahlfeder sich durchbog und Sadia auf dem Boden landete. Trotz der Dunkelheit haben wir den gepflasterten Dünenweg noch gefunden. Wir haben zu dritt ein Lied gesungen. Es wurde von einer Alzheimer-Patientin ersonnen, die jede von uns schon im Ambulanten Pflegedienst betreut hat. Die Patientin störte sich immer sehr an den Wassertropfen im Spülbecken; sie wischte sie weg und sang dazu:
"Das Wasser ist des Müllers Lust".
Am Strand haben wir geschaukelt. Es war sehr günstig, daß wir alle lange schwarze Mäntel trugen, denn die heben sich nachts besonders deutlich gegen den hellen Sand ab, und man verliert einander nicht so leicht. Vor der Strandtoilette saß eine kleine Kröte, die gefärbt war wie Sand und Beton. Sie bewegte sich kaum. Sie tat, als wäre sie ein sandbedeckter Stein. Wir fanden die Kröte niedlich und rührend. Wir mußten sie lange ansehen. Ich dachte unwillkürlich an die "häßliche Kröte" Rafa. Ich finde Rafa gar nicht häßlich, sondern niedlich und rührend. Ich möchte nicht, daß er sich verwandelt.
Constri träumte in der Nacht, eine Kröte würde mir von Kindheit an in Gefahr und Not zur Seite stehen. Es folgt ein Auszug aus Constris Traumtagebuch, das gelesen werden darf, da es zugleich unser Ferientagebuch ist:

"Heute nacht habe ich von einer etwa meerschweinchengroßen Kröte geträumt, die übermenschliche Fähigkeiten hatte und eine Art Schutzengel von Hetty war. In Abständen von mehreren Jahren - dann, wenn Hetty in einer sehr bedrängten Lage war - war die Kröte zur Stelle und half. Hetty erzählte mir und Sadia davon in einer endlos wirkenden Brachland-Schutt-Gegend vor einem hohen Maschendraht-Bauzaun. Hetty erzählte, wie ihr die Kröte in der Grundschule geholfen hatte. Beim Fasching hatten ihre arroganten, reichen Mitschüler mit ihren teuren Kostümen angegeben, und Hetty war in ihrem schlichten Kostüm außen vor. Die Lehrerin hatte teure Spielsachen und sonstige Dinge gekauft. Bei einem Spiel wurden diese Dinge als Preise vergeben. Die Kröte half Hetty und bewirkte, daß Hetty sämtliche Preise gewann. Die Lehrerin konnte es nicht glauben und machte das Spiel nochmal. Hetty gewann wieder alle Preise. Also bekam Hetty all die Sachen.
Während Hetty erzählte, kletterte die Kröte am Bauzaun umher und sammelte Baumwolle. Als sie genug zusammenhatte, sprang sie weg. Hetty, die gerade in einer finanziellen Notlage war, hob die Baumwolle auf.
'Vielleicht wird dir diese Baumwolle Glück und Reichtum bringen', meinte ich."

Soweit Constris Tagebucheintragung.
In Constris Traum habe ich mit der Kröte das "große Los" gezogen. Und keiner konnte mir das Glück mehr nehmen. Welche Macht war es, die ihre Hand über mich hielt und mir zu einem märchenhaften Glück verhalf? Wen sieht Constri da im Hintergrund stehen und über mich wachen?
Ich soll in dem Traum stets darauf vertraut haben, daß die Kröte mich nie im Stich lassen würde, und sie ließ mich auch nie im Stich. Gibt es ein Geschöpf, zu dem ich ein solches Vertrauen habe? Gibt es ein Geschöpf, das dieses Vertrauen nie enttäuscht?
Baumwolle ist ein Rohstoff. Man muß sie weiterverarbeiten. Die Kröte hat in Constris Traum etwas für mich gesammelt, das Möglichkeiten in sich birgt. Meine Aufgabe war es, die Möglichkeiten auszuschöpfen.
Auch ich hatte einen Traum, in dem ein Mensch von einem Geisterwesen beschützt wurde:

Ein junger Vampir hatte einen zehnjährigen Pagen. Der Knabe war lebendig und gesund, sein Dienstherr ein kränklich wirkendes Nachtgespenst.
Ein älterer Vampir, der biß, ohne zuvor gestorben zu sein, genoß den Vorteil der Unsterblichkeit in Verbindung mit dem Vorteil eines Daseins unter dem Licht der Sonne. Er war rücksichtslos und mächtig. Er wollte das Blut des Pagen trinken. Der junge Vampir verteidigte den Knaben wütend und verzweifelt gegen den älteren Blutsauger und rief am Ende leidenschaftlich:
"Wenn du meinen Knaben beißt, beiße ich dich tot!"

Nach meiner Erfahrung genügt es schon, wenn zwei Wesen bedingungslos füreinander sorgen, um Unglaubliches geschehen zu lassen.
Draußen wärmt uns die Herbstsonne. Es gibt hier schöne Uferbefestigungen aus Beton, auf denen wir schon spazierengegangen sind. Man kann dort eindrucksvolle Bilder machen.
Constri hat noch etwas Seltsames geträumt:

Eines Tages brachte ich - Hetty - einen Hund mit heim, eine Mischung aus Kampfhund und Boxer. Es war ein Jungtier, niedlich und kuschelig. Sein Fell war hellgrau. Der Hund stammte aus einer zerrütteten Familie. Die beiden Hunde, die seine Eltern waren, hatten Selbstmord begangen. Auch der junge Hund würde nicht mehr lange zu leben haben. Ich hatte mich rasch entschieden, für ihn zu sorgen. Trotz seiner Niedlichkeit und Tapsigkeit erlebte Constri den Hund als fremdartig, unberechenbar und furchterregend. Er sollte angeblich aufs Wort folgen, gehorchte Constri aber nicht. Mein Kater Bisat lag in einer Kiste und war ganz verschüchtert und dünn geworden. Ich kümmerte mich nicht ausreichend um ihn. Constri streichelte ihn, und da fiel ihr ein, daß sie selbst ein ihr anbefohlenes Wesen vernachlässigte. Unter einer Motorhaube hielt sie ein Frettchen. Mehrere Wochen lang hatte sie nicht nach dem Tier gesehen. Constri bat mich, die Motorhaube anzuheben und festzustellen, ob das Frettchen noch lebte. Ich fand das Frettchen und nahm es aus dem Wagen. Es bewegte sich noch, war jedoch dem Tode nahe. Constri hoffte, es retten zu können. Sie war voller Schuldgefühle.

Der graue Kampfhund, für den ich sorgte, hatte Eltern, die Selbstmord verübten. Der bewußte Selbstmord ist eine menschliche Handlung; dies deutet darauf hin, daß der Hund und seine Eltern in Wirklichkeit keine Tiere waren. Der junge graue Hund war niedlich, kindlich, hilflos, ohne familiären Halt, gefährdet, gefährlich, fremdartig, unberechenbar, eigensinnig ... und ich kümmerte mich um ihn und würde das nicht lange tun können. Ich konnte ihn nicht retten. Ihm war nicht zu helfen.
Anscheinend ist Rafa auch in Constris Träume geschlüpft. So trifft man sich wieder ...
Es geht jetzt um die Frage, ob es jemanden gibt, dem Constri viel bedeutet und der sie braucht. Wir kommen noch nicht darauf, wer es sein könnte. Wenn wir davon ausgehen, daß der Hund Rafa war, dann ist das Frettchen vielleicht auch ein Mann.
Als wir nach Hause kamen, berichtete Carl, daß am vergangenen Samstag weder Rafa noch einer von seinen Gefolgsleuten im "Elizium" war.
An der Musik kann es nicht liegen, wenn Rafa nicht mehr kommt. Er hat sich nie über die Musik im "Elizium" beklagt und auch selbst nichts daran verändert. Ohnehin ist das "Elizium" für ihn weniger ein Tanzladen als eine Bühne, auf der er sich selbst darstellt. Wenn er auf diese Bühne verzichtet, bringt er ein nicht geringes Opfer.
Carl sagte mir, er könne mich nun endlich verstehen. Er sei auch verliebt, verliebter denn je. Wie ich erwischt er sich dabei, daß er den Mann, den er begehrt, unwillkürlich anfaßt. Carl sagte, er sei fast neidisch auf mich, da Rafa Gefühle für mich zu haben scheint. Ich entgegnete, daß mir das im Augenblick gar nichts brächte. Schließlich sehe ich Rafa nicht mehr und kann ihn auch nicht mehr berühren.
Laut Carl gibt es im "Elizium" viele Leute, die mich "kalt" finden und nichts mit mir zu tun haben wollen. Ich soll ungefähr so viele Gegner haben wie Rafa. Der Sockenschuß soll gar nicht mehr in H. leben, sondern in BI. Er braucht neue Opfer, seit ihm die alten nicht mehr im gewohnten Ausmaß zur Verfügung stehen. Ich glaube, der Sockenschuß ist aus der Szene von H. endgültig ausgeschlossen worden.
Inzwischen steht für mich die Gesamtnote "gut" in der Prüfung fest. Wenn ich die Abschlußprüfung mit "sehr gut" bestehe, habe ich "gut" als Endnote.
Es erleichtert mich, daß es mir offenbar gelingt, mein Fortkommen zu sichern, obwohl alle Gedanken Rafa betreffen.



Auf dem Weg zur "Halle" fragte Derek mich nach Rafas Sternzeichen.
"Steinbock", sagte ich. "Das paßt nicht zu mir."
"Nicht?" zweifelte Derek. "Ich denke, das paßt."
In der "Halle" stand Carl bei Tay. Aus der Ferne verwechselte ich ihn mit Rafa, doch ich entdeckte bald, daß er es nicht war. Tay kam im weißen Rüschenhemd daher und hatte einen langen schwarzen Mantel an. Er war über den Ohren rasiert und trug einen Pferdeschwanz und Kajalstriche.
Ein Mädchen namens Lillien, die ich durch Till kenne, begrüßte mich freudig. Sie ist zierlich und hat einen blau gefärbten Pony. Sie hat ihr Schwesternexamen bestanden und wünscht sich, daß ich eines Tages auf ihrer Station arbeite.
Toro drückte mich, gleichfalls erfreut, mir wieder zu begegnen. Till betrachtete sorgsam mein zugehaktes Oberteil und die Taille mit der Schärpe, und er fuhr an der Hakenleiste entlang und zupfte an der Schärpe. Meine Arme gefielen ihm anscheinend auch. Nur war das alles eigentlich nicht für ihn bestimmt.
Rafa schickte offenbar seinen Leibzwerg wieder los, um festzustellen, ob ich in der "Halle" sei. Ich war noch nicht lange da, als Dolf mit eiligen Schritten an mir vorbeiging.
Rafa stand in der Nähe des DJ-Pults. Seine toupierten Ponysträhnen hingen ihm bis zum Kinn.
"Es kann doch nicht wahr sein, daß der so goldig aussieht", sagte ich zu mir. "Ich muß vergessen haben, wie goldig der aussieht."
Rafa hatte mich wohl auch entdeckt und ging hinüber zu mir. Ich stellte mich neben die Box hinter einen Stuhl und wartete. Derek und Talis, die in meiner Nähe saßen, konnten alles beobachten.
Rafa kam mit seinem Sonntagslächeln auf mich zu. Er nickte im Gehen. Er gab mir die Hand und sagte:
"'n Abend!"
"'n Abend!" grüßte auch ich.
Ich sah ihn an. Er war ganz so zurechtgemacht wie Tay. Ich fand es vorteilhaft, daß er kein Stirnband trug. Ich behielt Rafas Hand in der meinen. Er schaute auf unsere Hände und fragte:
"Was 's' los?"
"Was immer los ist."
"Was 's' los?" haucht Rafa.
Sein Kopf hängt über meiner Schulter, und seine glattrasierte Wange liegt an meiner.
"Das, was du nicht raten willst", sage ich.
"Was will ich nicht raten?" fragt Rafa.
"Das, was los ist."
"Wenn ich rate, weißt du nicht mehr, als wenn ich nicht rate."
Wie früher schon holt er tief Atem, ehe er etwas zu mir sagt. Es ist, als koste es ihn besondere Anstrengung, mit mir zu sprechen. Es ist, als müßte er sich gegen etwas stemmen, gegen eine Kraft, von der er sich nicht überwältigen lassen will.
Rafa spricht mit schwerer Zunge. Auch das ist mir schon vertraut. Ich glaube, er trinkt fast immer, bevor er zu mir geht.
"Wenn du rätst, weiß ich, was du über mich weißt", setze ich sein Verslein fort.
Rafa nickt.
"Was weißt du denn über mich?" frage ich.
Er legt einen Finger auf den Mund.
"Es gibt Dinge, die weiß ich über dich, und du weißt nicht, daß ich sie weiß ... und umgekehrt", behaupte ich.
"Was 's' los?" fragt er wieder.
"Die Frage stellst du immer, wenn du in mein Programm willst", meine ich.
"He!" beschwert sich Rafa. "Hier ist nicht der richtige Ort für dich, um Witze zu machen."
"Und hier ist auch nicht der richtige Ort für dich, um Witze zu machen."
Kampfbereit stehen wir uns gegenüber. Ich drücke seine Hand fest, und er drückt meine Hand fest. Wir straffen uns und werfen die Köpfe zurück, mit den gleichen Bewegungen, wie in einer Choreografie. Ich lache Rafa ins Gesicht.
"Was 's' los?" fragt er und neigt sich wieder über meine Schulter.
"Das mußt du raten", antworte ich. "Irgendetwas mußt du auch tun."
"Ich tue schon genug!"
"Oh, das sehe ich anders. Ich habe den Eindruck, du willst mich die ganze Arbeit machen lassen und selber nichts tun."
Noch immer läßt Rafa mich seine Hand halten. Ich kralle meine Fingernägel in sein Fleisch. Obwohl wir beide Handschuhe tragen, zwickt ihn das ziemlich. Unwillig schüttelt er seine Hand, und ich lockere den Griff.
"Du hast letztes Mal gesagt, daß du mir meine Zuneigung nicht glaubst", komme ich auf unser Gespräch Ende Juli zurück. "Ich kann mir denken, weshalb du sie mir nicht glaubst."
"Und, weshalb nicht?"
"Weil es unbequem für dich ist, sie mir zu glauben."
"Das ist gar nicht schlecht", lobt Rafa. "Gar nicht schlecht."
Er hebt seine Hand in die Höhe und stellt verwundert fest, daß meine daran hängenbleibt. Er greift nach meinem Ellenbogen. Ich verschränke meinen freien Arm mit seinem. Wir sind seltsam miteinander verknotet.
"Jetzt mußt du mir nur noch sagen, wie der Weg ins 'Elizium' geht", verlangt Rafa.
"Aha, du vermißt mich also!" entlarve ich ihn.
Hinter mir erscheinen zwei Mädchen.
"Weißt du, ich muß jetzt ...", entschuldigt sich Rafa.
"Ach - Verzeihung", entschuldige ich mich meinerseits und umfasse seine Schulter. "Wir wollen uns hier selbstverständlich nicht zu Intimitäten hinreißen lassen. Es könnte nämlich sein, daß ich dich demnächst aufesse. Ich werde dich schlachten, braten und dann essen."
Ich lehne mich an ihn und atme den Geruch seiner Haare ein. Ich möchte ihn beißen. Auch er hat seinen Mund schon geöffnet und ist nahe daran, zuzubeißen. Er beißt aber nicht; stattdessen gibt er eine Äußerung von sich, die klingt wie "Halt' dich 'ran, Mädchen!"
Ich drehe mich in Rafas Arm hinein und wieder heraus und rufe:
"Bis bald!"
Dann lasse ich seine Hand los und gehe auf die Tanzfläche. Etwas später ist Rafas Stück gegen Videospiele zu hören. Auf einer großen Leinwand ist Rafa sogar zu sehen - beim Singen und Tanzen. Es kann ein Konzertmitschnitt sein; der Film läuft stumm ab.
"Dieses Gesicht ... und dann diese Bewegungen", denke ich.
In dem Film trägt Rafa keine Spiegelbrille. Er hat sein schlichtes Sweatshirt an. Ich kann die Sängerin nirgends entdecken, weder auf der Leinwand noch in der "Halle". Das läßt mich hoffen.
Rafa steht hinterm DJ-Pult, hoch über den Gästen. Er ist eingehüllt in künstlichen Nebel. Die Gestalt im weißen Hemd führt öfters die Hand zum Mund. Daran ist Rafa leicht erkennbar. Keiner von unseren DJ's raucht so viel wie er. Ich finde es merkwürdig, daß Rafa ohne Zigarette und Glas zu mir kam.
Rafa legt alte Stücke auf, die ich süßlich und grell finde. Die "Halle" leert sich. Es kommt mir vor, als wolle Rafa die Menschen vertreiben. Einer der wenigen Lichtblicke ist das Stück "Schlachtreif", in dem "Jesu Leichnam bratbereit" gemacht wird. Das schlimmste Stück in dieser Nacht ist das von mir lebhaft gehaßte "Come on Eileen" von Dexi's Midnight Runners. Als ich mir die Ohren zuhalte, regelt Rafa das Stück wieder heraus und spielt ein anderes, neueres, zu dem ich tanze. Das geht kaum zuende, da kommt "Eileen" schon wieder ... und ganz. Ich renne nach draußen. Ich muß weit laufen, ehe ich die Musik nicht mehr höre. In der Bauruine einer Fabrikhalle mache ich einen kurzen Gang. Das Stahlgerippe ragt hoch in den grünlichen Himmel. Es fällt Sprühregen. Der feuchte, grobe Sand knirscht unter meinen Schuhen.
Als kaum mehr jemand in der "Halle" ist, kommt Rafa herunter und geht in meine Richtung. Über dem Arm hält er seinen schwarzen Mantel und ein weißes Seidentuch. Er biegt ab, kurz bevor er mich erreicht und unsere Blicke sich treffen. Unschlüssig steht er vor der Tanzfläche. Er zieht den Mantel an. Das Seidentuch wickelt er sich um die Hand, eine Geste, die verlegen und unsicher wirkt. Schließlich geht er zu der Bar unterm DJ-Pult und spricht mit einigen Leuten. Er beginnt zu tanzen - allein. Ich sehe ihm zu. "Ganz in Weiß" kommt. Die Tanzfläche füllt sich etwas. Ich tanze auch, in "meiner" Ecke, weit entfernt von Rafa. Ich sehe, daß er singt. Mitten im Stück hört er auf zu tanzen und zu singen und rennt hinauf zum DJ-Pult, so schnell ihn seine Beine tragen. Durch das Mikrophon singt er weiter sein Stück mit, überlaut und überdeutlich:
"Ja, dann reichst du mir die Hand,
und du siehst so glücklich aus,
ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß,
ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß."
Die Wiederholung der letzten Zeile fügt er frei hinzu. Vermutlich stachelt es ihn noch an, daß ich mir beim Tanzen die Hände vor den Mund halte, weil ich so lachen muß.
Als das Stück vorbei ist, verabschiedet sich Rafa:
"Das war's dann - tschüß."
Dolf ist eher gegangen als Rafa. Sanna begleitete ihn.
"Morgen - 'Elizium'?" fragt mich Talis hoffnungsvoll.
"Nein", antworte ich, "da kann ich noch nicht wieder hin. Rafa soll mich ruhig noch länger vermissen."
Zu Constri sage ich:
"Rafa braucht Grenzen - strenge Grenzen. Er muß merken, daß das, was er tut, Folgen hat. Er kann sich mir gegenüber nicht jeden Unsinn erlauben."
Solche Grenzen zu schaffen und aufrechtzuerhalten fordert von mir eine nicht unbeträchtliche Selbstbeherrschung. Dieser Forderung komme ich gern nach. Ich lerne dadurch, was ich immer schon lernen wollte. Ich übe mich in einem zielgerichteten, selbstsicheren, verantwortungsbewußten Handeln.
Außer mir hat auch Carl beobachtet, wie Rafa in der "Halle" ein zweites Mal in meine Nähe kam und - anstatt zu mir zu gehen - neben der Tanzfläche stand und einen Seidenschal um seinen Arm wickelte.
"Ich glaube, der hat darauf gewartet, daß du zu ihm kommst", sagte Carl.
"Das ging nicht", erwiderte ich. "Er hat eine Freundin."
Derek fuhr in der Frühe noch mit zu uns. Er und Carl vertieften sich am Kaffeetisch in ein Gespräch.
"Du hast ein tolles Bett", fand Derek.
"Ich habe auch ein tolles Sofa", meinte ich. "Sag' nichts gegen mein Sofa."
"Tu' ich auch nicht", sagte Derek und rollte sich auf dem Sofa zusammen. Er war rasch eingeschlafen.
Derek hat mir CD's mitgebracht, darunter "No Rest for the Wicked" von Mentallo & the Fixer. Das Stück "When Worlds collide" gefällt mir besonders. Es ist schwungvolle, leichte, zart-melancholische EBM.
Derek wollte mir im Tankstellenmarkt etwas ausgeben, und ich nahm weiße Dominosteine. Die aß ich, während er schlief und ich am Schreibtisch saß. Derek lag immer noch auf dem Sofa, als mein Vater kurz hereinschaute. Ich zeigte meinem Vater mein Zeugnis und gab ihm auch einen Dominostein. Den Schlafenden in meinem Zimmer bekam er nicht zu sehen.
Zum Frühstück, das bei uns mittags stattfindet, wollte Derek "ganichts".
"Was für ein komischer Mensch", meinte Carl.
"Ich bin kein komischer Mensch. Ich bin Derek."

An meine Träume am Nachmittag kann ich mich nur undeutlich erinnern. Es ging um das, was ich mit Rafas Gefühlsleben anstelle. Ich mußte mit List vorgehen. Rafa durfte nicht merken, was sich anbahnte, denn das löste Furcht und Abwehr bei ihm aus. Ich mußte rasch und ohne Warnung handeln. Rafa war auf irgendeine Art verletzt. Darum hatte ich mich zu kümmern. Das wertete Rafa als Angriff.

Carl berichtete, daß Rafa am Samstag wieder im "Elizium" war. Er stand hinterm DJ-Pult und legte auf. Carl hat ihn nicht zusammen mit seiner Freundin gesehen. Die Freundin tanzte zu einem Stück von Rafa. Carl fragte Xentrix nach der Kassette, die dieser für mich zusammenstellen wollte. Xentrix regte sich sehr auf.
"Die soll nicht immer dich vorschicken!" rief er. "Die soll selber kommen! Man munkelt ja schon allerlei darüber, weshalb die nicht mehr im 'Elizium' ist!"
Was munkelt man? Hat Rafa mit Xentrix über mich gesprochen und dabei einen seiner bühnenreifen Wutanfälle gekriegt? Oder vernachlässige ich gar eine gesellschaftliche Verpflichtung, wenn ich nicht im "Elizium" erscheine?
Derek ist am Samstag ebenfalls dort gewesen. Er bestätigte mir am Telefon, daß Rafa kaum mit seiner Freundin gesprochen hat.
"Er guckte ganz genervt, wenn die ankam. Und dann ging die auch noch früher. Sonst sind die ja immer Hand in Hand weggegangen."
Derek hat auch beobachtet, wie sich Rafa mit zwei Mädchen an einen Tisch gesetzt hat, die den Titel eines seiner Stücke wissen wollten. Die Freundin kam vorbei, warf einen kurzen Blick auf Rafa und ging dann weiter.
Läuft das vielleicht doch nicht mehr so zwischen den beiden?
Carl wußte erheiternde Geschichten. Im "Elizium" soll einem Grufti die Turmfrisur auseinandergefallen sein. Außerdem erinnerte sich Carl an etwas, das er in der "Halle" beobachtet hat. Rafa stand auf einem der Podeste und stritt sich heftig mit jemandem. Immer, immer wieder soll Rafa mit dem Fuß aufgestampft haben, und mit solcher Wucht, daß auf dem Podest alle Tische wackelten.
"Wie ein kleiner Junge", fand Constri, als ich ihr das erzählte.
Es gefällt mir, wenn Rafa sich aufregt. Wutausbrüche können seinen verdrängten Gefühlen einen Weg bahnen. Wenn Rafa vor Wut außer sich gerät, kann die Mauer um ihn zusammenbrechen und die Leidenschaft zum Vorschein kommen. Rafa soll sich noch weiter aufregen ... maßlos. Er soll die Fassung verlieren.
Als ich Constri in ihrer neuen Wohnung besuchte, traf ich dort auch Till. Die beiden waren damit beschäftigt, Constris aktuellen Film zu vertonen. Ich erzählte Till davon, wie wütend Xentrix darüber ist, daß ich so lange nicht mehr im "Elizium" war.
"Ich hab' die übrigens kennengelernt, deine Leute, diesen - Rafa", wußte Till zu berichten. "Der Rafa ist soo dicht an meiner Faust vorbeigelaufen."
Till war kürzlich auf einer Party, bei einem Menschen, der die Leute einlädt, die mit Kappa zu tun haben. Auch Rafa war eingeladen. Till stand gerade mit seinem Freund Lego betrunken im Kücheneingang, als Rafa vorbeikam. Er soll in einem herablassenden Tonfall gefragt haben:
"Können die beiden Technovögel mal aus der Tür gehen?"
Till guckte ihn böse an, und Rafa berichtigte sich:
"Ach, nein, du hast ja eine Metallica-Mütze auf."
Till machte Miene, zuzuschlagen, und Rafa entfernte sich eilig.
"Man darf mir ja viel sagen", meinte Till, "aber mich als Technovogel zu bezeichnen, das geht zu weit."
"Ich kann mir denken, warum Rafa so auf dich los ist", meinte ich. "Vor etwa sechs Wochen hast du mich mal ganz lieb umarmt, weil du Geburtstag hattest und ich dir gratuliert habe. Und Rafa hat das gesehen. Gleich danach hat er mich an der Schulter gepackt und 'Hallo' gesagt, schön auf Abstand. Der ist eifersüchtig. Der weiß ganz genau, mit wem ich was und wer mit mir."
"Hat der dir das erzählt?"
"Das braucht der mir nicht zu erzählen."
"He! Wollen wir den mal ärgern?" schlug Till vor.
"Rafa ärgern?"
"Sicher - indem wir beide mal in der 'Halle' schön miteinander 'rumschwächeln."
"Weißt du, wer mir das auch schon vorgeschlagen hat? Ivo! Der wollte auch mit mir Rafa ärgern. Das mache ich aber nicht. Ich habe Rafa gesagt, daß ich meine Freunde gerne umarme - das weiß der. Ich habe ihm auch gesagt, wo bei mir die Grenze zwischen Freundschaft und etwas anderem liegt, und daran halte ich mich. - Übrigens habe ich Rafa angekündigt, daß ich ihn demnächst essen werde."
"Fein. Grüß' ihn doch mal von den beiden Technovögeln."
"Das wird nicht gehen", vermutete ich. "Der redet am Freitag bestimmt schon nicht mehr mit mir. Der wird ganz kühl sein. Immer, wenn Rafa mir zu nahe gekommen ist, kriegt er anschließend Panik."
"Das kann ich verstehen!" lachte Till.
Als ich ging, umarmte mich Till, und ich sagte:
"Jetzt kannst du ruhig. Rafa ist nicht da."
Übrigens hat Till neuerdings kaum noch mit Ivo zu tun - und ebensowenig mit Valeria.
Es gibt immer wieder Jungen, die mir den Hof machen. Sie erscheinen mir alle viel zu schwach für mich. Ich versuche, ihnen begreiflich zu machen, daß ein Mann an meiner Seite viel zu erdulden hätte. Rafa mute ich das ohne Weiteres zu.
Ich fühle mich ihm in einer Art nahe, die ich nur aus Träumen oder Wachträumen kenne. Ich bin mir furchtbar sicher in ihm. Wann und wo wir uns auch sehen - übergangslos führen wir unser Gespräch weiter, dieses Gespräch, das seit dem Anfang des Jahres fortgesetzt wird wie ein Roman in der Zeitung.
Wir sprechen mit Worten, mit Blicken, mit Gesten.
Es wurde Oktober. Bevor wir zur "Halle" fuhren, hatten wir Gäste - Derek, Talis, Rikka, Constri, Ortfried und U.W. U.W. schenkte mir eine rosa Chrysantheme, die er irgendwo abgerissen hatte.
Ich sprach mit Talis über Rafa.
"Vielleicht merkt der ja langsam, was los ist", meinte Talis.
"Du meinst, was mit ihm los ist."
"Was mit ihm los ist."
"Du meinst, daß Rafa merkt, daß er mich liebt."
Talis bejahte.
Ich machte mich wieder einmal besonders hübsch. Ich suchte ich den Chiffonrock aus, eine durchsichtige Haarschleife und durchsichtige Schnürbänder. Ausnahmsweise trug ich kurze Handschuhe, die nur die Hände bedecken.
Rikka, Talis, Constri und Carl fuhren mit dem Auto zur "Halle". Derek und ich nahmen die Bahn. Am CITICEN stieg Till ein. Er wollte auch in die "Halle".
"Irgendwie habe ich gehört, daß irgendwo heute Rafa in der 'Halle' auftritt", sagte er.
"Ach, das glaube ich nicht", winkte ich ab.
Till erzählte noch ein wenig von der Party mit Rafa. Man ließ Rafa an einer präparierten Zigarette ziehen.
"Da hat's dem voll die Farbe aus dem Gesicht gezogen! Der hat nur gefragt:
'Was ist denn da drin?'"
In der Zigarette soll ein Stoff gewesen sein, der als Sexualdroge Verwendung findet - Poppers.
Till ist kein Kind von Traurigkeit; dennoch scheint er nicht damit zurechtzukommen, daß ich mich für Rafa entschieden habe.
"Es gibt fünf Milliarden Menschen auf der Welt", sagte er auf dem Weg zur "Halle".
"Ja, aber was ist, wenn nur einer davon für mich in Frage kommt?" gab ich zurück. "Den Rafa ... den will ich auf die Matte schmeißen ..."
"He, das sind ja Töne, die kenn' ich noch gar nicht von der Frau!" rief Till.
"Tja, dem Mann, den ich mir aussuche, dem geht's nicht gut."
Es war naßkalt und windig. Der Weg zur "Halle" führt an langen, hohen, dunkelroten Mauern vorbei und ist kaum beleuchtet. Endlich erreichten wir den Eingangsflur. Es riecht dort immer schon nach künstlichem Nebel und Heizlüftern, und man hört das Krachen der Bässe.
"In der 'Halle' wird heute nicht viel passieren", bereitete ich Till und Derek vor. "Rafa wird sich wahrscheinlich wieder verstecken."
Als wir hereinkamen, stand Rafa gerade mit Dolf auf der Bühne - ohne Sängerin. Rafa und Dolf trugen beide schwarze Orienthosen, mit dem Schritt in Kniehöhe, verziert mit weißen Streifen an der Seite, und sie hatten weiße Hemden an. Als Kulisse diente eine schwarze Folie. Ein Glas Bier mit Cola stand auf dem Keyboard. Rafa tanzte wild und schien seinen Auftritt zu genießen. Er hat eine merkwürdige Art, zu tanzen. Er stampft und zappelt und wirft den Kopf hin und her, so daß es aussieht wie ein trotziges "Will aber!". Ich stellte mich gleich nach vorn, ihm unmittelbar gegenüber. Ein Mädchen mit kurzen blonden Haaren, das Hosen trug, stieß mich an und sagte ungehalten:
"Kannst du eben mal aus dem Weg gehen?"
Es machte mehrere Bilder von Rafa. Ich bekam nur noch zwei Stücke mit, weil ich so spät gekommen war. Vor dem letzten Lied - Rafas "Hit", das Stück gegen Videospiele - warf Rafa wieder einmal theatralisch seine Spiegelbrille fort. Ich sah seine ungeschminkten Augen. Ich versuchte, mir einzuprägen, wie seine Augenbrauen aussehen.
Rafa strahlte, als es Beifall gab. Er war gerade beim Abbauen, da ging das Mädchen mit den kurzen blonden Haaren und dem schwarzen Hosenanzug auf die Bühne und redete mit ihm. Ich hatte wieder einen schlimmen Verdacht. Rafa gab sich kühl. Von der Bühne aus winkte er mir lächelnd zu; ich hob daraufhin meine Hand und spreizte die Finger. Sonst tat sich nichts. Einmal ging Rafa an dem Platz vorbei, wo ich saß. Er sprach mich nicht an. Ich sah ihn etwas später bei dem blonden Mädchen stehen.
"Der hat wieder eine Neue, da bin ich mir sicher", sagte ich zu Derek.
"Da kannst du eigentlich deine Hoffnungen auf ihn vergessen", meinte der.
"Eigentlich", betonte ich. "Mein Verhalten folgt immer nur einem Grundsatz: Ich will meinen Gefühlen treu bleiben. Ich kann also nicht gegen meine Gefühle handeln."
Talis erzählte ich auch von meiner Beobachtung mit dem blonden Mädchen.
"Im Moment redet er aber mit der Rothaarigen", sagte er.
Rafa redete mit einer ganzen Reihe von Leuten. Ich sah ihn irgendwann an einem Tisch auf dem Podest sitzen, das als Bühne dient, ganz vertieft in ein Gespräch mit einem Mädchen, das mittellange blonde Haare hatte.
"Welche wird's denn nun?" dachte ich.
Ich fror und ging mit Constri auf die Tanzfläche, weil endlich wieder einige härtere EBM-Stücke gespielt wurden. Währenddessen verschwand Rafa vom Podest und redete mit dem kurzhaarigen Mädchen weiter, hinten beim Teich.
Als wieder ein weicheres, eher kitschiges Stück lief, kam Rafa und tanzte in meiner Nähe, schon in "meinem" Bereich. Ich ging zu dem Geländer vom Podest, setzte mich schön zurecht und sah ihm zu. Im Tanzen wandte er sich häufiger zu mir um und warf mir bedeutungsvolle Blicke zu. Schließlich lächelte er mich sogar an und winkte auch, wie ein Kind seiner Mutter zuwinkt, wenn es Karussell fährt. Ich hob - wie schon oft - meine Hand mit gespreizten Fingern. Rafa machte das "Live long and prosper"-Zeichen aus "Raumschiff Enterprise" - den "interstellaren Gruß". Ich versuchte ebenfalls den interstellaren Gruß, doch er gelang mir nicht. Rafa mußte lächeln und wandte sich wieder ab.
"Black Leather" von Klinik wurde gespielt. Rafa tanzte weiter. Das ist ungewöhnlich für ihn. "Black Leather" ist ein finsteres EBM-Stück und hat einen verruchten Text. Ich tanzte mit Rafa. Bei dem Vor- und Zurücklaufen, das zum EBM-Tanz gehört, sahen wir uns über die Schulter an. Wir blickten erst betont hochmütig und kalt, dann mußten wir beide lächeln. Nach dem Stück reichte Rafa mir die Hand.
"Und?" fragte er. "Wie fandst du unseren Auftritt?"
"Oh, ganz gut. Besonders gut fand ich, daß ihr zu zweit aufgetreten seid."
"Tessa ist nicht mehr dabei."
"Und warum nicht?"
"Warum wohl?"
"Und mit wem bist du jetzt glücklich?"
"Mit mir", sagt Rafa und entfernt sich rasch.
Ich überbringe die Neuigkeit gleich Derek und Talis:
"Er ist mit seiner Freundin nicht mehr zusammen und hat noch keine neue."
Dann gehe ich wieder zu dem Geländer. Hinter dem Podest befindet sich eine große Bar, die schon geschlossen ist. Dorthin geht Rafa und setzt sich auf einen Hocker. Er sieht zu mir herüber und zeigt auf mich. Ich stütze meine Arme auf das Geländer. Rafa winkt. Ich winke zurück. Er zeigt wieder auf mich. Ich gehe über das Podest auf ihn zu, Schrittchen für Schrittchen, automatenhaft wie eine Laufpuppe. Rafa strafft sich, als müßte er erleichtert aufatmen. Dann erhebt er sich kurz und setzt sich wieder. Ich stelle mich vor ihn.
"Na? Was 's' los?" fragt er.
"Das mußt du raten", antworte ich.
"Komm' her", bittet Rafa. "Ich hör' dich so schlecht."
Ich beuge mich zu ihm.
"Also - was 's' los?" fragt er wieder.
"Das mußt du doch immer raten."
"Sag' schon, was 's' los?" wird er ungeduldig.
"Was immer los ist."
"Und was ist das?"
"Das ist immer das gleiche Prinzip", erkläre ich. "Wenn ich dich ansehen kann, sehe ich dich an, solange das geht. Und wenn ich deine Hand halten kann, halte ich sie, solange das geht. Und so geht das weiter."
"Und warum machst du das so?"
"Weil diese Augenblicke so rar sind."
"He! Ich bin nicht mehr als du!" sagt er in einem Tonfall, als hätte er mich aus einem Traum in die Wirklichkeit zurückzuholen.
"Ja", bestätige ich.
"Ich bin nicht mehr als du."
"Ja."
"Du sollst mich nicht so vergöttern", beschwert sich Rafa.
"Das tue ich auch nicht", sage ich ernst. "Ganz sicher nicht."
"Ich bin ganz normal."
"Ja."
"Echt - ich bin ein ganz normaler Mensch."
"Das weiß ich."
"Wirklich, ich bin voll-kom-men uninteressant", versichert Rafa.
Ich lache laut und umarme ihn dabei.
"Warum lachst du?" fragt er.
"Ach, weißt du ... zu Anfang habe ich dich für uninteressant gehalten", erzähle ich. "Aber als ich dich dann kennengelernt habe, wurdest du für mich immer interessanter und interessanter und interessanter."
"An mir ist nichts."
"Doch", widerspreche ich. "Du selber bist an dir."
"Ich bin nichts."
"Doch. Du bist du."
Rafa holt tief Luft.
"Ich bin schwul", will er mich entmutigen. "Ob du's glaubst oder nicht - ich hatte seit fünf Jahren nichts mehr mit einer Frau. Ich war zwei Jahre lang mit Dolf zusammen, und ich liebe ihn noch immer. Ehrlich."
"Das heißt, du schläfst jede Woche mit ihm."
"Ich bin schwul. Wirklich."
"Du hast in den letzten fünf Jahren mehrere Freundinnen gehabt. Du hast Luisa betrogen, dann hattest du etwas mit Inya und dann noch mit mehreren anderen."
"Glaubst du."
"Wie ist es denn aus deiner Sicht?"
"Augenblick mal, warte mal kurz."
Rafa hat Leute entdeckt, mit denen er sich noch unterhalten will. Er folgt ihnen durch einen Spalt in der Zeltplane, mit der die "Halle" ausgekleidet ist. Ich hoffe, daß er wieder zum Vorschein kommt, und tatsächlich - er kommt. Ich bedeute ihm mit Gesten, daß er wieder mit mir in den Winkel gehen möge, in dem sich die Bar befindet. Er guckt seltsam. Er beobachtet, wie ich ihm Platz mache, und er beobachtet, wie ich auffordernd die Hand hebe. Ein Stück weit folgt er mir dann auch in die Nische. Doch bevor er ganz dort ist, wo er zuerst saß, rückt er mir einen Hocker zurecht und fordert mich seinerseits mit Gesten auf, mich zu setzen. Er nickt zustimmend, als ich Platz nehme. Ich sitze nun mit dem Gesicht zur Tanzfläche und damit im Licht der Scheinwerfer. Meine Beine und die von Rafa schmiegen sich aneinander. Ich halte mich im Gleichgewicht, indem ich einen Arm um seine Schultern lege.
"Nun - wie sieht das aus deiner Sicht aus?" knüpfe ich an.
"Woher willst du wissen, ob ich dir die Wahrheit sage?" erwidert Rafa.
"Das kann ich schon herausfinden."
"Wie willst du das herausfinden?" möchte er wissen.
"Ich glaube, ich kann schon beurteilen, wann du die Wahrheit sagst und wann nicht", entgegne ich. "Ich habe dich hunderttausendmal beobachtet und meine Schlüsse daraus gezogen. Ich muß halt überlegen, wohin dein Verhalten dich führt. Ich muß mich fragen, was die logische Weiterentwicklung ist."
"Logisch", sagt Rafa ärgerlich. "Jetzt bist du schon wieder dabei, alles zu digitalisieren. Alles ist bei dir logisch, alles digitalisiert. Du kannst doch mit Logik einen Menschen gar nicht erfassen."
"Aber mit dem Gefühl."
"Gefühl ... wie willst du denn mit deinem Gefühl etwas beweisen?"
"Nichts ist sicher in uns Menschen", sage ich und schließe meine Arme um ihn. "Aber mein Gefühl ist sehr empfindlich. Dem entgeht fast nichts. Ich merke viel ... sehr viel."
Rafa sieht mich aus trüben Augen an.
"Warum lächelst du?" fragt er.
Die Musik geht aus. Der "Hallentanz" ist zuende.
"Das ist so hochinteressant, was ich da sehe", antworte ich leise, fast flüsternd.
Ich muß meine Stimme dämpfen, weil es plötzlich so still geworden ist.
"Was siehst du?" fragt Rafa.
"Deine Augen sind wie Fenster, durch die ich dein Inneres sehen kann."
"Und, was siehst du da?"
"Diese Trauer in deinen Augen, das ist einfach ... hochinteressant", sage ich betont nüchtern, weil es mich so anrührt.
"Trauer hat jeder in seinen Augen", meint Rafa.
"Du hast eine, die gerade ich sehen kann", erwidere ich.
Rafa lächelt, um den traurigen Ausdruck zu überdecken. Sein Gesicht ist sehr nah an meinem. Ich sehe ihn lange an, greife nach seinem Hals und beginne dann, seine Wange zu streicheln.
"Ich muß dich jetzt mal streicheln", erkläre ich. "Ich wollte das schon seit Monaten machen, aber ich habe nie die Gelegenheit dazu gehabt. Ich muß das jetzt nachholen."
Rafa läßt es sich gefallen.
"Was willst du?" fragt er leise.
"Dich", ist meine Antwort.
"Was willst du?"
"Dich."
"An mir ist nichts."
"Doch. Du selber bist an dir."
"Du kannst mich gar nicht sehen", meint er. "Ich habe dir von A bis Z nur Theater vorgespielt. An mir ist nichts echt."
"Das stimmt nicht. Einiges an dir ist echt und einiges nicht."
"Wie willst du herausfinden, was echt ist?"
"Ich hatte von dir etwa fünfzig Träume. Einer war aussagekräftiger als der andere."
"Ach, und nur von deinen Träumen leitest du das ab."
"Und von meinen Beobachtungen."
Ich lehne meine Stirn an seine Wange.
"He - was willst du?" fragt Rafa wieder.
"Dich."
"Ich meine - was ist dein Ziel?"
"Mein Ziel bist du."
"Und? Ich sitz' vor dir; du hast dein Ziel also erreicht."
"Nein."
"Was fehlt dir denn noch?"
"Es stört mich, daß wir uns nie privat sehen."
"Und - was ist, wenn ich davor Angst habe?"
"Warum hast du Angst davor?"
"Ich habe Angst davor", gesteht Rafa.
"Warum?"
"Ich habe halt Angst davor."
"Vor was an mir genau?"
"Vor deiner Art, alles zu digitalisieren", erklärt er. "Alles nimmst du auseinander ... jedes Wort, das ich sage ... jeden Buchstaben ..."
"Was mache ich mit jedem Buchstaben?"
"Hm?"
"Was mache ich mit jedem Buchstaben?"
Er antwortet nicht. Ich lege meine Wange an seine.
"Du interpretierst alles", beschreibt Rafa. "Du analysierst alles. Du nimmst alles auseinander. Das tötet echt jedes Gefühl in mir. Das ... macht echt alles kaputt."
In einer von seinen Händen befindet sich eine brennende Zigarette. Die freie Hand nehme ich und führe sie an meine Wange. Dann streichle ich wieder sein Gesicht und seinen Hals.
"Es gibt hunderttausend Sachen, die ich mit dir besprechen will", erzähle ich.
"Über was soll man mit mir reden?" will Rafa sich wieder abwerten.
"Ich könnte dir hunderttausend Fragen stellen."
"Und?" entgegnet er lächelnd. "Ich antworte auf deine Fragen sowieso nicht. Was hast du dann davon?"
"Du antwortest ..."
"Nein."
"Du antwortest mit deinen Blicken, deinen Gesten, deinen Bewegungen."
Ganz aus der Nähe sehe ich Rafas Profil, das ich so gern anschaue. Seine Augen blicken an mir vorbei. Von der Seite sehen sie aus, als wären sie nur gläserne Puppenaugen. Rafas Haare sind über den Ohren und im Nacken millimeterkurz. Ich streichle die Rasur. Ich mache das sehr langsam. Rafa wendet sich mir zu, schaut wieder weg und wendet sich mir dann wieder zu - ein Verhalten, das ich schon kenne.
"Willst du vermeiden, für jemanden tiefe Gefühle zu haben?" frage ich.
"Ja, unbedingt", gibt er zu.
"Weißt du, daß man dann, wenn man tiefe Gefühle hat, von einem anderen Menschen abhängig wird?"
"Ja."
"Das heißt, wenn du für mich solche Gefühle hättest, wärst du von mir abhängig."
"Ich bin nicht von dir abhängig", meint Rafa. "Ich habe meine Gefühle in der Hand. Ich entscheide, was ich damit mache."
"Hältst du es für möglich, daß es einem nicht bekommt, wenn man gegen seine Gefühle handelt?"
"Ich habe mit meinen Gefühlen einen Pakt geschlossen", sagt Rafa lächelnd.
"Fürchtest du dich davor, daß ich dich durchschauen könnte?" möchte ich wissen.
"Wenn du das könntest, säße ich längst nicht mehr hier", erwidert Rafa. "Dann hätte ich längst - die Fliege gemacht."
"Heißt das, durchschaut zu werden ist für dich das Schlimmste, was es gibt?"
"Ja."
"Vielleicht durchschaue ich dich mehr, als du glaubst."
"Du hast mit mir im Sandkasten gespielt, du hast mich im Kinderwagen durch die Stadt gefahren - wer sollte mich besser kennen als du?"
"Kürzlich hast du noch gemeint, ich würde dich überhaupt nicht kennen."
"Das ist doch dasselbe."
"Das heißt, du bist dir sicher, daß ich dich nicht durchschauen kann", folgere ich.
"Ich bin mir nicht sicher", sagt Rafa. "Ich weiß es."
Ich streiche über sein Haar und das Stirnband, ein schwarzweiß gemustertes Tuch, und fasse nach dem Pferdeschwanz. Rafa schiebt meine Hand mit einer raschen Bewegung zur Seite und scheint an der Spange im Pferdeschwanz etwas richten zu wollen, das ich in Unordnung gebracht habe.
"Gefällt dir das nicht?" frage ich.
"Was?"
"Du hast dich eben gewehrt."
"Du wehrst dich auch", meint Rafa.
"Das heißt, wir wehren uns beide gegeneinander?"
"Hm", bejaht er.
"Das heißt, einer versucht, den anderen fertigzumachen?"
"Hm."
"Das heißt, zwischen uns herrscht ein dauernder Kampf?"
"Nein, ein Kampf nicht", stellt er richtig. "Ein Kampf, das hieße, daß man verfeindet ist."
Wir umarmen uns, und er saugt an meinem Hals. Ich streichle sein Gesicht mit beiden Händen und fasse unter seinen Kragen.
"Warum streichelst du mich eigentlich die ganze Zeit?" fragt Rafa.
"Ich habe immer vorgehabt, dein Gesicht zu streicheln, und ich mache das jetzt", gebe ich zur Antwort. "Ich hatte so lange Sehnsucht danach, und jetzt kann ich es endlich. Ich habe etwas nachzuholen."
"Was ist dein Ziel?" fragt Rafa unruhig. "Was willst du?"
"Dich."
"Was ist dein Ziel?"
"Ich will dich nie mehr verlieren."
"Das ist unmöglich. Ich hatte nie eine Beziehung, die länger war als ... drei Jahre."
Ich lege meine Arme um ihn und sage langsam und deutlich:
"Ich habe einen Verdacht. Ich habe den Eindruck, daß du glaubst, du seist es nicht wert, geliebt zu werden."
"Das stimmt nicht; ich bin wert, geliebt zu werden."
"Mir kommt es so vor, als wenn du dich selbst für wertlos hältst. 'An mir ist nichts', hast du gesagt."
"An mir ist auch nichts."
"Das stimmt nicht. Du selber bist an dir."
"Unser Taxi wartet!" ruft Constri.
"Gleich", sage ich.
"Willst du nachkommen?" fragt sie.
"Ja, ich komme nach."
Sie geht.
"Wirklich, ich habe noch für keinen Menschen stärkere Gefühle gehabt als für dich", sage ich zu Rafa und lehne mich an ihn.
Ich finde es schön, den Stoff seiner Jacke unter meinen bloßen Armen zu spüren.
"Das kann nicht sein, daß du solche Gefühle für mich hast", widerspricht er. "Du baust da etwas auf."
"Das habe ich auch erst gedacht. Ich bin dem nachgegangen. Es ist nicht so."
"Gefühlen kann man nicht nachgehen, das ist es ja gerade. Damit erreicht man genau das Gegenteil von dem, was man erreichen will - man versteht sie nicht."
"Wie kann man sie denn deiner Ansicht nach verstehen?"
"Indem man sie auf sich zukommen läßt."
"Aha."
"Du kannst mit deinem Verstand keine Gefühle verstehen", meint Rafa. "Wenn wir hier über Gefühle reden, und du kommst mit deiner Logik daher, dann ist das ab-so-lut tödlich. Dann passiert gar nichts mehr."
"Ich soll dich also auf mich zukommen lassen."
"Du hast deine Chance schon gehabt."
"Das war keine Chance."
"Doch."
"Nein", widerspreche ich entschieden. "Wenn du mit der Tür ins Haus fällst, kannst du nicht erwarten, daß du bekommst, was du willst. Dadurch, daß du mich andauernd fragst:
'Willst du mit mir schlafen?'
bekommst du mich nicht ins Bett."
"Du meinst den falschen Tag."
"Welcher Tag war es denn?"
"SHG.", nennt Rafa seine Heimatstadt. "Da war noch alles ... einigermaßen normal zwischen uns. Das mit dem Schlafen war eher ... zum Lockern."
"Als ich in SHG. bei dir übernachtet habe, da hat es in mir 'klick' gemacht, und es war um mich geschehen. Und diese Gefühle halten an."
"He, das ist keine Sache für Jahre."
"Es ist eine Sache für Jahre."
"Für Jahre?" fragt er. "Für wieviele Jahre?"
"Das weiß ich noch nicht."
"Woher weißt du dann, daß es für Jahre ist?"
"Es kann für Jahre sein. Auf jeden Fall ist es eine Sache der Gegenwart."
"Und auch der Zukunft."
"Auch der Zukunft", bestätige ich.
"Wo führt das hin?" fragt Rafa, dem unsere Beziehung sinnlos und gleichwohl unheimlich vorzukommen scheint. "Wo soll das einmal enden?"
"Das wirst du sehen."
"Weißt du, wo das einmal enden soll?"
"Du mußt es abwarten."
Rafa holt tief Luft.
"Augenblick. Jetzt hörst du mir mal in Ruhe zu und läßt das, was ich sage, auf dich wirken", bestimmt er. "Und dann höre ich dir zu und lasse das, was du sagst, auf mich wirken. Ist das in Ordnung? Echt, sonst geht das hier nämlich nicht."
"Gut. Sag', was du sagen willst."
"Weißt du, ob ich glaube, daß ich weiß, wie das einmal enden wird?"
"Weißt du's?"
"Also, nein", wird Rafa ärgerlich. "Ich sagte, hör' mir zu."
"Ich höre dir zu."
"Ich habe gefragt: Weißt du, ob ich glaube, daß ich weiß, wie das einmal enden wird?"
"Ja. Und nein. Auf der einen Seite ja und auf der anderen nein."
"Das ist schon wieder ..."
"Du wolltest mir auch zuhören; jetzt hör' mir zu", rede ich gegen ihn an.
Er schweigt, und ich fahre fort:
"Ich glaube, es gibt zwei Dinge, auf die es ankommt: deine Furcht und deine Zuneigung. Wenn deine Furcht vor mir stärker ist als deine Zuneigung zu mir, dann -"
"Was dann?"
"Dann wirst du dich von mir entfernen. Wenn aber deine Zuneigung stärker ist als deine Furcht, kannst du dich von mir nicht mehr entfernen. Und ob das so ist, muß ich herausfinden. Davon hängt alles ab."
"Und - wie soll das dann weitergehen?"
"Das muß man abwarten."
Ich mache eine Feststellung. Immer dann, wenn Rafa sich aufregt und mit lauter Stimme spricht, nähere ich mein Gesicht dem seinen, um seinen Atem zu fühlen. Rafa ist der einzige Mensch, bei dem ich je nach solcher Nähe verlangte.
Kappa kommt mit einem großen Reisigbesen und fegt unter unseren Füßen herum.
"Rafa, kannst du mal ... da vorne sind noch die ganzen Aschenbecher voll", mahnt er. "Die müssen noch geleert werden."
"Gleich", vertröstet ihn Rafa. "Ich komme gleich."
"Aber wirklich gleich. Wir müssen nämlich so langsam."
Kappa geht wieder, und Rafa sagt zu mir:
"Du hast gehört, ich muß noch die Aschenbecher leeren."
"Ach, das hat noch ein paar Minuten Zeit."
"Wie ist das - kommst du morgen ins 'Elizium'?" erkundigt sich Rafa.
"Möchtest du denn, daß ich komme?" frage ich zurück.
"Ich frage: bist du morgen im 'Elizium'?"
"Möchtest du, daß ich komme?"
"Also, wenn ich schon so frage!" seufzt er.
"Es hat nämlich auch schon etwas Ähnliches gegeben", erkläre ich. "Hier in der 'Halle' hast du gesagt, du willst, daß ich ins 'Elizium' komme, und dann warst du selber nicht da."
"Da hatte ich bestimmt nur gesagt, daß ich vielleicht da bin", verteidigt sich Rafa. "Daß es sein kann, daß ich da bin."
"Oh, nein. Du hast gemeint, du wärst bestimmt da."
"Bist du denn nun morgen im 'Elizium'?"
"Ich muß sehen."
"Mensch - du mußt ja dein Taxi kriegen", fällt ihm ein.
"Das ist mir im Augenblick völlig egal", erwidere ich. "Ich komme schon irgendwie nach Hause, ich immer. Mir ist viel wichtiger, daß du mir endlich gegenübersitzt und ich mich mit dir in Ruhe unterhalten kann."
"Wollen wir 'rausgehen?"
"Ja."
"Und was machen wir da?"
"Weiterreden."
"Weiterreden?" fragt Rafa mit einer Stimme, aus der ich Hintergedanken heraushöre. "Und sonst?"
"Das wirst du sehen."
Rafa hat eine Hand auf mein Bein gelegt. Ich streichle sein Bein und auch seine Hüfte. Dann umarme ich ihn wieder und bemerke:
"Du schaffst es einfach nicht, mich zu besuchen."
"Weil ich Angst habe!"
"Angst muß man doch aber auch mal überwinden."
"Ich habe Angst", sagt er trotzig. "Ich habe eben Angst."
"Hast du denn in deinem Innern den Wunsch, zu mir zu kommen?"
"Ja, den habe ich schon."
"Du würdest also schon ganz gerne zu mir kommen."
"Ja."
"Dann komm' doch einfach mal."
"Ich weiß nicht, was mich da erwartet."
"Komm' halt einfach mal und sieh', was dich erwartet."
"Ich weiß nicht, was mich bei dir erwartet, und davor habe ich Angst."
"Fürchtest du dich vor deinen Gefühlen?"
"Ich kann mich vor meinen Gefühlen nicht fürchten, weil ich sie in der Hand habe."
"Ich glaube, daß du jeden Tag einen Kampf mit deinen Gefühlen ausfichtst."
"Ich kämpfe nicht mit meinen Gefühlen", erklärt Rafa. "Ich kann sie beeinflussen. Das heißt, meine Gefühle kann ich nicht beeinflussen. Aber ich kann beeinflussen, inwieweit sie mich beeinflussen."
"Hältst du es für grundsätzlich unmöglich, daß du zu mir kommst?"
"Dein Verhalten macht es unmöglich", beklagt er sich. "Soll ich mal so mit dir umgehen, wie du mit mir umgehst?"
"Ja."
"Echt - soll ich?"
"Ja."
"Du - dann bist du nach drei Minuten tot", warnt er.
"Mach' es", fordere ich ihn auf. "Mach' es."
"Dazu muß ich erst Aggressionen aufbauen."
"Ach, du meinst, mein Verhalten dir gegenüber beruht auf Aggressionen."
"Das sage ich nicht. Ich sage, ich müßte Aggressionen aufbauen, um mich so verhalten zu können wie du."
"Du hast mich sehr verletzt. Das weißt du."
Rafa senkt den Kopf.
"Sicher - ich war nicht immer der Unschuldsengel", gesteht er ein.
"Siehst du, und das konnte ich nicht so einfach auf sich beruhen lassen."
"Ach - und das ist deine Rache dafür?" folgert er.
"Das ist keine Rache", entgegne ich sogleich.
Ein Junge läuft an uns vorbei.
"Rafa!" ruft er. "Ist das nicht die Falsche?"
"Du weißt gar nichts!" ruft Rafa und wendet sich dann wieder mir zu.
Ich streichle seine Wangen und lächle ihn an.
"Warum lächelst du?" fragt er.
Ich kann es nicht verhindern, zu lächeln, wenn ich seinen seltsam traurigen Blick sehe. Ich habe den Eindruck, in meinen Gefühlen bestätigt zu werden. Ich bin mir sicher in ihm. Ich glaube, daß das, was ich tue, nicht umsonst ist.
"Das ist Zuneigung", erkläre ich.
"Was bedeutet das, was du sagst?" möchte Rafa wissen.
"Die Wahrheit", antworte ich ernst. "Einfach die Wahrheit."
"Das ist nicht echt."
"Das ist echt."
"Das kann nicht echt sein."
"Ach, das ist wieder, weil du nicht glaubst, daß dich jemand liebhaben könnte."
"Nein, nicht deshalb", meint er. "Das ist, weil das bei dir nicht echt sein kann."
Er ist aufgestanden und geht um meinen Schemel herum.
"Ach, du meinst, daß ich keine tiefen Gefühle haben kann", vermute ich.
"Nein", ist Rafa überzeugt. "Du bist dafür ... zu kalt, zu logisch."
"Das stimmt nicht", erwidere ich und stelle mich vor ihn. "Ich habe sehr starke Gefühle. Ich muß aber ein wenig Ordnung hineinbringen, weil sie mich sonst zerstören."
"Ordnung, genau", seufzt er.
"Sie zerstören mich sonst", will ich ihm begreiflich machen.
Kappa kommt noch einmal vorbei und drängt:
"Rafa! Wir haben hier unten schon alles gemacht. Aber da oben muß noch die ganze Anlage abgebaut werden. Das wäre gut, wenn du das jetzt mal erledigen könntest. Wir müssen hier auch langsam Schluß machen."
"Das hat noch ein paar Minuten Zeit", findet Rafa.
"Echt, ich meine, ich will dich hier jetzt nicht irgendwie stören, aber das müßte jetzt schon langsam ...", sagt Kappa und entfernt sich wieder.
Rafa schiebt seine Finger zwischen meine und umschließt fest meine Hände. So kann er erfolgreich verhindern, daß ich ihn weiterstreichle.
"Für wie stark hältst du mich?" frage ich. "Für wie ausdauernd hältst du mich?"
"Du glaubst wahrscheinlich von dir, daß du stark bist."
"Und was glaubst du?"
"Daß du schwach bist."
"Und du bist nicht schwach?"
"Das mußt du am besten wissen", meint Rafa. "Ich sage ja: da du mit mir im Sandkasten gespielt hast, weißt du genau über mich bescheid."
"Fällt es dir nicht auch schwer, Gefühle zu zeigen?"
"Nein."
"Das heißt, du zeigst die immer frei heraus."
"Ich kann selber entscheiden, wieviel ich davon zeige. Du, du bist ... eine Sklavin deiner Gefühle. Ich kann entscheiden, was ich aus meinen Gefühlen mache."
"Was hast du für ein Verhältnis zu dir?"
"Ein gutes", sagt Rafa und lächelt. "Ich bin mein bester Freund."
"Das hörte sich eben noch anders an."
"Kommst du morgen nun ins 'Elizium'?"
"Es kann sein, daß du nicht kommst. Du hast dich jetzt sehr weit in meine Nähe gewagt, und vielleicht kriegst du deswegen bald solche Panik, daß du erstmal Abstand suchst."
Ich sehe Rafa an und frage mich, ob ich mir diesen Menschen zu eigen machen kann und darf.
"Du lebst so sehr in mir, daß du mir gar nicht mehr fremd werden kannst", lasse ich meine Empfindungen sprechen.
"Was?" fragt Rafa und beugt sich zu mir herunter.
"Du lebst so sehr in mir, daß du mir gar nicht mehr fremd werden kannst", wiederhole ich.
"Warum willst du unbedingt durch eine Tür gehen, wo ich der Schlüsselmeister bin?" kommt da von ihm.
"Gibt es denn auch eine, wo du nicht Schlüsselmeister bist?" frage ich.
"Ja."
"Und wo ist die?"
"Die findest du nicht", behauptet Rafa.
Er zieht mich an sich.
"Rafa!" ruft der Junge von vorhin. "Hast du da nicht die falsche Frau? Oder die richtige, weiß ich auch nicht ..."
Rafa drückt mich mit aller Kraft, und auch ich drücke ihn an mich, so fest ich kann. Seine Hände fassen unter meine Achseln, und er tut einen gewagten Griff nach meiner Oberweite. Dann zieht er für die Dauer eines Lidschlags mein Becken an seines heran, als wolle er etwas überprüfen. Gleich danach läßt er mich los.
Rafa scheint sich davor zu fürchten, daß sein Verlangen nach mir überhandnimmt. Er berührt mein Gesicht mit seinen Lippen und greift nach meinem Kinn. Ich warte ab, was geschieht. Rafa streicht mir kurz über die Wange. Dann löst er sich ganz von mir und sagt:
"Also - tschüß. Bis morgen im 'Elizium'."
Ich erwidere nichts.
"Also - tschüß", sagt er noch einmal.
Ich nicke und gehe zum Ausgang. Nachdem ich mir ein Taxi gerufen habe, kommen Kappa, dessen Freundin und Rafa ebenfalls in den Vorflur.
"Tschüß - bis morgen im 'Elizium'", sagt Rafa.
Wieder nicke ich stumm. Wir gehen zur Außentür und erkennen, daß sie bereits verschlossen ist.
"Ich weiß, wo's noch 'rausgeht!" ruft Rafa und rennt uns voran.
Am Ende der Bar, vor der Rafa und ich uns unterhalten haben, befindet sich eine weitere Tür, und die ist offen. Wir gelangen zum Parkplatz. Ich warte auf das Taxi und sehe dabei zu, wie die drei anderen ins Auto steigen.
"Also, morgen im 'Elizium'!" ruft Rafa.
"Hoffentlich", sage ich.
Kaum sind die anderen fort, kommt mein Taxi auch schon.
Endlich habe ich Rafas Gesicht gestreichelt. Ich hoffe, daß ich ihn beim nächsten Mal ohne Handschuhe streicheln kann - vorausgesetzt, es gibt ein nächstes Mal.
Derek hat übrigens auch aus erster Quelle erfahren, daß Rafa und die Sängerin sich getrennt haben. Derek sah die Sängerin in der Nähe der Toiletten. Sie erzählte einem anderen Mädchen, daß mit Rafa Schluß sei.
In der darauffolgenden Nacht war Rafa wirklich nicht im "Elizium". Ich hielt die Verabredung ein; ich habe mir also nichts vorzuwerfen. Die Musik, die Xentrix spielte, war anspruchsvoller als sonst. Es kam sogar ein Stück von Mentallo & the Fixer, die edle Electronic Body Musik machen, EBM neuen Stils, elegant, mit spitzen Höhen.
Ich fragte Xentrix nach der Kassette, die er mir aufnehmen wollte. Statt einer Antwort fragte er vorwurfsvoll:
"Wann warst du das letzte Mal im 'Elizium'?"
"Am 25. July", antwortete ich sogleich, und das muß ihn doch ziemlich erstaunt haben.
Ich tanzte viel mit einem, der war ganz in Leder gekleidet und sah sehr schick und fein aus. Er sprach mich an und wollte mich kennenlernen. Sein Name ist Ted. Er ist achtundzwanzig Jahre alt und wohnt in Ht. bei BO.; er geht häufig ins "Fall". Vom Tanzen und von der Musik ist er ebenso begeistert wie ich, und er ist auch schon seit vielen Jahren in der Szene. Wir wollen uns demnächst fürs "Fall" verabreden.
Außer Ted hatte ich auch Derek, Lena und Lenni zur Gesellschaft. Ich war froh und erleichtert darüber, wieder ins "Elizium" gehen zu können, nun mich Rafa darum gebeten hatte.

In einem Traum war die Szene versammelt auf einem großen, luxuriösen Schiff. Es ging zu einem Gothic-Tanz-Treffen. Die Aufzüge im Schiff waren nicht ohne Hindernis zu gebrauchen. Wenn sich die Türen öffneten, sah man statt der Kabine eine Wand aus schwarzem Stahl, undurchdringlich. In Augenhöhe gab es ein Fensterchen, hinter dem schwamm ein vielfarbiger Dunst, blitzendes, flackerndes Licht in blauem Nebel. Durch dieses Fenster mußte man in den Aufzug hineintauchen wie in eine fremde Welt.
Der Aufzug war ungefähr so groß wie ein Mensch. Vor dem stand ich und glaubte nicht, daß ich in ihn hineingehen könnte. Aber die schwarze Masse gab nach, ohne daß ich begriff, wie es möglich war. Ich geriet in eine Kabine, in der mehrere Menschen bequem stehen konnten. Die Kabine hatte teppichbespannte Wände, und in ihr herrschte ein bläulich flirrendes Dunkel. Meine Willenskraft trieb mich in den Aufzug hinein, sooft ich es versuchte. Es gelang mir jedesmal, ihn zu betreten. Ich konnte sogar noch anderen Leuten hineinhelfen. Dabei hatte ich kaum Zeit. Die Türen blieben nur für wenige Sekunden geöffnet.
Ich fuhr zu dem Deck hinauf, in dem sich die Bar befand. Rafa kam auf mich zu und begrüßte mich mit Handschlag. Dann ging er zu einem Stuhl und setzte sich. Ich schaute ihm von hinten über die Schulter und fragte:
"Mit wem bist du denn jetzt glücklich?"
Rafa zog eine Fotografie aus der Tasche und reichte sie mir. Ich sah das Portrait eines blonden, kindlich blickenden Jungen.
"Mit dem bin ich zusammen", erzählte Rafa. "Er ist noch sehr jung. Er lebt bei einer alten Tante, bei der darf er fast nichts."
Constri rief mich zum Essen.
"Ich komme nach", sagte ich und sprach weiter mit Rafa.
Jemand trug ein Geschöpf vorbei, das war so gut wie tot. Es war eine Art Foetus. Ich folgte dem Menschen, der es trug, in einen Operationssaal. Das Geschöpf wurde auf einen Tisch gelegt, und man versuchte die Reanimation. Ich stand mit anderen Schwarzgekleideten in Ausgehtracht daneben. Ich war mir nicht sicher, ob ich mit anfassen sollte. Es waren genügend Leute da, die die Sache bewältigen konnten; also ließ ich es. Ob die Wiederbelebung erfolgreich war, fand ich allerdings nicht heraus. Ohnehin war das Wesen nicht sehr menschenähnlich.
Ich blieb in der Nähe des Tisches stehen und aß Süßigkeiten. Rafa setzte sich in eine Ecke des Operationssaals und trank viel und unterhielt sich. Ich betrachtete ihn. Ich konnte kein richtiges Mittagessen zu mir nehmen.
Die Ballgäste tanzten auf der Straße. Rafa saß wieder in einer Ecke und trank und redete. Es gab Mädchen, die über mich lästerten.

Der Fahrstuhl im Schiff war eine fremde Welt, die auf Knopfdruck zu mir kam. Ich vergleiche Rafa mit einer fremden Welt, die ich erforsche. Er saß in der "Halle" vor mir, schwarz und scheinbar nicht zu erreichen. Ich sagte zu ihm, seine Augen seien Fenster, durch die ich sein Inneres sehen könnte. Im Traum konnte ich sein Inneres nicht nur sehen, sondern auch betreten und steuern. Etwas scheinbar Unmögliches machte ich durch die Kraft meines Willens möglich. Ich konnte mich in Rafa hineinversetzen und ihn dadurch erfüllen und Macht über ihn gewinnen.
Das halbtote unreife Fremdwesen, das wiederbelebt werden sollte, bringe ich gleichfalls mit Rafas Wesen in Verbindung. Es könnte sein, daß mit dem, was ich tue, etwas Totgeglaubtes in ihm wieder zum Leben erweckt wird.

In einem anderen Traum ging ich in einer großen, weiß gekachelten Damentoilette in eine Kabine. Eine Frau ging mit ihrem Kleinkind in eine andere Kabine. Ich hörte sie rufen:
"Rafa! Das ist ja furchtbar mit dir!"
Eine ganze Weile ärgerte sie sich mit dem launischen, quengeligen Kind herum.

Ich muß Rafa wirklich als sehr unreif erleben, als besonders erziehungs- und zuwendungsbedürftig. Und ich muß mich unlösbar an ihn gebunden fühlen.
Rafa wird im Laufe seines Daseins noch eine ganze Reihe von Freundinnen haben, lauter sichere, bequeme Freundinnen, vor denen er sich nicht fürchten muß.
Sichere und bequeme Freundinnen können Rafa nichts entgegensetzen. Er wird in einer solchen Beziehung immer etwas vermissen. Er kann tun, was er will; er stößt nicht an Grenzen.
Ich lasse Rafa an Grenzen stoßen. Ich ergreife ihn. Ich trete in Verbindung mit ihm. Rafa und ich haben uns eine eigene Sprache geschaffen, eine eigene Welt. Rafa kann diese Welt nur an meiner Seite betreten. Ich verlange von ihm etwas, das er von sich aus nicht in dieser Weise tun würde. Ich verlange von ihm, sich auf sich selbst und seine Gefühle einzulassen. Ich verschaffe ihm Zugang zu einem Teil seines Wesens, den er allein nicht erreicht. Etwas Entsprechendes macht er mit mir.
Anfang Oktober hatte ich folgenden Traum:

Die verschneite Autobahn
Eine Studienfahrt war zuende. Es war dreizehn Uhr. Ich nahm meine Sachen und verabschiedete mich von der Reisegruppe. Für meinen Heimweg wählte ich eine gefährliche Abkürzung. Ich ging über eine schneebedeckte Wiese und betrat eine Autobahn. Das Wetter war trübe, und es schneite unaufhörlich. Ich hatte feine Schuhe mit Ledersohlen an und schweres Gepäck, und die Betonfahrbahn war glatt.
Die Spuren bis zum Mittelstreifen überquerte ich schnell. Sie waren frei; in der Ferne zeigten sich nur wenige Autos. Als ich über den Zaun in der Mitte gestiegen war, wurde die Sache schwierig. Gewaltige Tanklaster zischten dicht an mir vorbei. Ihnen folgten lange Autokolonnen. Ich zählte die Fahrspuren, die vor mir lagen. Es waren erst drei; dann bildete sich noch eine vierte. Die Autos fuhren mit hoher Geschwindigkeit. Kaum war am Horizont ein Paar Scheinwerfer aufgetaucht, war das Auto auch schon so nah, daß ich nicht mehr vor ihm über die Spur kam. Als ich die erste Spur endlich hinter mich gebracht hatte, mußte ich wieder stehenbleiben. Einige Autos hielten an, und ich kam hinüber und stand vor der dritten Spur. Ich begriff, wie leichtsinnig ich gewesen war.
Auf der zweiten und dritten Spur kamen Fahrzeuge ins Rutschen und stellten sich quer. Ich sah ein jüngeres Mädchen hinter mir herlaufen. Es hatte ebenfalls an der Studienfahrt teilgenommen. Ich hatte dem Mädchen von der Abkürzung erzählt und es so dazu verführt, sich in Gefahr zu begeben. Ich lotste das Mädchen vor den verkeilten Autos über die dritte Spur, und wir standen vor der vierten. Da rauschte wieder ein Tanklaster vorbei. Er war so groß, wie ich noch keinen gesehen hatte. Er war himmelblau und in seiner Größe einem Flugzeug ähnlich. Ich lachte beinahe.
"Das auch noch", sagte ich zu mir.
Als der Tanklaster fort war, gingen wir weiter und erreichten die sichere Böschung.
"Geschafft!" dachte ich und setzte mit dem Mädchen in aller Ruhe meinen Weg fort.

"Du weißt ja gar nicht, wie gefährlich das für dich ist, was du tust", hat Rafa gesagt, als er mit mir im Mai draußen auf der Bank saß.
Er hat gemeint, ich könne seinetwegen "auf die Schnauze fliegen". Die Fahrbahn in meinem Traum war so glatt, daß mir das durchaus hätte passieren können. Es passierte aber nicht.
"Ich komme schon nach Hause, ich immer", habe ich am letzten Freitag in der "Halle" zu Rafa gesagt.
In meinem Traum wählte ich einen ungewöhnlichen, gefährlichen, verbotenen Weg - und erreichte doch das Ziel. Wieviele Hindernisse mußte ich überwinden ... Ich fühlte mich an Videospiele erinnert, die in jeder Runde schwieriger werden.
In einem Traum Mitte Oktober ging es ebenfalls um Gefahren und um eine Aufgabe für mich:

Der Rätselraum
In einer Villa in Spanien lebten vier Abkömmlinge des Satans, zwei Frauen und zwei Männer. Einem Mann, Sastre, gehörte die Villa. Er war ein dunkler Typ im gestreiften Anzug und knapp fünfzig Jahre alt. Seine junge Geliebte hieß Edetta.
Acht Menschen wurden in die Villa eingeladen, unter ihnen Talis, Derek, mein Vater, Lena und ich. Wir wurden in einen hohen, annähernd quadratischen Raum geführt. Darin war ein Obstgarten angelegt. In der Mitte stand ein großer Apfelbaum. Um ihn herum standen noch zwei weitere Apfelbäume und ein Pflaumenbaum. Eine niedrige Hecke bildete die Grenze des Gartens. Die Obstbäume sahen künstlich aus. Sie waren von unwirklicher Schönheit. Ihre fein geschwungenen, goldgrünen Zweige erinnerten an Computerbilder von Fraktalen. Der Garten ähnelte einem virtuellen Garten Eden, einem Scheinparadies. Sastre sagte uns, der Raum stelle ein Rätsel dar. Aus dem, was in ihm sei, könne ein Sprichwort zusammengefügt werden.
Wir acht Menschen wurden in dem Raum festgehalten. Wir sollten so lange dort bleiben, bis einer von uns auf des Rätsels Lösung kam. Wir hatten die Schlüssel zu dem Raum, konnten ihn aber nicht verlassen, weil ein Bann auf uns lag. Von allen Seiten wurden wir mit Kameras beobachtet. Man verpflegte uns fürstlich. Das Essen wurde in silbernem Geschirr hereingefahren. So erging es auch den Physikern in Dürrenmatts Drama. Sie lebten in einem Scheinparadies und wurden gepflegt, überwacht und mißbraucht. Sie sollten für eine Besessene etwas schaffen, das sie selbst nicht schaffen konnte. Sie sollten durch die Lösung eines Rätsels dem Bösem zum Sieg verhelfen. Wahrscheinlich konnte auch Sastre das Rätsel um den Garten nicht selbst lösen. Dafür spricht, daß er uns Gefangene sehr unter Druck setzte. Er kündigte an, daß jedesmal, wenn ein Tag vergangen sei, ohne daß das Rätsel gelöst wäre, einer von uns sterben solle. Um uns seine Macht spüren zu lassen, gab er uns den Befehl, auf den großen Apfelbaum in der Mitte zu steigen.
"Das ist doch kein Urlaub!" rief mein Vater unwillig. "Ich dachte, wir sind hier im Urlaub!"
"Papa", seufzte ich müde, "wir sind hier nicht im Urlaub. Wir sind in eine Menschenfalle geraten und befinden uns in Lebensgefahr."
Meine Begleiter kletterten alle auf den Baum. Ich als Einzige blieb unten. Der Böse hatte über mich keine rechte Gewalt, und ich merkte das. Nicht zuletzt deshalb hatte ich meinen leichten Mantel anbehalten. Ich fühlte, daß ich nicht lange in der Villa bleiben würde. Ich lief im Gras herum und dachte nach.
Zum Essen durften die Gefangenen von dem Baum herabsteigen. Edetta rief öfters nach Lena und geleitete sie in ein Nebenzimmer. Lena mußte mit ihr essen und wurde von ihr beschenkt. Während des Mahls erfuhr Lena, auf welche Art man sie foltern würde. Edetta beschrieb es ihr ausführlich. Als Lena einmal wieder zu uns zurückkam, trug sie schwarze Badteppiche, auch diese Geschenke von Edetta. Lena fragte eine von uns, eine Dame im mittleren Alter:
"Sie wollen doch für mich schreien, wenn man mir ein bißchen wehtut?"
"Sicher, aber - warum fragst du das jetzt?" wollte die Dame wissen.
"Der Fall könnte bald eintreten", antwortete Lena.
Was mich besonders aufbrachte, war die Schicksalsergebenheit, mit der Lena alles hinnahm, was man ihr antat. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, sich zu wehren oder nach einem Weg zu suchen, der Gefahr zu entgehen.
Eine unfaßbare Wut ergriff mich.
"Oh Gott", sagte ich, "oh Gott, Lena."
Ich wandte mich an die Gruppe:
"Es geht nicht mehr darum, ein Rätsel zu lösen. Es geht darum, hier herauszukommen, wie auch immer."
Ich beratschlagte mit der Dame, was zu tun sei. Sie war der Ansicht, daß nur ein Teufelsbeschwörer helfen könne. Den mußte ich finden in dem spanischen Bergdorf, in dem die Villa stand. Im äußersten Winkel des Gartens gab es einen Durchlaß in der Hecke, und dahinter tat sich die Mauer auseinander. Der Weg nach draußen war offen, doch nur für mich.
Die Dame wünschte mir Glück. Ich kam auf einen Bürgersteig, der lag im hellen Sonnenlicht.
"Ich allein könnte fliehen", dachte ich, "aber dann müßten die anderen sterben."
Ich ging ein Stück den Bürgersteig abwärts. In einem Laden fand ich Menschen, die deutsch sprachen, doch sie sahen mir nicht aus wie Teufelsbeschwörer. Ich hoffte, daß der Teufelsbeschwörer deutsch sprach, denn ich kann kein spanisch. Die Wahrscheinlichkeit, in einem Mittelmeerland, wo viel Aberglaube und Wunderglaube herrscht, einen Teufelsbeschwörer zu finden, hielt ich für nicht allzu gering. Daß aber in dem einsamen Bergdorf jemand deutsch sprach, mußte selten sein.
In einem Hauseingang mit weiß gekalkten Wänden sah ich einen alten Mann auf einer niedrigen Treppe sitzen. Er saß da wie in einem Wohnzimmer. Eine Frau stand bei ihm am Herd. Sie berührte meine Schulter und zeigte auf den Mann. Er sah zu mir hoch und fragte:
"Ist's wegen dem Bösen?"
"Es ist wegen dem Bösen", bestätigte ich.
"Dann setzen Sie sich", lud er mich ein.
Neben ihm lag ein Handtuch auf der Treppe. Darauf sollte ich sitzen, damit mir nicht kalt würde. Der Mann schien mich schon erwartet zu haben.

Ich hatte ihn gefunden, den Teufelsbeschwörer. Ich hatte den Schlüssel gefunden zu unserer Rettung. Der Satz, der aus dem Rätselraum gebildet werden konnte, fügte sich wie von selbst zusammen:
"Erlöse uns von dem Bösen."
Weshalb sah ich mich in diesem Traum im Kampf mit einer dunklen Macht? In welcher Gestalt droht das Böse? Was ist es, das allein ich besiegen kann?
Rafa fühlt sich von Dämonen bedroht, und er hat mir die Fähigkeit zugeschrieben, ihn davor zu beschützen. Vielleicht sind die Dämonen ein Sinnbild für eine wirkliche Gefahr.
Ich will seine Hand nehmen, als gelte es, ihm Beistand zu leisten.