.

Mitte August war ich im "Mute". Dort traf ich Zara, Ace und deren gemeinsame Tochter Leonie. Leonie hat das Gesicht von Zara und die dunklen Haare von Ace. Vor zweiundzwanzig Jahren, als Zara und Ace das erste Mal zusammen waren, kam Leonie zur Welt. Ace verließ Zara daraufhin. Er erklärte, er wolle Zara noch, aber nicht mit Kind. Nach zwanzigjähriger Trennung kehrte Ace zu Zara zurück. Die beiden sind seit Februar dieses Jahres verheiratet. Zara erzählte, daß sie in den Jahren, in denen sie von Ace getrennt war, den Kontakt zu ihm nie völlig abgebrochen hatte.
Berit erinnerte sich an Rafas frühere Sängerin Tessa. Sie fand Tessa immer schmuddelig und ordinär. Sie habe nie verstanden, weshalb Rafa es für nötig befunden habe, sich mit einem so billigen und verkommenen Geschöpf wie Tessa abzugeben. Ich meinte, das hätte ich auch nie verstanden.
In einer E-Mail erzählte Victoire, daß ihre Labortätigkeit in WÜ. sie sehr vereinnahmt. Sie bekommt häufig Anrufe von Shara, der bedauert, daß sie sich von ihm getrennt hat. Victoire erinnert ihn immer wieder daran, daß er bereits eine andere Freundin hat.
Mit Icon und Tron unterhielt ich mich in E-Mails über die "Salix"-Party und die C64-Szene. Tron schilderte seine Eindrücke:

Darienne ist nicht Berenice, da liegen Welten zwischen. Und irgendwie war ich doch überrascht, wie jung und "unweiblich" sie doch aussieht. Ansonsten war es in meinen Fall aber wie auch sonst meistens auf den Parties, dass ich nicht sehr viel mit Rafa und in diesem Fall Darienne geredet habe, unsere Interessen überschneiden sich nicht sehr stark. Es war schon immer eher so, dass wir eher gemeinsame Bekannte haben, als dass "wir" uns kennen.

An Icon mailte ich meine Eindrücke von Rafas aufgegebenen Internetseiten - unter anderem die, auf der Rafa eine "Neue Welt" beschwört:

Oh je, alles Baustellen.
Jedenfalls, wenn Rafa wirklich das Tor zur "Neuen Welt" kennenlernen will, würde ich ihm meine eigene Internetseite empfehlen (die zu lesen traut er sich ja leider nicht).

Zen schickte mir eine Videokassette mit dem "Salix"-Erinnerungs-Film. In dem Film sind auch Rafa und ich beim Quiz zu sehen. Rafa kokettiert mit der Kamera und winkt immer wieder hinein. Es sieht aus, als wollte er sich dadurch in Szene setzen und zugleich seine Unsicherheit überspielen. Von der "Salix"-Seite konnte ich viele Erinnerungsfotos herunterladen und die Filmdateien, die Tron gemacht hat.
In der Samstagnacht kam ich gegen viertel vor zwölf in den "Fallen Angel" in HI. Ivco war da mit Dolf, Duncan - einem seiner Bekannten - und seinem Freund Laurence aus HD. Dolf befaßte sich die meiste Zeit mit einem hübschen, zierlichen Mädchen, das ich nicht kannte. Die beiden wirkten sehr verliebt. Dolfs frühere Freundin Eden war nicht anwesend.
Als es Mitternacht wurde, hatte Dolf Geburtstag. Er kam zu Duncan, Laurence, Ivco und mir an einen runden Tisch. Das zierliche Mädchen ging mit einem brennenden Puppenlicht in der Hand auf Dolf zu, der das Puppenlicht auf den Tisch klebte. Zwischen den beiden gab es viel Turtelei, und sie gingen mitsamt der Kerze zur Theke. Schließlich kam Dolf zurück und hob sein Glas. Die anderen hoben ebenfalls ihre Gläser.
"Du hast nichts?" fragte Dolf mich.
"Nein."
"Willst du was?"
"Ja, gern."
"Was denn? Sekt?"
"Am liebsten Sekt mit O-Saft gemischt."
Dolf verhandelte mit der Kellnerin, der eine solche Mischung unbekannt war, und brachte mir das Gewünschte. Wir stießen alle miteinander an.
"Ach", fiel Dolf ein, "ich muß erstmal mein Lebenslicht ausblasen."
Er ging zur Theke, wo das Puppenlicht brannte.
"Hoffentlich hat er das nicht wörtlich gemeint", kommentierte Ivco.
Laurence, Ivco und ich spielten einige Runden Tischfußball. Der Beste von uns war Laurence, der auch dann stets siegte, wenn er allein gegen Ivco und mich spielte.
Ivco gab mir die Fotos, die er mir versprochen hatte, Abzüge in guter Qualität mit vielen Erinnerungen an die Zeit von 1992 bis 1993. Auch von Rafas Bühnenshow im Juni 1993 zu "Ganz in Weiß" waren Bilder dabei. Häufig war Rafa mit Spiegelbrille oder tief ins Gesicht hängenden Ponysträhnen zu sehen, auf einigen Bildern jedoch sieht man seine Augen klar und natürlich. Rafa wirft sich auf vielen Bildern in Pose und wirkt dadurch unsicher auf mich. Rafa scheint auf den Fotos zu versuchen, eine Illusion zu verkörpern; er scheint jemand sein zu wollen, der er nicht ist. Die Frauen, die mit Rafa abgebildet sind - Luisa, Tessa, Inya und Felicitas - scheinen die Rolle eines austauschbaren Beiwerks zu spielen. Glücklich sind sie mit Rafa alle nicht geworden. Das ist offenbar bei Darienne nicht anders. Ivco erzählte, ihm sei aufgefallen, daß Darienne häufig schlechte Laune habe. Mich erinnert das an Tessa, die ich so oft mit grämlicher Miene in einer Ecke habe sitzen sehen, weil Rafa sich nicht um sie kümmerte.
Zu der Musik im "Fallen Angel" meinte Dolf, da er schon dreimal habe tanzen können, habe sich der Abend auf jeden Fall gelohnt. In der hinteren Area, wo wir uns meistens aufhielten, liefen einige selten gespielte Klassiker, darunter "A day" von Clan of Xymox, "The last film" von Kissing the Pink, "Baby turns blue" von den Virgin Prunes, "Sinking down" von Snowy Red und "Soldier Soldier" von Spizzenergi.
Im "Fallen Angel" traf ich viele Leute wieder, die früher ins "Elizium" gegangen sind. Julienne ist inzwischen mit Armin liiert, dem Postboten, und sie ist zu ihm nach BS. gezogen. Sie erzählte von ihrer Arbeit als Physiotherapeutin. Wie ich betreut auch sie Schlaganfall-Patienten. Armin leidet an Bluthochdruck, und sie achtet darauf, daß er seine Medikamente nimmt, weil ihm sonst ebenfalls die Gefahr eines Schlaganfalls droht. Julienne muß hilflos zusehen, wie ihr Vater seine Gesundheit durch Alkohol und Zigaretten zerstört. Sie nimmt an, daß er bald sterben wird, wenn er sein Raucherbein nicht amputieren läßt.
Ich erzählte, daß Rafa sich auch selbst tötet durch exzessives Rauchen. Ich erzählte außerdem, daß Rafa und ich uns seit zwölf Jahren kennen, daß er sich aber nie für mich entschieden hat. Das habe vielleicht damit zu tun, daß er sich vor mir fürchte; er sage selbst, er fürchte sich nur vor zweierlei: vorm Fliegen und vor mir.
"Das würde ich ohne Weiteres als Kompliment auffassen", meinte Julienne.
Sie freue sich, hier viele alte Bekannte zu treffen. Ich sei diejenige, die sie am längsten kenne, vom Sehen aus dem "Puzzle" in BS. Bereits 1988 sei sie dort gewesen. Sie sei in GS. aufgewachsen, und von dort aus sei es nach BS. nicht weit. In GS. sei heute kaum noch etwas los. Nur Corvus Corax sollen dort Jahr für Jahr ein Open-Air-Konzert geben.
Dorgath sagte zu mir, ich würde heute unheimlich gut aussehen, und falls er es mir schon gesagt habe, sage er es eben nochmal.
Luc erzählte, daß er sich im Bühnen- und Ausstellungsbau selbständig gemacht hat und davon leben kann. Das Bühnenbauen werde schlecht bezahlt, sei aber seine Leidenschaft. Alles andere, was er aufbaue, bringe viel mehr ein, sei für ihn aber nur Broterwerb.
Damian und ich schauten uns den Film "Meet the Feebles" an, der im Hintergrund mit einem Beamer an die Wand geworfen wurde. Wir versuchten uns an das zu erinnern, was die seltsamen Plüschwesen sagen, weil der Film wegen der Tanzmusik ohne Ton lief. "Meet the Feebles" ist eine schräge, tabubrechende Parodie des Show Business, voll makabrem Humor und Tragikomik.
Hagan traf ich auch im "Fallen Angel". Er meinte, seine Beziehung mit Tamina sei gescheitert, weil er zu viel gekifft habe. Häufiges Kiffen führe zu Motivationsmangel und Gleichgültigkeit.
Am Montag fuhren Constri, Denise und ich nach Langeoog. Der Urlaub fiel in die wenigen schönen Tage des Monats. Im Café des Meerwasser-Wellenbades entdeckte Denise in der Kinder-Spielecke einen Spielzeugpapagei, dessen Batterie alle war.
"Tarie it alle", stellte sie fest.
Sie wollte den Papagei mitnehmen, weil ihr Vater ihn heile machen sollte. Derek wechselt auch immer die Batterien in Denises Sandmännchen-Puppe aus.
Constri erzählte drollige Geschichten von Denise. Neulich bat Denise Constri im Supermarkt, ihr eine winzige Teewurst zu kaufen. Constri kaufte ihr die Teewurst, und Denise begann, damit eifrig zu telefonieren. Erst rief sie ihren Vater an, dann den Hund Flex. Mit Flex unterhielt sie sich über dessen Lebensalltag, auch das Wort "Körbi" kam in Denises Telefonat vor, ihr Wort für das Hundekörbchen. Dann wollte Denise einen blauen Fahrradhelm haben. Constri meinte, sie wolle erst ihre Mutter fragen, was für eine Größe die richtige sei. Denise nahm die Teewurst, rief ihre Großmutter an und sagte dann zu Constri, die Emi - so nennt sie sich für Denise - sei der Meinung, der blaue Helm sei schon der richtige.
Wir machten Filmaufnahmen im schattigen Inselwald. Constri lief mit Denise auf dem Arm zwischen den Bäumen hindurch. Beide trugen helle Kleider mit etwas Grün, passend zu der grünen, verwunschen wirkenden Umgebung.
Bei Sonnenuntergang machten wir Aufnahmen am Strand. Constri ging mit Denise ein Stück ins Wasser und hob sie in die Höhe. Die beiden hatten sich in Sandfarben gekleidet, Denise trug ein helles Cordröckchen mit Trägern. Vor drei Jahren, als Constri Denise erwartete, haben wir auch im Sonnenuntergang am Strand gefilmt. Die damaligen und die jetzigen Aufnahmen will Constri für ihren Abschlußfilm verwenden; sie plant, Anfang des nächsten Jahres ihr Diplom zu machen.
Darienne hat ihr Profil bei der Online-Szene-Kontaktbörse wieder einmal geändert. Statt des Fotos, das Rafa und sie in einem Hotelzimmer in OB. vor einem Spiegel zeigt, sieht man jetzt ein posiertes Foto von Darienne. Statt des Fotos, auf dem Darienne am Heck einer Kanalfähre aufs Wasser blickt, sieht man jetzt eines, wo sie auf der "Salix" neben Rafa am Rechner sitzt - das heißt, er arbeitet mit dunkler Brille geschäftig am Rechner, sie schaut ihm zu. Das Bild kommentiert sie mit:

Salix 2005 ... *wirr*

Nach wie vor bezeichnet sie sich als "verliebt", nicht als "vergeben". Sie beantwortet noch mehr Fragen zu ihrer Person, neben denen nach der Zahl der Piercings und Tattoos auch die nach "Fetisch / Vorlieben":

Vinyl, schicke Frisuren, tolle Autos und Männer in Anzügen ...

Letzteres kann man wohl auf Rafa beziehen, der seit Jahren auf der Bühne einen Anzug trägt oder zumindest etwas, das ungefähr so aussieht.
Die Frage "Was bringt Dich zum Lachen?" beantwortet Darienne mit:

Dummheit des Geschmeißes ...

Dies könnte sich auf die Einträge in dem Gästebuch auf Dariennes Homepage beziehen. Noch immer wechseln sich in diesem Gästebuch Bewunderung und Kritik ab. Als Darienne in einem Eintrag mit "Wow!" gelobt wird, kommentiert "Sweet Sin":

Also: Ich weiss ja nicht, wo bei diesem billigen pinken hohlen Barbiepüppchen ein "wow" stecken soll?!
Das Einzige, was ich darin stecken sehe, ist Arroganz und ein nicht vorhandener Charakter, der sich nicht mal zeigen kann!
Mädel ...
Du sollst nicht versuchen, die lebendige kitschige Gothic-Puppe zu werden, sondern dich selbst präsentieren ...!
Ausserdem kann ich nicht verstehen, wie du nur so arrogant gegenüber anderen Menschen sein kannst ...!
Du bist einfach nur jämmerlich!!! Tut mir leid ...

"Miss Randy" schreibt:

Hey,
deinen "Begrüssungstext" fand ich recht amüsant, hier geht es ja echt krass ab in deinem GB.
Ich habe mir natürlich auch deine Bilder angeguckt, und ich find sie teilweise sehr ästhetisch (ojee, irgendwie so wird das geschrieben, oder?).
Dein Stil imponiert mir in der Hinsicht, dass du sehr einfallsreich bist. Aber ich will mich nicht weiter dazu äussern, weil ich denke, dass du das selbst weißt.
Aber wie ... waaaah ... wie kann man so eine makellose Haut haben??!!!! Bin total neidisch *g* ... oder ist das viel, viel Make up? Würde mich echt interessieren ... auch will!! *grmpf*
l.g. Miss Randy

"Phylicia" schreibt:

Also Murmel, ich glaube, du bist einer der wenigen Menschen, die hier in das Gästebuch schreiben, die versuchen, nach innen zu blicken. Das gefällt mir. Hier werden wir mit unserem Tiefsinn nur leider nicht weit kommen, da hier nichts von Besonderheit und Schönheit zu finden ist. Eigentlich ist es arm, dass wir hier ständig einen vom Stapel lassen, so ist es doch letztendlich reine Zeitverschwendung, da sich "Miss-Ich-bin-hässlich-doof-und-muss-das-übermalen" wahrscheinlich beim Lesen ins Fäustchen lacht und sich freut, dass überhaupt jemand schreibt ... wie dem auch sei, die Alte braucht ja schließlich mal für ihre verhurte Intrigenspinnerei die Retourkutsche. Also gilt es ihr klar zu machen, dass ihre Zukunft, nämlich eine Zukunft aus Plastik, keine Zukunft ist, da Plastik aus Öl hergestellt wird und das von Weil zu Weil doch immer knapper wird. Für alle anderen: HIER SPRICHT NICHT DER NEID, SONDERN TIEFSTE VERACHTUNG!!! Ich kenne sie NICHT NUR durch diese Seite. So ist es allgemein bekannt, dass man nicht unter 7 kg Schminke im eigenen Gesicht mit ihr in ein Gespräch kommen wird, denn Lady-Ich-habe-auch-nur-Plastik-im-Gehirn hält sich anderenfalls für etwas Besseres und meidet den Umgang ... sich dann so im Internetz zu präsentieren, ist das Einzige, was ihr bleibt, da der Charakter doch sehr zu wünschen übrig lässt ... Traurig. Schaut hinter die Fassade, bevor ihr eure VORURTEILE darlegt ...
Auf Wiederhören

"Murmel" schreibt:

@Phylicia: Na ja, Zeitverschwendung würd ich's nicht nennen ... aber sie wird da sitzen und lachen. Ihr Grund, unsere Worte ins Lächerliche zu ziehen, ist bestimmt nicht, weil sie drüber steht, sondern weil sie es nicht begreift. Na ja, die anderen sind auch nicht besser, und die Resonanz auf meine Meinung find ich auch sehr oberflächlich. Na ja ... wie auch immer ... viele liebe Grüße dir
Murmel

"Hinterwäldler" schreibt:

sehr schön ...
doch sehr schön ...
aber...
WE WANT SORAYA BACK

In Dariennes Forum gibt es inzwischen außer ihr selbst drei Mitglieder. Kritische Stimmen fehlen dort bisher, es gibt nur einen bewundernden Eintrag.
In einer E-Mail an Ivco sprach ich noch einmal Rafas Angst vor dem Fliegen an:

Wenn Rafa sich vorm Fliegen fürchtet, was ist, wenn tatsächlich das von ihm so herbeigesehnte Raumschiff in die von ihm beschworene "Neue Welt" aus seinem C64 schwebt und ihn mitnehmen will? Das Einsteigen traut er sich doch dann nicht, oder?

Ivco antwortete:

Rafas Angst vorm Fliegen liegt nicht in der Technik begründet, sondern in den Piloten. Er hat 'mal erzählt, dass er ihnen nicht traut. Es ging um Konzerte in Brasilien: die wären erst möglich, wenn er einen Flugschein machen würde und selbst fliegen könne. Dann könne er alles selbst kontrollieren und sicher sein, dass alles (Technik und menschliches Verhalten) in Ordnung sei. Übertragen auf das Raumschiff in seinen Liedern bedeutet das dann ja, dass er selbst der Pilot sein müsste ...

Ich mailte:

Ja, in Beziehungen will Rafa ja auch immer alles kontrollieren. Deshalb sucht er sich nur Frauen, die er nicht liebt, denn wenn man jemanden liebt, ist man auch auf die Liebe des anderen angewiesen und hat nicht mehr allein alles unter Kontrolle. Die Bewunderung eines Groupies zu steuern (z. B. Darienne) ist hingegen einfach.
Ja, stimmt, wenn Rafa seine Angst vorm Fliegen nur auf den Piloten bezieht, könnte er sein Raumschiff selber fliegen und hätte das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Das ist natürlich nur eine bedingte Kontrolle, den Technik ist auch nicht in jeder Hinsicht berechenbar.

Tron und ich mailten über frühe elektronische Musik, das hypnotische Meisterwerk "Klingklang" von Kraftwerk und das Pionierwerk "Switched on Bach" von Carlos und Folkman. Tron erschuf für mich eine Sounddatei mit einer C64-Computerstimme, die sagt:
"Weißt du, wieviel Sternlein am Himmel stehen? Weißt du, wieviel Wolken gehen weithin über alle Welt?"
In einer anderen Datei läßt Tron die Computerstimme sogar lachen, ein monotones "Ha-ha-ha-ha".
Rafa läßt eine solche Computerstimme in dem experimentellen Stück "Schneemann" sagen:
"Wir bauen einen Schneemann, und die Sonne scheint dazu."
"Schneemann" hätte für Rafa der Aufbruch sein können auf dem Weg zu anspruchsvoller Musik. Rafa jedoch entschied sich für plakative Seichtigkeit. Er hoffte, auf diese Weise den großen Durchbruch zu erreichen, kam aber nicht über den Ruhm einer trashigen Retro-Truppe hinaus.
Tron und ich unterhielten uns über den Unterschied zwischen Rafa und einem "richtigen" Schlagersänger. Ich meinte, ein echter Schlagersänger könne süßliche Texte und Melodien souveräner und überzeugender darbieten als Rafa, zu dem seine eigene Musik nicht so recht passen wolle.
Azura erzählte in einer E-Mail von den Geschichten, die sie vor einigen Jahren gemeinsam mit einer Freundin geschrieben hat. Sie hätten sich ein eigenes Universum erschaffen. Irgendwann seien ihnen die Ideen ausgegangen. Als Dateien gibt es diese Geschichten nicht, weil sie von Hand geschrieben wurden. Ich mailte dazu:

Ja, früher habe ich auch nur in Hefte und Bücher reingeschrieben. Dann habe ich festgestellt, daß mich das entsetzlich handicapt, weil ich nicht flexibel mit den Texten arbeiten kann. Also mußte ich komplett auf digital umstellen, mir blieb keine Wahl. Es war Schluß mit der Schreibkultur mit Ledereinband, Goldschnitt und schwarzer Tinte. So ästhetisch es ist, es behindert einen bei der Weiterverarbeitung des Materials und bei der Verbreitung. Jetzt findet Ästhetik nur noch online statt.

Mit Constri, Denise, Merle, Elaine und Carl war ich Möbel kaufen, für Elaine und für Merle. Carl erzählte, daß er seine alte Liebe Saverio Anfang August im "Verlies" getroffen hat. Saverio umarmte ihn und schien sich über das Wiedersehen zu freuen. Allerdings hat Saverio schon wieder eine Freundin. Carl macht sich bei Saverio keine Hoffungen mehr auf ein Coming out.
Hinnerk, ein langjähriger Bekannter von Carl, hat sich mit HIV angesteckt. Jahrelang hat Hinnerk ungeschützt mit vielen Männern Verkehr gehabt, und nun ist es gekommen, wie es zu erwarten war. Carl erzählte, daß er Hinnerk immer nur als Kumpel wollte, nicht als Sexualpartner, deshalb habe er mit ihm nichts angefangen. Hinnerk soll übrigens so weitermachen wie vorher und seinen Sexualpartnern verschweigen, daß er HIV-infiziert ist. Sein Leben ändert Hinnerk nur insofern, als er von seiner Berufstätigkeit als Orchestermusiker in die Erwerbsunfähigkeitsrente überwechselt.
Merle ist mit ihrem Ein-Euro-Job im Kindergarten zufrieden, doch leider sind diese Stellen befristet und gehen im seltensten Fall in reguläre Beschäftigungsverhältnisse über.
Im Möbelhaus kehrten wir im Restaurant ein. Wegen einer Durchsage ging ich zur Information und wurde in ein Hinterzimmer geführt, wo eine Mitarbeiterin lag, der schwindelig geworden war. Ich erfragte, daß sie fast nichts gegessen und getrunken hatte. Sie war zu warm angezogen, weil sie das Wetter kälter eingeschätzt hatte. Nun liefen ihre Kollegen und holten ihr etwas zu trinken und zu essen. Ich bekam als Dankeschön einen Restaurantgutschein, den ich einlöse, wenn ich wieder mit Merle hinfahre. Auf die Tische der Mitarbeiter im Verkauf wurden Wasserflaschen gestellt, damit sie nicht auch zusammenbrachen.
Elaine hat ein Foto von Constri und Denise gemacht und die beiden herzförmig ausgeschnitten. Das Herz schenkte sie Constri.
Am Abend fuhren Constri, Denise und ich zu Bertine und Hakon. Bertine feierte ihren Geburtstag in dem neu erworbenen Haus, ein helles, freundliches Reihenhaus am Rande eines Naturschutzgebietes. Bertine und Hakon sind das Risiko des Hauskaufs eingegangen, weil sie eine Familie gründen wollen.
Nachts war ich im "Restricted Area", wo Cyra und Linux auflegten. Timon erzählte von dem Sommerfestival in HI. Dieses Mal seien bestimmt dreißigtausend Gäste dort gewesen, und es sei wie in den vergangenen Jahren ohne Krawalle und Drogenexzesse abgelaufen. Bei Veranstaltungen in der Wave-, Gothic- und Elektro-Szene gibt es fast nie Ausschreitungen, so daß sich schon das Security-Personal beklagt haben soll, weil es keine Schlägereien gebe und sie sich langweilen müßten. Auf anderen Festivals hingegen - wie etwa im Mainstream-Bereich - sollen Gruppenbesäufnisse mit Schlägereien gewissermaßen vorprogrammiert sein. Timon und ich malten uns aus, wie es bei manchen Open-Air-Festivals zugeht:
"Da können die bestimmt schon nicht mehr laufen, wenn sie ankommen! Die kommen mit Bullis, die sind voller Besoffener und Paletten, und einer ist der A..., der muß fahren. Aber daß der auch Schlagseite hat, merken die anderen gar nicht, weil die zu sind. Denen geht's nicht um Musik und Kultur, denen geht's ausschließlich ums Saufen. Die gehen oft gar nicht erst aufs Festivalgelände, sondern liegen neben dem Bulli und saufen die Paletten leer! Und die wälzen sich im Schlamm und pinkeln zwischen die Zelte ... und nach dem Festival müssen die meisten ihre Kumpels fragen, wie es war, weil sie für das gesamte Festival einen Filmriß haben ... das ist für die eine Art Fortsetzung der Bundeswehrzeit."
Timon erzählte, daß er bei der Bundeswehr das "Gasmaskenkiffen" kennengelernt hat. Vorne wird ein Loch in den Filter der Gasmaske gemacht, durch das der Joint geschoben wird. Gekifft wird mit aufgesetzter Gasmaske.



Am Samstagabend war ich bei Sarolyn und Victor. Victor feierte Geburtstag. Sarolyn und Victor freuen sich auf ihr erstes Kind, das im Frühjahr zur Welt kommen soll. Vor ihrer Schwangerschaft hat Sarolyn noch den Blauen Gürtel in Karate gemacht.
Auf Victors Party sah ich nach vielen Jahren Yodo wieder. Er berichtete, er habe sich von seiner Frau getrennt, und damit gehe es ihm besser. Es war eine fragwürdige Zweckheirat.
Nachts war ich im "Keller", wo es nach Monaten wieder eine Tanzveranstaltung gab. Vorher war ich bei Ivco, der echten brasilianischen Caipirinha servierte, mit Zuckerrohrschnaps. Für mich mischte er den Caipirinha mit weniger Schnaps und tat dafür Ginger Ale hinein. Er bereitet für seine Frau Carole den Caipirinha ohne Alkohol zu, nur mit Ginger Ale, weil sie schwanger ist.
Für den "Keller" hatte ich das rotschwarze Denim-Korsett angezogen und einen rotschwarzen Tüllrock, den ich im Juli in KI. in einem Laden gekauft habe, wo es Comics und Zubehör für Rollenspiele gibt.
Gegen Mitternacht kamen Ivco und ich zum "Keller". Vorm Eingang begrüßten wir W.E-Forum-Mitglied Irith. Eine Bude stand im Hof, und viele Leute waren hier draußen in der lauen Sommernacht. An diesem Wochenende war Stadtfest in SHG., und viele Stadtfestbesucher schauten im "Keller" vorbei. Unten war reger Betrieb. Tyra umarmte mich zur Begrüßung. Darienne war im Schankraum, doch eilte sie, als ich eben angekommen war, in den Tanzsaal hinüber.
Ace und seine Frau Zara waren heute auch im "Keller". Zara machte Erinnerungs-Fotos; Rafa hatte sie darum gebeten. Rafa stand am DJ-Pult - in dem gemauerten Kohlenbehälter -, und Darienne setzte sich daneben - dort, wo Tyra während der letzten Tanzveranstaltung im Februar gesessen hatte. Darienne bewegte sich kaum noch von ihrem Platz weg. Mit grämlicher Miene harrte sie dort aus und schien Rafa bewachen zu wollen.
Darienne war schlicht gekleidet, mit rosa Blüschen und enger Hose, doch war sie - wie zumeist - sehr stark geschminkt und hatte sich zahlreiche künstliche Wimpern angeklebt; wie ihr Gesicht tatsächlich aussah, war kaum zu erahnen.
Rafa setzte seine Brille mit den blauen Gläsern mal auf, mal ab. Er trug ein langärmeliges schwarzes T-Shirt mit Celtic-Motiv und ein schwarzes Halsband.
Es gab heute einen Karaoke-Wettbewerb, der mich an Rafas Geburtstagsfeier erinnerte. Ace sang mit Hingabe "Tainted Love" von Soft Cell. Rafa machte nach Aces Auftritt eine Durchsage und verhaspelte sich dabei:
"... denn ... dann ... denn ..."
Ich sagte durch das Gitter am Rand des DJ-Pults zu Rafa:
"... denn ... dann ... denn ..."
"Ich rede so, weil ich gerade eine CD wechsele", erklärte Rafa durchs Mikrophon.
Rafa schäumte über vor Huldigungen an Ace; er sagte nach Aces Auftritt durchs Mikrophon, es sei eine ganz außergewöhnliche Ehre, daß Ace als Radiomoderator hier im "Keller" in SHG. Karaoke sang. Ich fand Rafas Getue unerträglich, doch ich war darauf eingestellt und erwartete nichts anderes. Im Grunde strich Rafa sich selbst heraus, indem er andere Leute in übertriebener Weise herausstrich. Er tat, als würde er andere loben, beweihräucherte sich aber in Wahrheit selbst.
Bei seiner Karaoke-Moderation verwendete Rafa auffällig oft die Vorsilbe "Spezial-", in passender oder unpassender Weise. Es scheint mittlerweile eines seiner Lieblingswörter zu sein, ebenso wie "perfekt". Da fielen Begriffe wie "Spezial-Gewinner", "Spezial-Preis", "Spezial-Gast" und was sonst noch zu kombinieren oder nicht zu kombinieren war.
Xenon trug Rafas Stück "Deine Augen" beim Karaoke vor. Xenon konnte den Text und sang sehr sicher. Er gewann den ersten Preis, Ace den vierten. Als Preise gab es CD's.
Rafa sagte durchs Mikrophon, eigentlich müßte Ace noch einmal exclusiv Karaoke singen. Das Publikum klatschte Ace zu und feuerte ihn an. In all dem Frohsinn saß Darienne mit starrer Miene in ihrer Ecke neben dem DJ-Pult.
Rafa sagte durchs Mikrophon, der vierte Platz sei kein besonderes Lob für Ace. Deshalb gebe es jetzt noch "Say hello, wave goodbye" von Soft Cell.
"Immerhin ist Ace der Einzige gewesen, der uns im Radio gespielt hat", sprach Rafa die Zeiten an, als Ace eine Independent-Musiksendung moderierte und sowohl Musik von W.E als auch Interviews mit W.E brachte.
Ace trug "Say hello, wave goodbye" von Soft Cell vor. Das Publikum sang begeistert mit.
"Das war eine hervorragende Vorstellung", lobte ich, als Ace sich auf eine Bank gesetzt hatte.
"Ich habe direkt Lust auf nochmal", meinte Ace.
Das Publikum rief nach einer Zugabe. Rafa sagte durch Mikrophon:
"Mensch, das klingt ganz danach, als wenn Ace nochmal 'ran muß."
"Mensch, das ist doch eine Zugabe wert", meinte ich.
"Zu welchem Lied?" fragte Ace.
"Von den Buggles, 'Video killed the radio star'", schlug ich vor. "Am besten wir beide gemeinsam."
"Aber das ist doch gar kein Duett."
"Ach, wir singen das Lied einfach gemeinsam."
"Du kannst Rafa ja mal fragen."
"Nein, er darf ja mit mir nicht reden, wenn er irgendwelche Frauenzimmer hat."
Ace schien es dann doch nicht so wichtig zu sein, ein drittes Mal aufzutreten.
Nach dem Karaoke-Wettbewerb schickte Rafa Darienne in den Schankraum, um Getränke zu holen, so daß sie ihn für kurze Zeit nicht beobachten konnte. Rafa hatte wohl bemerkt, daß ich in der Nähe saß. Er drehte mir den Rücken zu und entblößte sein Hinterteil. Ich lief auf ihn zu und rief mit einem freundlichen Lächeln:
"Wie schön, daß du dich für mich ausziehst. Die anderen Klamotten ziehe ich dir gerne auch noch aus."
Rafa ahmte meine Stimme nach und rief irgendetwas, das ich nicht verstand. Ich ging wieder zu meinem Platz.
Es war sehr heiß, und ich fächelte mit einem schwarzen Sandelholzfächer mir und meinen Gesprächspartnern Luft zu.
Während ich auf der Bank rechts vom DJ-Pult saß und Rafa betrachtete, fing er an, hinterm DJ-Pult Luftsprünge zu machen. Rafa hüpfte in die Höhe, wedelte mit den Armen - ohne erkennbaren Anlaß. Das setzte sich minutenlang fort. Ich fühlte mich daran erinnert, wie Rafa einmal im "Mute" am DJ-Pult so herumgesprungen ist. Einen erkennbaren Anlaß gab es damals auch nicht. Ähnlich war an beiden Situationen nur Folgendes: ich war noch nicht lange in der Location und betrachtete Rafa.
"Dancing with myself" von Billy Idol wurde von Rafa als "absolutes Spezial-Stück" angekündigt. Auf der Tanzfläche verbeugte sich ein Jeansträger vor mir, und wir tanzten mehr oder weniger miteinander.
Als Rafa zwischendurch das DJ-Pult verließ, rannte er geschwinde durch den Tanzsaal und ebenso eilig wieder zurück. Er hielt sich nur selten außerhalb des Kohlenbehälters auf.
Langeweile brauchte ich im "Keller" nicht zu haben; ich traf viele Bekannte und unterhielt mich ausgezeichnet. Ich lernte die W.E-Forum-Mitglieder Cyris, Xenon und W.O.L.F. persönlich kennen, die ich vorher nur aus dem W.E-Forum und dem W.E-Chatroom kannte. W.O.L.F. lebt in der Nähe von DD. und übernachtete heute bei Xenon.
W.O.L.F. erzählte von seinen Selbstwertproblemen. Er wolle immerzu anderen helfen, aber wenn er Hilfe brauche, sei keiner für ihn da. Ich empfahl ihm, vorzugsweise denjenigen Leuten zu helfen, die sich auch um ihn kümmerten. W.O.L.F. meinte, es gebe leider nur wenige Menschen von dieser Sorte. In der Schule sei er gehänselt worden, deshalb finde er sich häßlich und fühle sich minderwertig. Ich entgegnete, so etwas solle er bloß nicht glauben. Er sehe völlg normal aus, wie andere Leute auch. Außerdem sei jeder Mensch um seiner selbst willen etwas wert. Er solle sich nicht unterkriegen lassen. W.O.L.F. erzählte, er habe sich schon darin geübt, sich durchzusetzen, und es sei ihm gelungen, ein bißchen selbstbewußter zu werden. Dennoch laste die Selbstwertstörung so sehr auf ihm, daß er manchmal Selbstmordgedanken habe, weil er nicht wisse, wie er sich helfen könne. Ich meinte, Kreativität sei ein erfolgversprechender Weg, sich selbst zu helfen. W.O.L.F. erzählte, daß er diesen Weg auch für sich entdeckt habe. Er schreibe Gedichte und mache Musik. Gemeinsam mit Xenon arbeite er daran, eine Website ins Leben zu rufen. Ich erkundigte mich, ob er seine kreativen Werke dort online stellen werde. W.O.L.F. verneinte dies; er vertraue dem Internet nicht mehr, seit er habe feststellen müssen, daß jemand ihm seine musikalischen Ideen abkupferte. Außerdem sei es nicht seine Art, eigene kreative Erzeugnisse zu veröffentlichen; er sei zu schüchtern.
W.O.L.F. entschuldigte sich, er sei länger nicht zum Schreiben von E-Mails gekommen, weil er keine Zeit hatte. Ich erzählte, daß ich das Problem mit der Zeit auch habe.
"Du kriegst sicher viele E-Mails", meinte W.O.L.F. "Du bist nämlich eine Hübsche."
"Danke für das Kompliment."
Als wir auf Rafas Freundinnen zu sprechen kamen, meinte W.O.L.F., Berenice habe etwas Besseres verdient als Rafa. Sie sei so lieb.
W.O.L.F. vermutete, Rafas menschenverachtender Umgang mit Frauen liege wohl auch an seinem Ruhm.
"Nein", entgegnete ich, "nein. Rafa war schon vorher so. Der ist schon immer so gewesen, von Anfang an."
"Ihr kennt euch wohl schon lange."
"Oh ja, seit zwölfeinhalb Jahren persönlich und vom Sehen noch viel länger."
W.O.L.F. hat den Eindruck, daß Rafa versucht, etwas anderes zu sein, als er ist. Das falle besonders auf, wenn Rafa Konzerte gebe.
"Woran hast du das gemerkt?" erkundigte ich mich.
"Rafas Verhalten auf der Bühne ist immer gleich", schilderte W.O.L.F., "über Jahre hinweg völlig gleich. Daran habe ich gemerkt, daß das eine Fassade ist."
"Dann hast du aber eine sehr gute Menschenkenntnis."
"Ja, leider."
"Nicht 'leider'", sagte ich bestimmt. "Das ist was sehr Gutes und Wichtiges."
Rafa sagte durchs Mikrophon, die bisherigen Karaoke-Auftritte müßten nicht die letzten sein; wer wolle, könne sich noch dafür anmelden. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte. Tyra jedenfalls schien keine Lust dazu zu haben. Während ich überlegte, begann zwischen Darienne und Rafa ein Streit, der sich bis zur Bühnenreife steigerte. Was den Streit ausgelöst hatte, erfuhr ich nicht. Es wurde gemunkelt, Rafa habe mit Tyra zu Pfingsten in L. etwas gehabt, und darüber rege sich Darienne auf; vielleicht hatte sie heute davon erfahren. Ich weiß, daß Rafa am Pfingstmontag mit Tyra und ohne Darienne in L. unterwegs war; von daher konnte es passen.
Darienne schrie Rafa an, der bemüht war, sein DJ-Set ohne Unterbrechung fortzuführen. Darienne schrie lauter und lauter. Rafa unterbrach ihr Schreien durch gelegentliche Einwürfe, die durchaus heftiger ausfallen konnten. Immer wieder jedoch sah ich Rafa zufrieden vor sich hinlächeln. Darienne drehte sich schließlich zum Fenster. Sie krümmte sich, schlug die Hände vors Gesicht und wirkte fassungslos und verzweifelt. Rafa verließ nach einer Weile aufgebracht den Saal. Er hatte Zeit genug, auf der Tanzfläche so langsam und so dicht an mir vorbeizugehen, daß ich ihn in Ruhe vom Hals bis zur Taille streicheln konnte. "Sex Dwarf" von Soft Cell lief gerade; darauf folgte ein weiteres Stück von Soft Cell, "Favourite Mutant", und ich blieb auf der Tanzfläche. Rafa kam zurück und ging wieder so dicht an mir vorbei, daß ich ihn streicheln konnte, und ich bemerkte:
"Entzückend."
Darienne tat mir zwar leid, weil sie auf Rafa hereingefallen war, doch mit ihrer Arroganz hatte sie sich die Möglichkeit verbaut, eher vor Rafa gewarnt zu werden. Vielleicht hätte sie ohnehin alle Warnungen in den Wind geschlagen, verblendet, wie sie war.
Der Streit zwischen Rafa und Darienne setzte sich fort, indem sie schrie und er am DJ-Pult auflegte. Immer wieder drehte Darienne sich zum Fenster, stand dort wie versteinert, dann rang sie die Hände, drehte sich erneut zu Rafa und schrie ihn an.
Tyra war viel auf der Tanzfläche. Ihre Stimmung war niedergeschlagen. Einige ihrer Freundinnen waren hier, mit denen unterhielt sie sich häufig. Erst zu vorgerückter Stunde gelang es mir, ein wenig mit Tyra zu plaudern. Sie saß neben mir auf einer Bank. Schließlich schaute sie mich an, mit Tränen in den Augen, und lächelte. Ich fragte sie, wie es ihr ging, und sie antwortete:
"Nicht so gut ... als Frau mit gebrochenem Herzen ..."
"Mich kann man nicht zerbrechen", sagte ich.
"Das ist gut", meinte sie und lächelte wieder.
"Vorhin habe ich mich mit W.O.L.F. unterhalten", berichtete ich. "Er hat mir von seinem Selbstwertproblem erzählt. Er hat gesagt, daß er sich selber häßlich findet und glaubt, er sei nichts wert."
"Waas?"
"Ja, der hat solche Selbtwertprobleme, daß er sogar schon Selbstmordgedanken gehabt hat."
"Ach", war Tyra betroffen, "das habe ich nicht gewußt."
"Ja, und als er mir das erzählt hat, bin ich voll sentimental geworden, und deshalb bin ich heute sentimental."
Herr Lehmann begrüßte mich freundlich. Er war vorwiegend mit seiner Freundin beschäftigt und befaßte sich nur selten mit Darienne. Darienne schien auch nicht eben den Kontakt zu anderen Leuten zu suchen; sie saß meistens allein da. Xenon ging einmal zu ihr und nahm sie mit auf die Tanzfläche. Sie tanzte etwas und zog sich dann wieder zurück. Ivco holte Darienne auch einmal auf die Tanzfläche. Lange hielt sie es da auch nicht aus. Von sich aus tanzte sie fast überhaupt nicht.
Ich war häufig auf der Tanzfläche. Rafa spielte viele Klassiker, darunter "Decay" von Twice a Man, "Secret" von OMD, "Safety Dance" von Men without Hats und "Shout" von Tears for Fears.
Rafa kaute längere Zeit Kaugummi; später ging er wieder zu den gewohnten Zigaretten über. Auch Darienne rauchte viel.
Im "Keller" verteilte ich Informationen über "Im Netz" und - auf Wunsch - einige Visitenkarten. Zara und Ace bekamen welche, ein Bekannter von Ivco und auch Tyra, die mich um meine E-Mail-Adresse bat, bevor sie ging.
Rafa behielt ein zufriedenes Lächeln im Gesicht, während Darienne mit versteinertem Gesicht in einer Ecke kauerte und sich immer weiter von ihm zurückzog. Ivco nahm sich schließlich ihrer an und zog sie hinter sich her aus dem Tanzsaal. Darienne und Ivco blieben für längere Zeit verschwunden.
Mit Zara unterhielt ich mich im Schankraum an der Theke über Rafas Freundinnen und wie er sie behandelt. Zara konnte bestätigen, daß Rafa Berenice unzählige Male betrogen hat. Sie habe das mitbekommen.
Zara erzählte, die Leute würden viel über mich lästern und behaupten, ich sei nichts als ein verrückter Fan von Rafa. Das würden auch Kappa und Edaín so betrachten. Zara meinte, sie finde das nicht in Ordnung, zumal sie hinter meinem Rücken redeten.
"Böse bin ich ihnen deswegen nicht", sagte ich dazu. "Ich denke, das hat mit ihrer Eigenproblematik zu tun. Bei denen geht es um Selbstwertprobleme, die sie nicht unbedingt wahrhaben wollen."
"Allerdings."
Zara vermutete, Edaín könnte sich gekränkt fühlen, weil ich sie nicht mit ihrem Rufnamen "Angel" anspreche. Ich erzählte, daß Edaín mir seinerzeit die Wahl gelassen hat, wie ich sie nenne. Im Übrigen könnte Zara richtig liegen. Vielleicht ist der Name "Angel" für Edaín auch deshalb wichtig, weil er sie hervorhebt.
Rafa war gerade im Schankraum; er stand über Eck an der Theke, zwei Schritte von Zara und mir entfernt.
Zara erkundigte sich, ob Rafa und ich überhaupt jemals etwas miteinander gehabt hätten. Ich antwortete, daß dem durchaus so war, daß also deutlich mehr als nichts zwischen uns abgelaufen ist.
"Das ist zum Beispiel in der Szene gar nicht bekannt", erzählte Zara. "Die Leute wissen gar nicht, wieviel da schon gewesen ist. Und wenn man das so hört und dann Rafa beobachtet und sieht, was er tut, dann müßte man sich doch eigentlich fragen, wer hier krank ist."
"Eben", nickte ich. "Das, was der hier bringt, das ist alles Fassade, alles Getue, alles Schauspielerei. In Wirklichkeit ist der völlig unsicher."
Ich schaute Rafa ins Gesicht, der gerade keine Brille trug.
"Ich bin kein Fan", sagte ich zu Zara. "Ich finde Rafas Musik ziemlich Panne, von ein paar Ausnahmen abgesehen. Ich finde Rafa nicht toll. Ich habe ihn nie toll gefunden. Ich verehre ihn nicht. Ich liebe ihn, das ist etwas völlig anderes."
Zara meinte, Ace und Rafa hätten einiges gemeinsam - eine Selbstwertstörung, eine Suchtproblematik und daß Frauen zur Bestätigung fürs Ego benutzt werden. Inzwischen habe Ace sich äußerlich zu ihr bekannt, allerdings nur äußerlich.
"Wenigstens überhaupt", erkannte ich an. "Rafa hat sich noch nie zu mir bekannt. Das ganze Leben noch nicht."
Rafa ging an uns vorbei, so dicht, daß ich über sein Bein streichen konnte.
Zara bemängelte, daß Rafa mich nach all den Jahren, die wir uns kennen, hier im "Keller" nicht einmal begrüßte. Es sei nicht in Ordnung, wie Rafa sich mir gegenüber verhalte.
Zara sagte, bei Frauen erlebe sie das ganz selten, daß sie sie knuddeln wolle, aber bei mir habe sie von Anfang an nur ein gutes Gefühl gehabt.
Ivco und Darienne gingen zurück in den Tanzsaal. Darienne stellte sich wieder vor den Kohlenbehälter, in dem Rafa stand und auflegte. Mal schrie sie Rafa an, mal kauerte sie in einer Ecke. Rafa tat, als würde er sich abmühen, Darienne zu trösten. Er wählte die Rolle des Trösters, nicht die des reuigen Sünders. Er stellte sich über Darienne, anstatt sie um Verzeihung zu bitten für seine Vergehen.
Nun war es Zara, die Darienne hinter sich her aus dem Tanzsaal zog und sich ihrer annahm. Zara setzte sich mit Darienne auf eine Bank weit vorne im Schankraum. Als ich zufällig vorbeikam, hörte ich, wie Zara zu Darienne sagte:
"So einen Typen würde ich in den A... treten."
Später berichtete Zara, Darienne habe ihr erzählt, Rafa habe ihr im Rahmen der stundenlangen Auseinandersetzungen mit einem Frotteehandtuch ziemlich brutal das sorgsam aufgespachtelte, inzwischen aber verheulte Makeup aus dem Gesicht gewischt. Man könnte diese Unterstützung beim Abschminken beinahe symbolisch als Demaskierung betrachten.
Zara erzählte, ich hätte vorhin richtig vermutet: Rafa habe zu der tief gekränkten, enttäuschten Darienne in überheblichem Ton gesagt:
"Dann geh' doch."
"Siehst du", nickte ich, "genau. Das hatte ich mir gedacht. Er wirkte nämlich sehr zufrieden."
Ich teilte Zara meine Vermutung mit, Rafa mache immer wieder die Erfahrung, daß er sich eine Freundin wie eine Puppe aussucht und sich dann wundert, daß sie für ihn wirklich nicht mehr sein kann als eine Puppe, ein Spielzeug, ein Gegenstand. Rafa suche sich Freundinnen aus, die für ihn keine tiefe Gefühle haben und wundere sich dann, daß er bei ihnen keine tiefen Gefühle findet. Rafa könne mit Liebe nichts anfangen. Er habe zwar eine Datei namens "Liebe" auf seiner Festplatte, jedoch fehle ihm das Programm, um sie zu öffnen.
"Wie Ace", sagte Zara. "Wie Ace."
"Für mich stellt sich die Frage, wie ich ein solches Programm installieren kann", meinte ich. "Denn es ist eines, zu sehen, auf welche Art der Computer kaputt ist ... und es ist ein anderes, herauszubekommen, wie man ihn reparieren kann."
Nachdem Zara Darienne Trost zugesprochen und ihr Ratschläge gegeben hatte, ging Darienne wieder zu Rafa vor den Kohlenbehälter. Mal schrie sie ihn an, mal kauerte sie in der Ecke. Rafa wandte sich ihr zu, redete auf sie ein, legte den Arm um sie, um dann wieder zufrieden lächelnd am DJ-Pult zu stehen. Darienne schien es dankbar aufzunehmen, wenn Rafa sich ihr zuwandte und mit ihr knutschte.
Zwischendurch ging Darienne zu Zara und sagte zu ihr:
"Es kommt darauf an, cool zu bleiben."
Dann ging Darienne wieder zu Rafa ans DJ-Pult. Rafa faßte ihre dürre Gestalt um die Taille und hob sie über das Mäuerchen zu sich in den Kohlenbehälter. Hier inszenierte Rafa die ausgedehnte Versöhnung mit Beteuerungen, Geflüster, Gewisper und filmreifen Küssen. Darienne ging darauf ein und blieb bei Rafa auf dem Mäuerchen des Kohlenbehälters sitzen, während er weiter auflegte. Sie wirkte zufriedener und hatte beinahe einen triumphierenden Gesichtsausdruck, wenngleich sie sich noch immer Tränen aus den Augen wischte.
Rafa zeigte sich als routinierter Lebemann, der vorzugsweise unbedarfte Schulmädchen auf seinem Speisezettel hat, sich von ihnen verehren läßt und sich daran erfreut, wie leicht er ihr naives Gemüt beeinflussen kann. Ich stellte mir vor, wie Rafa als schwerer Mittdreißiger neben der mageren Darienne in deren Jugendzimmer im Bett lag. Für mich hatte das beinahe etwas Pädophiles - aber halt nur beinahe, denn formal war Darienne volljährig. Rafa scheint bei seiner Vorliebe für jugendliche, fast noch kindliche Mädchen darauf zu achten, daß sie nicht jünger sind als achtzehn Jahre. Ihm scheint es vor allem darum zu gehen, daß er sich solchen Mädchen gegenüber besonders mächtig und gewaltig fühlen kann. Ich halte es hingegen für ein Armutszeugnis, wenn ein erwachsener Mann es nötig hat, sich von Teenagern verehren zu lassen. Es ist ein Hinweis darauf, daß er sich an erwachsene Frauen nicht heranwagt - vielleicht befürchtet er, vor ihnen nicht bestehen zu können. Das ist nicht einmal abwegig. Einer erwachsenen Frau hat Rafa wenig zu bieten. Sie wird kaum von einem Mann beeindruckt sein, der als Mittdreißiger noch bei seiner Mutter wohnt, ein Zimmer im Keller hat und keiner regelmäßigen Arbeit nachgeht.
Auf der Bank links vom DJ-Pult saß ich mit Zara und Ace. Zu den Streit- und Versöhnungsszenen zwischen Rafa und Darienne merkte ich an:
"Für Rafa ist es Routine, für Darienne ein klassisches Drama."
Ich meinte, solche Auseinandersetzungen seien doch reine Energieverschwendung - wenn man bedenke, wieviel Kraft und Zeit dabei verlorengingen. Ace meinte, auf diese Weise werde es Rafa wenigstens nicht langweilig.
"Mit tiefen Gefühlen hat das nichts zu tun", bestätigte ich. "Es geht nur ums Konsumieren. Rafa will seine Zeit totschlagen. Er weiß mit seiner Zeit nichts anzufangen. Wer sein Leben haßt, der macht sowas. Wer sich selber haßt, der macht sowas. Und Rafa haßt sich selbst."
Ace holte sich aus dem Schankraum ein Glas mit Rotwein, über das hielt er einen Teelöffel, auf dem mit Schnaps getränkter Zucker brannte.
"Das ist Mini-Feuerzangenbowle", erklärte Ace.
Ich erinnerte mich, wie gerne ich Feuerzangenbowle mag, aber um diese Uhrzeit wollte ich nicht mehr damit anfangen.
Ace und ich unterhielten uns über kreative Arbeit, insbesondere über das Schreiben. Ich erkundigte mich, wie weit er mit dem Buch gekommen sei, das er vor einigen Jahren zu schreiben beschlossen habe. Er antwortete, bisher habe er noch nicht einmal richtig damit begonnen. Es sei so unübersehbar viel, was in das Buch hineinsolle, da wisse er nicht, wo und wie er es anfangen solle.
"Du mußt dir etwas Kleines herausgreifen und nur darüber schreiben", riet ich. "Du mußt es häppchenweise machen. Du kannst nicht alles auf einmal schaffen. Dazu ist es zuviel."
"Mein Leben ist so komplex, da kann man nichts herausgreifen."
"Jedes Leben ist komplex", betonte ich. "Und doch werden Geschichten geschrieben. Und doch lassen sich Ereignisse isolieren. Ich empfehle dir, daß du dir selbst einfach nur die Frage stellst:
'Erzähl' mal was. Irgendwas.'
Daß du diesen Satz oben in deinen Computer schreibst und dann das aufschreibst, was dir als Allererstes einfällt, völlig egal, was - wertfrei, ohne Anspruch."
"Ich habe an mich den allerhöchsten Anspruch überhaupt."
"Genau - und deshalb soll ja das, was du schreibst, ohne Anspruch geschrieben werden", erklärte ich. "Deswegen ist das ja so wichtig, dann keinen Anspruch an sich zu stellen."
"Das kann ich nicht", war Ace überzeugt.
"Das ist nur eine Übungssache", berichtete ich aus Erfahrung. "So funktioniert es. So funktioniert Schreiben. Ich habe es selbst auch schon gemacht. Mache es einfach so. Versuche es. Probiere es aus."
Ich erzählte, daß ich so viel schreibe, daß ich schon überlege, eine Spracherkennungs-Software anzuschaffen, etwa "I-Listen" für den Macintosh.
"Hast du einen Macintosh?" wunderte sich Ace.
"Ja, Ace, du kennst mich doch", meinte ich, "du weißt doch, daß ich nur mit einem Macintosh zufrieden bin."
Mit Zara unterhielt ich mich darüber, daß Rafa sich allmählich zu Tode raucht. Ich erzählte, Rafas Vater habe das auch schon gemacht. Er sei gestorben, als Rafa dreizehn Jahre alt gewesen sei, vermutlich an einem Herzinfarkt.
"Ach, der ist tot!" war Zara betroffen. "Ace und ich haben uns immer schon gefragt, wo der Vater ist."
Zu Rafas Selbstwertproblematik meinte ich, es gebe für einen Mann mit Selbstwertstörung wohl nichts, womit er sich mehr aufzubauen meine als gefühlloser Sex.
"Ace ...", raunte Zara, "genauso ist Ace ..."
Es wurde Morgen, der "Keller" leerte sich. Rafa sagte mehrmals durchs Mikrophon, jetzt sei Schluß, er höre jetzt auf. Er spielte dennoch einen Titel nach dem anderen, als ginge es ihm darum, die Party so lange auszudehnen wie möglich. Viellecht hatte er wenig Lust darauf, mit Darienne nach Hause zu gehen.
"Keller"-Stammgast Highscore setzte sich zu mir auf die Bank. Highscore kennt mich seit Jahren vom Sehen, aus dem "Zone". Er meinte, er habe immer wieder mit dem Gedanken gespielt, mich anzusprechen, und jetzt tue er es einfach.
Wenn er mich im "Zone" gesehen habe, habe er sich oft gefragt, was für einen Beruf so ein Mensch habe, der sich so anziehe und so tanze. Ich erzählte von meinem Beruf. Highscore meinte, er habe keine Schwierigkeiten mit dem Kontakt zu Leuten, die einen höheren Bildungsgrad hätten. Seine Kollegen hätten jedoch eine Scheu davor.
Ich erzählte Highscore von meiner Arbeit in der Reha-Klinik, wo ich Schlaganfall-Patienten behandle. Wir unterhielten uns über Bluthochdruck, Hauptrisikofaktor für Schlaganfälle. Highscore leidet selbst an Bluthochdruck und muß Medikamente nehmen.
Rafa spielte "Being boiled" von Human League. Während Highscore und ich dazu tanzten, erklärte ich ihm, welche Medikamente er zusätzlich nehmen konnte, wenn seine Blutdruckmedikation nicht ausreichend war.
Highscore erzählte, daß er Rafa seit fünfzehn Jahren kennt, allerdings nur flüchtig.
"Fast alle Leute kennen Rafa nur flüchtig", meinte ich, "weil er sich nicht offenbart."
Highscore hat Rafa einmal zufällig bei einem öffentlichen Fest auftreten sehen. Bis dahin hatte Highscore nicht gewußt, daß Rafa Musik macht. Er sei darüber ganz aus dem Häuschen gewesen.
"Wieso, das ist doch nichts Besonderes", meinte ich. "Musiker sind doch viele."
Als ich darüber sprach, daß Rafa sich vor mir fürchtet, fragte Highscore:
"Warum? Du tust doch niemandem was."
"Nein, das ist ja das Seltsame daran."
Highscore legte zum Schunkeln den Arm um mich und bat mich, ihm mitzuteilen, wenn er mir auf die Nerven ging.
"Du nervst mich nicht", betonte ich.
Als Rafa zum zweiten Mal "Sex Dwarf" von Soft Cell spielte, tanzte ich noch einmal mit Highscore.
Wenn Rafa ruhigere, sentimentalere Stücke spielte, knutschte er demonstrativ mit Darienne, die sich sehr bereitwillig darauf einließ.
Highscore erzählte, vor einiger Zeit habe er Rafa mit Darienne im "Keller" gesehen, innerhalb der Woche. Rafa habe an der Theke etwas zu trinken bestellt.
"Für die Schnalle auch was?" habe Highscore gefragt.
Darienne sei über den Ausdruck "Schnalle" äußerst erbost gewesen.
"Das ist doch kein Wunder", meinte ich. "Du hast doch nur die Wahrheit gesagt. Sie ist doch wirklich nichts anderes als das für Rafa. Sie ist doch wirklich nur ein Objekt für ihn."
Zum Kehraus lief "Dead and buried" von Alien Sex Fiend, und ich konnte noch einmal tanzen.
Als ich mit Ivco durch den Schankraum ging, unterhielt Rafa sich mit den Leuten hinter der Theke. Darienne saß vor der Theke. Sie hatte sich eine riesige Sonnenbrille aufgesetzt, wohl damit man ihre verweinten Augen nicht sah. Darienne unterhielt sich mit Zara und einigen anderen, die dort standen.
Rafa wollte seine Koffer aus dem Tanzsaal holen. Ich sagte zu Ivco, daß ich im Tanzraum nachsehen wollte, ob ich dort noch etwas vergessen hatte. Im Tanzsaal war ich mit Rafa allein - zu zweit in einem Raum und doch meilenweit voneinander entfernt, denn ein Gespräch war unmöglich. Rafa packte hinterm DJ-Pult seine CD-Koffer. Ich ging durch den Saal bis dicht vors DJ-Pult und sagte beiläufig:
"Oh, hier liegt nichts mehr. Alles schön, alles gut, alles wunderbar."
Dabei streichelte ich Rafa über den Rücken; zwischen T-Shirt und Hosenbund gab es ein Stück, das unbekleidet war.
Rafa nahm die Geste zur Kenntnis, ohne sich zu äußern. Ich ging eilig in den Schankraum. Rafa kam ebenfalls dorthin. Während ich mit Highscore plauderte, ging Rafa sehr dicht an mir vorbei. Ich streichelte ihn aufs Neue.
"Ja, Hetty, ich bin nur deswegen hier, damit du mich andauernd angrabbelst", fauchte Rafa.
"Ja, natürlich", bestätigte ich in verbindlichem Tonfall. "Selbstverständlich."
Auf dem Weg zum Ausgang verabschiedete ich mich von den Leuten, mit denen ich mich unterhalten hatte, unter anderem von Zara:
"Ciao, wir mailen."
... und von Highscore:
"Ciao, wir SMSen."
Da ging Rafa noch einmal dicht an mir vorbei und wurde noch einmal von mir gestreichelt.
"Selbst schuld", dachte ich. "Warum geht er auch immer so dicht an mir vorbei?"
Auf dem Heimweg meinte Ivco, er finde es faszinierend, wie Rafa es immer wieder erreiche, daß die Mädchen, die er betrog, ihm verziehen. Ich meinte dazu:
"Ich würde eher sagen, es ist faszinierend, wie schnell Rafa immer die Frauen herausfindet, die so ein Spiel mitmachen."
Ivco wunderte sich:
"Ach, das machen nicht alle Frauen mit?"
"Nein, auf keinen Fall. Aber Rafa merkt sehr schnell, ob eine Frau das mitmacht. Und das sind dann die, die seine Freundinnen werden, weil er es mit denen machen kann."
Ivco meinte, er befinde sich in einem Loyalitätskonflikt, wenn er Darienne Trost zuspreche.
"Warum?" fragte ich. "Es ist doch nichts Schlimmes daran, wenn man einen Menschen tröstet."
"Ja, aber ich weiß nicht, nach wem ich mich richten soll. Wenn ich Darienne tröste, stoße ich Rafa vor den Kopf ... also wenn ich ihn ihr madig mache."
"Warum? Du sagst ihr doch nur das, was die Wahrheit ist. Du hältst Rafa doch nur einen Spiegel vor mit dem, was du sagst."
"Vielleicht sollte ich mich mal mit Rafa unterhalten."
"Allerdings, du solltest dich mal mit ihm unterhalten, von Mann zu Mann", meinte ich. "Wichtig ist doch nur, daß du das tust, was dir dein Herz sagt - das, was du wirklich willst. Damit kannst du nichts falsch machen. Du bist eben ein fürsorglicher Mensch. Du wolltest sie eben trösten - ja gut, damit schadest du doch niemandem."
Bei Ivco bekam ich ein Gästelager und schlief vormittags einige Stunden.
Am Frühstückstisch saß Ivco im Bademantel. Carole meinte, langsam müsse er sich etwas anziehen, da man bald aufbrechen wolle.
"Zu Hause darf er aber so 'rumlaufen", nahm die zweieinhalbjährige Dina ihren Vater in Schutz.
"Zu Hause ja", bestätigten ihre Eltern. "Aber wir wollen doch noch zu Oma Edith fahren."
Am Freitag waren Constri, Denise und ich bei Clara, die ihren Geburtstag feierte. Sie heiratet ihren Seward im November. Clara und Seward hätten sich viel früher kennenlernen können, weil sie gemeinsame Bekannte haben. Auch im "Mute" hätten sie sich begegnen können, aber erst das Internet führte sie zusammen.
Clara lebt mit Seward in einem Haus mit Garten. Sie ist da angekommen, wo ihre Mutter sie sehen wollte. Inwiefern sie Seward tatsächlich um seiner selbst willen gewählt hat und welche Rolle dabei sein Haus mit Garten gespielt hat, das ihn zu einem vorzeigbaren Schwiegersohn macht, bleibt im Dunkeln.
Am Samstag war ich mit Cyra bei "Stahlwerk". Als ich von meiner Arbeit an "Im Netz" erzählte, meinte Cyra, sie habe schon öfter überlegt, Tagebuch zu schreiben, aber jetzt sei es wohl zu spät dafür.
"Warum denn das?" wollte ich wissen.
"Na, weil alles Interessante eigentlich schon gelaufen ist."
Dem widersprach ich entschieden.
"Das Interessanteste kommt erst noch", meinte ich. "Du hast gerade mal die erste grüne Jugend hinter dir. Und du hast noch nicht einmal den Mann deines Lebens gefunden."
"Das stimmt. Obwohl ... ich habe beim Sommerfestival einen Mann kennengelernt, der hat mich echt umgehauen. Leider mußte er jetzt nach Afghanistan."
Er heißt Doug und ist Berufssoldat. Cyra erzählte, sie verstehe sich zwar sehr gut mit ihm, jedoch seien die Voraussetzungen für eine Beziehung ungünstig wegen der räumlichen Entfernung. Doug lebt im Ruhrgebiet. Sein Einsatz in Afghanistan dauert bis Dezember.
"Der ist nicht aus der Welt", meinte ich. "Und ich denke, wenn man einander wirklich wichtig ist, kommt es nicht so sehr auf die Häufigkeit der Begegnungen, sondern auf die Intensität an."
"Unsere bisherigen Treffen waren sehr intensiv."
"Rafa wohnt nur fünfzig Kilometer von mir entfernt, und er ist doch viel weiter weg von mir. Ich kann mich nie mit ihm verabreden. Ich bin darauf angewiesen, ihm bei Veranstaltungen zu begegnen und ihn mit Hilfe anderer Leute zu treffen."
Ich meinte, all das Interessante, was Cyra schon erlebt hat, könne sie durchaus ihrem Diarium hinzufügen, denn sie habe ja nicht alles vergessen, weder ihre Erlebnisse mit Trevor noch die mit Maurice.
Über Hal berichtete Cyra, daß er noch immer viel arbeitet, daß er damit aber zufrieden ist. Seine Freundin Sue zieht von N. nach HH., aber nicht zu Hal in die Wohnung. Sie ist Fremdsprachenkorrespondentin und arbeitet nach ihrem Umzug halbtags für Hal als Organisatorin und Bürokraft. Das werde ihn sehr entlasten.
Rafa werde seit Neuestem von einer Promotion-Firma gemanagt, an der Cyber beteiligt ist.
Sofie berichtete, daß sie mehrere kleinere Jobs, aber zur Zeit keine feste Stelle hat. Für die Rente sorgt sie vor, indem sie in die Künstler-Sozialkasse einzahlt. Dort ist sie Mitglied, weil sie zwei Kinderbücher veröffentlicht hat.
Darien hat außer Familienfotos fast nichts Persönliches mehr auf seiner Website. Ich bat ihn, wieder ein Online-Gästebuch zu installieren und die Gedichte und Geschichten, die früher auf der Website zu sehen waren, wieder online zu stellen. Darien meinte, im Internet sei alles vergänglich, wie im richtigen Leben.
Irvin erzählte, daß er sich jetzt vermehrt um Arbeit bemüht; es gebe auch wieder mehr Stellenangebote in seiner Branche. Ich meinte, ich könne die Vorstellung, ohne Arbeit zu sein, nicht ertragen, da ich mich darüber definiere, daß ich mich selbst erhalten kann und in meiner Branche tätig bin. Irvin meinte, ihn störe die Arbeitslosigkeit weniger, da er von dem Geld, das er bekomme, leben könne und sich auch nicht langweile. Ich entgegnete, ohne Arbeit würde ich mich auch nicht langweilen, aber mir würde etwas fehlen, das Teil meiner Persönlichkeit sei, und damit würde ich nicht leben können.
Zara mailte mir Fotos von der Party im "Keller". W.O.L.F. mailte:

Hab mich gefreut, dich mal kennenzulernen ;)
Haben ja auch kleines nettes Gespräch geführt, und wenns mirs richtig dreckig geht, weiss ich ja jetzt, wo ich hingehen muss ;)

W.O.L.F. freute sich über das 29. Kapitel von "Im Netz", das ich online gestellt hatte. Er erkundigte sich, ob die Party im "Keller" eines Tages auch in dem Roman vorkommen werde. Das bestätigte ich und versprach ihm, daß er sich seinen Decknamen selbst aussuchen konnte.
Platinum hat sich in Dariennes Online-Gästebuch eingetragen:

plastik soll die zukunft sein?? wie kommt man auf so was (sinnbefreites)?
ansonsten: schicke bilder und abgedrehte verkleidungen, auch wenn sie nicht ganz meinen geschmack treffen.
deinen kritikern muß ich trotzdem größtenteils zustimmen. jetzt hast du sogar noch ein forum für deine selbstbeweihräucherung eingerichtet ...
im yoga wird dieser teil des menschen, der bei dir offensichtlich überhand genommen hat, als falsches ego bezeichnet. zu recht, wie ich finde.
aber mit der zeit wirst du dich bestimmt weiter entwickeln - ich war auch mal so wie du, nur äußerlich nicht ganz so evil :P
dafür innerlich um so mehr :)
beste grüße und alles gute und hack nicht auf der hetty rum
platinum

Darienne scheint sehr über mich zu lästern, so sehr, daß ich sogar in ihrem eigenen Gästebuch in Schutz genommen werde.
Gekränkt äußert sich Darienne auf der Homepage von Platinum in deren Gästebuch:

meine liebe platinum ... "plastik ist die zukunft" ist ein weniger sinnfreies zitat, wenn man zusammenhang und quelle kennt - die reifeprüfung! ... natürlich ist plastik die zukunft (gewesen) - schau dich in deiner wohnung um und beweis mir das gegenteil!
meine seite hat auch sicher nicht mehr oder weniger mit "selbstbeweihräucherung" zu tun als deine ... ich sehe nur keinen grund, warum ausgerechnet ICH anderen Menschen sagen soll, wie sie zu einem besseren menschen werden o.ä.! ausserdem sehe ich keinen grund, mehr informativ auf meiner seite zu werden, da ich mein Leben keinesfalls mit dem rest der menschheit teilen möchte ... und mal ganz ehrlich - meinst du, jeder besucher liest alles, was auf deiner seite zu lesen ist? hast du eine mission?
und bitte bilde dir doch keine meinung über mein "ego" *lach* ... ich wüsste nicht, dass wir uns näher kennen!
nun ja ... ich hacke, auf wem ich will, wieviel ich will - wir stehen uns da wohl beide ins nichts nach!
so ... das wars
*lg*
darienne

Platinum kommentiert:

meine seite hat den zweck, zu informieren. daß DU keinen grund siehst, anderen menschen wege zu zeigen, wie sie etwas besser machen können, ist mir klar.
mission? ich habe eine aufgabe, wie jeder mensch auf dieser welt. aber die meisten sind (noch) zu verblendet, um das zu erkennen, oder haben nur plastik im sinn ...
wir stehen uns im rumhacken auf anderen in nichts nach? da meinst du sicher meine gutgemeinte kritik an deiner jugendlichen egozentrik ... das legt sich mit der zeit! irgendwen "wegzubeißen" habe ich gottseidank nicht nötig :P
allerdings habe ich mitgefühl mit aufrichtigen menschen, die leiden.
und was das teilen angeht: ich möchte mein leben schon mit anderen menschen teilen ... wozu habe ich denn diese seite? teilen ist die zukunft!!!

Platinum schreibt auf ihrer Internetseite, die überwiegend in Schwarzweiß gehalten ist, vor allem über Yoga und alternative Lebensweisen. Sie erzählt, daß sie mit Berenice befreundet ist und diese zu ihren Vorbildern zählt. Eine esoterisch getönte Weltsicht und eine gewisse Neigung zum Missionieren finde ich denn auch bei allen beiden. Noch mehr als Berenice scheint Platinum sich mit der Frage nach Selbstfindung und einer grundsätzlichen Lebenseinstellung zu befassen.
Eine eigene Abteilung auf ihrer Website widmet Platinum der Band W.E., von der sie sehr beeindruckt ist. Sie fühlt sich vor allem deshalb davon angesprochen, weil die Musik der achtziger Jahre die Musik ihrer Kindheit ist und Rafa diese Musik wieder aufleben läßt.
Eine Kurzgeschichte gibt es auf Platinums Website auch zu lesen. Unter dem Titel "100 %" wird von einem Jungen und einem Mädchen erzählt, die füreinander bestimmt sind, aber sich im entscheidenden Moment nicht trauen, aufeinander zuzugehen.
In ihrem Gästebuch bekommt Platinum viel Lob für ihre Website. Ich schrieb:

Hi Platinum!
Du hast eine konsequent gestylte Seite mit Inhalt. Schön! Und es steckt viel Arbeit drin, denke ich.
Die "100 %"-Shortstory, hast du dir die ausgedacht, oder ist das eine, die man sich erzählt? (Es gibt so Geschichten, die man immer untereinander weitererzählt.)
Ach, ich bin erleichtert, daß mir das nicht mehr passieren kann, was dem Jungen und dem Mädchen in der "100 %"-Story passiert. Ich bin aufrichtig und traue mich, das zu sagen, was ich sagen will. Seltsamerweise kommt es vor, daß einem gerade die Wahrheit nicht geglaubt wird. Neverending story ... endless loop.
Greetinx
fractal / Hetty

Anfang September habe ich geträumt, ich würde von Stadt zu Stadt fahren, um Veranstaltungen zu besuchen, allein und mit Freunden. In einer Discothek, die ich gemeinsam mit einem meiner Freunde besuchte, entdeckte ich Rafa in dem dazugehörigen Café. Er stand wie zufällig neben mir. Darienne war im angrenzenden Tanzraum und konnte uns nicht sehen. Ich legte meinen Arm auf Rafas Arm, ohne ihn anzublicken. Rafa zog seinen Arm ein wenig zurück, ließ es allmählich aber zu, daß wir uns berührten. Unterdessen veränderte sich die Umgebung. Wir befanden uns nicht mehr in dem Café, sondern in meinem Zimmer, und wir lagen nebeneinander auf meinem Bett.
"Auf was für Musik stehst du eigentlich?" fragte Rafa erstaunt.
Ich stellte fest, daß mir die Musik auf der Kassette, die gerade lief, ganz und gar nicht gefiel.
"Das haben Blank and Jones am letzten Samstag gespielt", erklärte ich. "Das war alles andere als toll. Ich gucke mal, daß ich eine Kassette mit anständiger Musik finde."
Ich suchte in meinen Kassetten herum und entschied:
"Jetzt gehe ich 'runter und hole eine Kassette mit vernünftiger Musik aus dem Auto."
Dort lagen Kassetten mit meinen Lieblingsliedern aus der Radiosendung von Blank and Jones, "Blank and Jones and Friends".
"Bis gleich", sagte ich zu Rafa, der in meinem Bett auf mich wartete.
Leider wachte ich schon auf.

Am Abend waren Constri, Denise, Clara und Terry bei mir zu Besuch. Es gab Salat. Clara erinnerte sich an etwas, das sie vor über zehn Jahren von Daphne gehört hat, einer einstigen Verehrerin von Rafa. Damals sollen Rafa, DJ Luie und Daphne nach einer Nacht im "Elizium" zu Luie gegangen sein. Daphne erzählte Clara kurz darauf, Rafa habe über mich etwas gesagt, das könne man nicht weitererzählen. Sie tat geheimnisvoll, und Clara nimmt an, sie wollte sich wichtig machen.
Clara zeigte uns den Prospekt, in dem ihr Brautkleid abgebildet ist. Es ist aus cremefarbenem Duchesse-Seidenimitat und hat über dem Trägeroberteil ein schmal geschnittenes Spitzenblüschen. Der Rock wird nach unten sehr weit und hat einen eingearbeiteten Reif. Clara möchte keinen Schleier tragen, sondern einen schlichten, aber raffinierten Haarschmuck.
Spätabends war ich bei Cennet, der seinen Geburtstag nachfeierte. Auch Arndis war da, in die Cennet sehr verliebt ist. Arndis fand die "Stahlwerk"-Party, auf der sie im Juli mit Cennet war, interessant.
"Die Leute wirkten schräg und zugleich entspannt", meinte sie.
Das Klima sei ruhig, fast meditativ gewesen; man habe gespürt, daß die Leute vor allem deshalb auf der Party waren, um den Rhythmus zu genießen. Die Selbstdarstellung habe sich weitgehend auf die Kostüme beschränkt.



In der Freitagnacht kam ich gegen halb zwei ins "Mute". Rafa war gerade nicht zu sehen. Ich erfuhr, das er sich schon gezeigt hatte, mit Darienne. Gegen halb drei tauchten Rafa und Darienne wieder auf; sie konnten im Backstagebereich gewesen sein. Rafa ging ans DJ-Pult, das dieses Mal rechts von der Tanzfläche aufgebaut war, auf einem flachen Podest mit Geländer. Rafa wirkte recht ausgeglichen, geradezu wohlgelaunt; allerdings verließ er das DJ-Pult fast nie, obwohl er es dem Co-DJ hätte übergeben können. Fast durchgehend trug Rafa eine Sonnenbrille.
In der Mitte des Foyers saß Darienne mit Eden an der Theke. Ich unterhielt mich mit Cyber und Sheryl. Kurz nachdem Darienne mich erblickt hatte, ging sie zum DJ-Pult und hielt sich für den Rest der Nacht in dessen Nähe auf, als wollte sie Rafa bewachen. Dariennes Gesicht wirkte unbewegt, sie machte einen mißmutigen Eindruck. Sie rückte noch dichter ans DJ-Pult heran, als ich mich an der danebenliegenden Theke mit Isis unterhielt. Eden leistete Darienne vorübergehend Gesellschaft, meistens saß Darienne aber allein auf ihrem Barhocker am Geländer. Rafa kümmerte sich gelegentlich um Darienne; er beugte sich über das Geländer zu ihr herunter. Ihre Laune schien freilich dadurch nicht besser zu werden. Die meiste Zeit war Rafa damit beschäftigt, Musik aufzulegen und mit dem Co-DJ zu plaudern. Zwischendurch bekam Rafa hinterm DJ-Pult Gesellschaft von Kappa und Edaín, mit denen er sich ebenfalls unterhielt.
Isis berichtete, Darienne beobachte mich ununterbrochen. Darienne beobachte auch Isis, seit Isis Rafa am DJ-Pult begrüßt habe. Rafa und Isis wechselten nur wenige Worte. Sie scherzten miteinander und neckten sich.
Das heutige Programm fand ich nicht schlecht; ich tanzte öfters, auch zu "Der schwarze Mann" von Terminal Choice.
Im Foyer unterhielt ich mich mit Kappa und Edaín. Sie erzählten, daß ihre dreieinhalbjährige Tochter Maya zur Musikschule geht und am liebsten schon zur Schule gehen würde. Von der Musikschule ist Maya begeistert. Vor allem das Schlagzeug gefällt ihr.
Rafa spielte sein Stück "Starfighter F-104G".
"Aach, jetzt macht der wieder Eigenwerbung", seufzte Kappa.
Als ein Stück aus dem härteren Elektro-Bereich kam, ging ich zurück in den Saal und tanzte dazu. Danach unterhielt ich mich mit Lucas' Schwester Doro. Zu uns gesellte sich Doros Bekannter Sian, dem gefielen besonders die Fotos auf meiner Website. Er sei sehr davon beeindruckt, vor allem von den Industrieaufnahmen. Das Stahlwerk in Ht. habe ihn fasziniert. Mit Texten habe er es nicht so, er lese wenig und selten. Sian erzählte, er kenne mich von der Parties in der "Halle". Seine Freunde und er hätten mich immer als "die Ballerina" bezeichnet.
Lucas zeigte stolz auf seine Stachelfrisur, die blausilbern gefärbt war.
"Auf der Arbeit darf ich blaue Haare tragen, aber keine blausilbernen", klagte Lucas. "Deshalb muß ich sie fürs Weggehen immer mit silbernem Haarspray einsprühen."
Doro sagte zu mir, es sei doch eine ziemliche Sisyphos-Arbeit, sich mit einem Menschen wie Rafa auseinanderzusetzen. Ich bestätigte das. Doro schlug vor, sie könnte sich bei Rafa einen Musktitel wünschen. Sie fragte, was ich gerne hören wollte, und ich nannte "Video killed the radio star" von den Buggles. Doro verwuschelte ihre langen roten Locken, damit sie erotisch ihr Gesicht umspielten, und ging ans Geländer des DJ-Pults, wo Darienne saß. Was sich dort abspielte, erzählte Doro mir danach:
"Hallo Honey", hauchte Doro in ihrem schulterfreien Decolleté wie ein jugendliches Groupie. "Darf ich mir was wünschen?"
Rafa war gleich ganz freundlich und erkundigte sich nach ihrem Wunsch. Sie nannte ihm den Titel, und er fragte:
"Original?"
"Ja."
"Und du tanzt dazu?" fragte er ungläubig.
"Ja", nickte Doro.
"Na gut", sagte Rafa bereitwillig.
Doro hatte den Eindruck, Darienne erwartete, daß jeder, der eine Audienz bei Rafa wollte, zuerst bei Darienne um Erlaubnis bat. Darienne habe sehr angespannt und abweisend gewirkt.
"Darienne erinnert mich an die Püppis, die Rafa bei seinen Konzerten auf der Bühne stehen hat", erzählte Doro, "die nichts können, als die Arme auf- und abzubewegen."
Von Rafa hatte Doro den Eindruck, er sei auf der Bühne selbstsicherer geworden. Bei früheren Auftritten habe er sich kaum dem Publikum zugewandt, er habe zittrig und schüchtern gewirkt. Inzwischen scheine ihm das Auftreten richtig Spaß zu machen. Allerdings werde Dolf ziemlich von Rafa ausgenutzt. Nach dem W.E-Konzert im "Mute" von zwei Jahren seien Doro und ihre Begleiter es gewesen, die Dolf dabei unterstützt hätten, das Bühnen-Equipment in den Miettransporter zu laden. Rafa habe auf der Bühne am DJ-Pult gestanden, anstatt beim Packen zu helfen. Auch die Damen in der Band hätten Dolf nicht beigestanden.
"Dolf ist jemand, der das auch mitmacht", meinte ich. "Er läßt sich auch 'rumschicken."
Ich erzählte, Dolf habe einige Male an einen Ausstieg bei W.E gedacht, sei davon aber jedesmal wieder abgekommen, obwohl Rafa ihm zu verstehen gegeben habe, er könne ihn ohne Weiteres ersetzen.
Doro erzählte, Dolf sei damals sehr dankbar für die Hilfe beim Einräumen des Equipments gewesen. Er habe für Doro eine Zigarettenschachtel der Marke "Commodore" signiert. Er habe Doro außerdem mit auf die Bühne genommen, wo Rafa ebenfalls die Zigarettenschachtel signierte. Rafa habe sich Doro gegenüber ziemlich herablassend verhalten. Er habe wenig zugänglich gewirkt. Umso mehr war Doro erstaunt über die Zuvorkommenheit, mit der Rafa ihr jetzt begegnete, als sie sich "Video killed the radio star" wünschte.
Es ging auf fünf Uhr zu, das "Mute" leerte sich. Rafa sagte durchs Mikrophon:
"Jetzt ist es hier schon so privat geworden, jetzt spiele ich einen ganz besonderen Wunsch."
"Video killed the radio star" von den Buggles begann, nur wenige Minuten, nachdem Doro Rafa diesen Wunsch mitgeteilt hatte. Doro und ich gingen auf die Tanzfäche. Viele der Übriggebliebenen tanzten ebenfalls; trotz der vorgerückten Stunde rafften sie sich noch einmal auf.
Darienne sah ich heute nie tanzen.
Als ich zu der Ecke links von der Bühne ging, vom DJ-Pult abgewandt, begann "Mad World" von Tears for Fears. Ich drehte mich um, und auf der Tanzfläche stand Rafa vor mir, drei Schritte entfernt. Er tanzte mir gegenüber zu dem Stück, und ich tat es ebenfalls. Rafa schien mich durch die Sonnenbrille zu betrachten, doch weil es eben eine Sonnenbrille war, konnte man das nicht sicher feststellen. Daß er jemand anderen anschaute, war unwahrscheinlich, weil sich neben mir und hinter mir niemand aufhielt. Rafa vergrößerte allmählich den Abstand zwischen uns. Weiterhin tanzte niemand zwischen uns. Kurz vor dem Ende des Stücks eilte Rafa zum DJ-Pult.
Als ich wieder bei Doro stand, sah ich Rafa erneut auf die Tanzfläche gehen, an dieselbe Stelle wie vorher. Ein Gesangsstück im Minimal-Stil lief, "Zuerst ich" von Silvia:
"Ich bin jetzt nicht mehr allein, du hängst bei mir an der Wand."
Ich ging auch an dieselbe Stelle wie vorher und tanzte zu dem Stück, gegenüber von Rafa. Dieses Mal elite Rafa schon zurück ans DJ-Pult, als das Stück erst zur Hälfte vorbei war.
Kurz darauf tanzte Rafa mit Kappa, zu einem etwas sentimentalen Stück aus den Achtzigern. Rafa nahm meinen bisherigen Platz auf der Tanzfläche ein und Kappa den bisherigen von Rafa, auch mit dem Abstand von mehreren Schritten.
Kappa trug heute einen langen schwarzen Rock, geschlitzt, im Lagen-Look, garniert mit Bondage-Elementen. Ich fand den Rock sehr schick. Ich bedauere es, daß die meisten Herren zu einfallsärmeren Outfits neigen.
Rafa trug eine Hose mit schwarzen und weißen Längsstreifen und ein schwarzes Oberteil mit Silberknöpfen. An ihm gefällt mir so ziemlich alles besser als sein ewiggleiches Bühnen-Outfit.
Ich setzte mich auf einen Barhocker und schaute Kappa und Rafa zu. Im Laufe des Stücks stand ich auf und tanzte mit ihnen, als Spitze eines rechtwinkligen Dreiecks.
Als nächstes Stück lief "Square Rooms" von Al Corley, und ich tanzte weiter. Danach unterhielt ich mich mit dem Co-DJ über dieses Stück. Ich meinte, die Maxi-Version von "Square Rooms" sei noch schöner als die Single-Version. Der Co-DJ bestätigte das und erzählte, an die Extended Version sei schwer heranzukommen.
Rafa hielt sich im Hintergrund, während ich mit dem Co-DJ plauderte.
"Die sitzt so steif da, als hätte sie einen Stock verschluckt", sagte Isis über Darienne. "Also, wenn ich so lange so dasitzen würde, würden mir nachher alle Glieder wehtun."
Erst als die Musik schwieg und die letzten Gäste ihre Sachen zusammensuchten, erhob sich Darienne wieder von ihrem Barhocker. Sie ging zu Rafa hinters DJ-Pult. Rafa kam herunter, vors Geländer. Isis ging zu Rafa und verabschiedete sich von ihm. Sie plauderten angeregt. Darienne stellte sich in der Nähe auf und verharrte mit unbewegter Miene.
Nach dem Gespräch von Rafa und Isis setzte Darienne sich wieder auf ihren Barhocker. Wenig später wurde Darienne von Rafa in geschäftigem Befehlston herbeizitiert:
"Dari!"
Diensteifrig ging Darienne sogleich zu Rafa, um Anweisungen entgegenzunehmen. Danach entfernte sie sich, wohl um die Anweisungen umzusetzen.
Draußen unter den Arkaden verabschiedete ich mich von Kappa und Edaín, die eine schwarze E-Gitarre trug. Kappa meinte, er könne sich vorstellen, daß Tochter Maya gerne auf der E-Gitarre klimpern würde.
Rafa kam mit Darienne vorbei. Rafa trug ein Mischpult. Er hatte es eilig, fortzukommen. Darienne trippelte hinter ihm her.
Als ich Isis nach Hause fuhr, schilderte sie mir ihr Gespräch mit Rafa. Sie habe ihn geneckt, und das habe er sich gerne gefallen lassen. Dann zeigte Isis auf Darienne und erkundigte sich:
"Na, ist das deine neue Püppi?"
"Ja, das ist meine Neue", bestätigte Rafa. "Das ist Dari."
Isis gab Darienne die Hand, die das ohne Feindseligkeit entgegennahm. Allerdings sei deutlich zu spüren gewesen, daß Darienne schlechte Laune hatte.
Isis fragte Rafa, ob er auch auf der nächsten Party im "Mute" erscheinen will, die Mitte Oktober stattfindet.
"Nein, da müßtest du schon nach NDH. fahren", entgegnete Rafa.
Er werde an jenem Abend in NDH. auftreten.
In dem Gespräch mit Isis streute Rafa immer wieder, auch ohne Sinnzusammenhang, das Wort "f...ing" ein. Vielleicht wollte er dadurch cool wirken - oder verhindern, daß seine Unsicherheit auffiel.
"Dann setz' dich in dein f...ing Auto und fahr' nach f...ing NDH.", schlug er Isis vor.
"Ich hab' kein f...ing Auto", antwortete sie in demselben Stil.
"Dann nimm den f...ing Zug", empfahl Rafa.
"Ich fahre ja mit der Hetty nach Hause", erzählte Isis, "die ist eine gute Autofahrerin und eine ganz Liebe."
"Ja, die fährt gut Auto", bestätigte Rafa.
Dariennes Blick soll reichlich giftig geworden sein, als Rafa sich wohlwollend über mich äußerte. Dabei nahm Rafa lediglich auf das Autofahren Bezug; für "ganz lieb" hält er mich bekanntermaßen nicht.
Isis beschrieb Darienne als "pubertär", "einfach nur dünn", "nichts dran". An der sei einfach nichts. Rafa müsse sich mit dieser Freundin ordentlich langweilen.
"Dabei will er doch immer nur genau das", meinte ich.
Am Telefon erzählte Kollege Dero, den ich aus meiner Zeit in HI. kenne, von der zwölf Jahre jüngeren Tracy, mit der er mit der er vor einem Jahr zusammenkam. Tracy verhalte sich wie ein rebellierender Teenager und verlagere die Verantwortung für ihre Lebenszufriedenheit gerne auf Dero. Was die Sache nicht einfacher macht, ist die drei Monate alte Tochter Aline, die die beiden haben. Dero liebt seine Kinder und möchte den Kontakt erhalten, was ihm mit seinem Sohn Connian gelingt, den er mit seiner früheren Freundin Nanette hat. Daß Dero Tracy noch nicht hinausgeworfen hat, liegt auch an seiner Furcht vor dem Stempel "der böse Dero, läßt einfach seine Freundin mit dem Kind sitzen". Ich meinte, diese Furcht lohne sich nicht; es sei besser, einen solchen Stempel zu ingorieren und sich davon nicht bei seinen Lebensentscheidungen behindern zu lassen.
Dero wird bald seine Stelle in HI. verlassen, um in der Neurologie zu arbeiten.
"Du wirst dich noch umgucken", meinte ich. "Glaube bloß nicht, woanders sei alles besser."
Ich erzählte von der Reha-Klinik und den sogenannten "Rentenbegehren". Reha-Witze und Stilblüten im Amtsdeutsch sind immer wieder mal im Ärzteblatt zu lesen. So soll tatsächlich in einem behördlichen Papier der Satz gestanden haben:
"Der Tod ist die stärkste Form der Dienstunfähigkeit."
Darienne zeigt auf der Titelseite ihrer Homepage neuerdings ein Foto, auf dem sie mit verwischter Schminke zu sehen ist. In ihrer Selbstbeschreibung nimmt sie Stellung zu verschiedenen Themen, allen voran der Haß; auch über den C64 schreibt sie, und sie lobt die Musik der achtziger Jahre und den Stil der fünfziger Jahre, geht also weiter konform mit Rafas Geschmack.
Zum Thema "Fotos" schreibt Darienne:

Wer wollte nicht schon immer einmal schöne Fotos von sich haben?! ... ICH HAB SIE *lach* ;)! ... wie auch immer - es gibt eigentlich nur noch 2-3 Sachen, die ich gern fotografisch umsetzen würde (und dafür fehlt mir noch der passende Fotograf)! ... und ausserdem mangelt es mir zur Zeit zu sehr an "Kreativität" der Szene und deren Fotografen. Mehr ist zu dem Thema im Moment kaum zu sagen ... ausser: NUR KEIN NEID! Ihr habt mein volles Mitleid ;)!

Zum Thema "Haß" schreibt Darienne mit Abstand das meiste:

Was ich schon immer einmal los werden wollte ... *hass*!

* Frauen ... die für allseits bekannte Eigenschaften bekannt und berüchtigt sind - Eifersucht, Konkurrenzdenken, Intriganz, die Liebe zu Klatsch und Tratsch, Hinterfotzigkeit ... die Liste ist lang!
* Die "Totrock/Punk-High-Society" - jenseits der 30, die sich auf Grund ihres Alters und ihrer Plattensammlung für etwas Besseres hält und scheinbar vergessen hat, worum es bei Musik und Lebensgefühl eigentlich geht!
* "Franzosen" - ... "Tanzflächengef...e", eine große Klappe, Dummheit, dauerbesoffen oder Volksvera...ung lässt sich bei gewissen Personen *hust* nicht bestreiten! (Nicht dass alle Franzosen sch... sind ... nein nein ... Frankreich ist ein schönes Land mit lecker Essen und netten Leuten :) )
* Grufti-Mädchen, die plötzlich einen pinken Pony haben und sich pinken Plüsch zwischen ihre Transformers kleben oder vielleicht sogar ein neues Schmetterlings-Tattoo im Decolleté haben!?
* Unkreativität!
* Menschen, die ihre Umwelt mit Füßen treten!
* Menschen, auf die ich mich nicht verlassen kann ... in jeder Hinsicht!
* Beziehungs-Geierei!
* "Stalker"!
* Leute, die sich in das Leben anderer Menschen einmischen bzw. sich mehr um das Leben anderer kümmern anstatt um sich selbst!
* "Ich hab gestern deinen Freund gef... - und es war VOLL geil!!!" ...
* Voreingenommenheit, Lügner, Betrüger, seelische Schmarotzer ... eben das übliche Kruppzeugs!
* Voreingenommenheit mir gegenüber ... - sprich: "ich kenne dich vom Sehen und von Bildern bzw. vom Hören und bilde mir deswegen meine Meinung" *gähn*
* Den so verbreiteten "Internet-Anonymitäts-Ausnutz-Fetish" ...

Es scheint kaum etwas zu geben, womit Darienne sich mehr beschäftigt als mit ihrem Haß und ihrer schlechten Laune. Ihr "Beauty"-Bereich ist schon gelöscht, die "Veröffentlichungen" ebenfalls.
In ihrem Gästebuch bekommt Darienne nun wesentlich mehr Kritik als Lob und Bewunderung. "Lani", bei der es sich wahrscheinlich um Tyras Schwester handelt, nimmt Darienne in Schutz:

echt klasse fotos, keine frage ... und auch real nett anzuschauen!
kompliment ...
nur lässt der reichtum an abwechslung in deinem GB echt zu wünschen übrig ... (wofür ich dich sicher nicht verantwortlich mache :) )
der erste lästert ... es wird sich darüber aufgeregt ... ein konter kommt ...
und so geht das hier hin und her ...
können wir uns nicht einfach so einigen, dass jeder, der eine derartig schöne ausstrahlung hat und etwas aus sich macht, wie diese junge dame hier, absolut keinen grund hat, sich zu verstecken!?
neider hin und her ...

"realität" schreibt:

!!!ARROGANZ IST DIE KUNST, AUF SEINE DUMMHEIT STOLZ ZU SEIN!!!

"Sandri" schreibt:

hallo darienne,
sehr schöne ausdrucksstarke bilder, auch die farben sind ein genuss! :)
auch die seite ist mit viel liebe sehr gut aufgemacht finde ich.
allerdings ist die schrift unter "... Plastik?!" etwas groß geraten, das stört etwas.
deine aufzählung "und der HASS" (hass noch betont und gleich als erstes) kommt nicht so gut rüber, das wirkt so negativ und etwas lächerlich.
im übrigen fehlt ein impressum. das solltest du reinnehmen, das ist pflicht (mit telefonnummer). sonst kann man dich rechtlich belangen.
alles liebe
sandri

"visitor" schreibt:

aus neugierde über dein alter hat es mich auf diese seite geführt. aber selbst hier wird man nicht fündig, ob du doch nur ein kindchen bist oder eine frau. denkt, was ihr wollt - aber mir gehen diese 18-22-jährigen kids so auf die nerven, die sich überall zur schau stellen müssen! meine güte, werdet älter und reifer! nur weil ihr euch tausendfach schminke ins gesicht schmiert und verschiedene posen ausprobiert, seid ihr noch lange keine schönheit! wahre schönheit kommt von innen, und die überträgt sich auch auf's äußere! außerdem: auf bildern kommt man immer viel schöner und perfekter als in der realität rüber! wenn man paar minuten in der sonne herumgelaufen ist, glänzt jedes gesicht - und weg ist der perfekte teint! aber ich vergaß: ihr steht ja auf dem pfingstfestival immer nur vor oder in der halle rum, weil dort die meisten fotografen rumlungern - und wartet stundenlang, daß euch dieser und jener auch mal knipst und hofft auf tausende von bildern in den zeitschriften oder im internet!
kritik muß sein! und nun zum lob! deine bilder sind dennoch schön - aber eben "plastik-plastisch", weil sie nicht natürlich sind. ich überlege, ob ich dich aufm sommerfestival in hi. vor zwei jahren gesehen hatte. damals sahst du aber süßer und sympathischer aus. zuviel schminke macht "hart", falls ihr versteht, was ich meine. ansonsten noch weitere schöne bilder ...
aaaaaaaaah, noch eine anmerkung: wozu ein forum und ein chat? wie jeder feststellen kann, gibt es nur ein mitglied - und das bist du selbst! und im forum konnte ich auch keine einträge finden. also mach dich nicht lächerlicher, als einige - wie man hier liest - dich sowieso schon finden und lösch es! das ist wirklich peinlich und zieht deinen charakter noch mehr runter!

"chatter" schrieb:

sie ist mittlerweile 19 ... also von daher ... recht haste

"moin" schrieb:

Also liebe Frau Darienne, ich dachte immer, Sie haben ein bisschen Intelligenz, doch gerade die NEUE Seite (der Aufbau, der Inhalt ...) zeigt doch nur, dass dein Niveau unterste Schublade ist!
Und deine Arroganz habe ich ja schon immer gekannt ... doch auch wenn sie unberechtigt ist ...
Dein Gesicht ist mittlerweile nur noch ein Gemälde ... *tz*

"Black Lily" schrieb:

Liebes Kind,
die "über 30-jährige Society" lässt Dich nicht mitspielen, was?
Putzig finde ich, das Du Dich über Deine "Klone" aufregst. Wenn man seine Birne in jede erreichbare Kamera hält, braucht man sich nicht zu wundern.
Tja, Prinzessin, manche Dinge kann man nicht erzwingen. Nicht mit bösen Gerüchten und mit Hass. Vielleicht lernst Du das ja doch noch ...

"miau" schrieb:

irgendwann kommt die zeit, da wirst auch du vielleicht den sinn des lebens kapieren. je früher, desto besser, denn je später, desto tiefer wirst du fallen, und zwar dann, wenn die schminke von deinem püppi-face abbröckelt ... schönheit hat übrigens nichts mit auftakeln zu tun. ich wünsche dir ganz viel erkenntnis; aber naja - mit 19 ist man halt noch ein bißchen dumm.

"realität" schrieb:

den letzten drei einträgen zustimme!
auf dich hat keiner mehr bock ... du machst dich unbeliebt, wie du hier sehen kannst! und das hat nichts mit neid zu tun! am besten, du löschst deine hp wieder, eh sinnlos hier *tztz*
werd erwachsen!

"bling" schrieb:

ich versteh nicht, warum du dich darüber auslässt, dass der eine oder andere deine stilideen nachmacht. woher hast du denn schließlich die ideen? Alles aus deinem eigenen köpfchen entsprungen? sicher nicht. auch du hast kopiert und nachgemacht. es ist ja auch okay. schlimm ist nur, dass man sich dann darüber aufregt, dass andere was nachmachen. denn flokati an den stiefeln gabs auch schon lang vor deiner zeit. und das ist nicht das einzige.

"Murmel" schrieb:

wie lustig und putzig doch die imaginäre welt dreinschaut ... fein, fein.
es gibt ja doch noch paar leute, die denken können.
das freut mich ungemein.
liebe grüße murmel

Kurz darauf löschte Darienne ihre Homepage. In ihrem Profil bei der Online-Kontaktbörse bezeichnet sie sich wieder als "vergeben".
Die Internetpräsenz zu der Band H.F. ist immer noch nicht fertig.
"... denn die Zeit für den neuen Menschen beginnt jetzt!" steht unten als Fußzeile, wenn die Titelseite hochlädt.
Was mit "jetzt" gemeint ist, bleibt offen. Die Seite ist eine Baustelle mehr, die Rafa hinterläßt, ebenso die Band. Fraglich ist, wie lange diese Band überlebt und ob jemals ein Album zustandekommt.
Platinum mailte über Darienne:

sie behängt sich mit plüsch und schminkt sich bis zur unkenntlichkeit; das ist ihre welt. offensichtlich scheint es nicht mehr für sie zu geben! wie armselig! ich bin froh, daß ich niemals so war. schon als jugendliche habe ich mich immer nach immateriellem glück gesehnt.

Platinum hat gehört, daß Darienne die Schule abgebrochen hat und versucht, eine Ausbildung zur Friseurin anzufangen.
In einer E-Mail berichtete Platinum von einer Internetseite namens "Nachtkuss", wo Rafa ein Gästebuch und ein Fotoalbum online gestellt hat. "Nachtkuss" ist ein Pseudonym von Rafa, das ich bisher nicht kannte.
Jetzt, da Platinum mich darauf aufmerksam gemacht hat, habe ich noch einmal nachgesehen in Dariennes Gästebuch, und tatsächlich, als zweiter Eintrag hatte im Februar jemand namens "Nachtkuss" unter Angabe einer URL geschrieben:

Sehr verehrte Frau Plastik,
mit Freuden habe ich Ihre neue Internetzpräsents zur Kentniss genommen und hoffe hier bald eine Ihnen entsprechend, absolut plastikfarbene Seite vorzufinden.
Der Grundstein für dieses scheint ja gelegt zu sein, so harre ich Ihrer Phantasie und Kreativität. Machen Sie die Birne auf und vergessen Sie nicht, daß es ohne diese Welt auch kein Ego gibt.
Hochachtungsvoll
N. Kuss

Die Rechtschreibfehler bilden einen Gegensatz zu Rafas Versuchen, intellektuell zu wirken. Ansonsten fällt mir an dem Eintrag auf, daß Rafa Darienne nach einem bewährten Schema umwirbt: er bestärkt sie darin, etwas Besonderes zu sein. Rafa kommt damit vor allem bei seiner Zielgruppe an: junge Mädchen mit wenig Selbstwertgefühl und wenig Selbstsicherheit.
Unter der von "N. Kuss" genannten URL fand ich die "Nachtkuss"-Seite. Kaum jemand kennt diese Seite, daher finden sich im Gästebuch fast nur Einträge von Darienne. Sie verwendet dort verschiedene Nicknames, unter anderem "Katzenfred". Vor allem das Fotoalbum der "Nachtkuss"-Seite finde ich interessant; es enthält Kinder- und Jugendfotos von Rafa. Man sieht Rafa als Baby im Taufkleid im Kinderwagen. Man sieht Rafas Vater, wie er vor einem Mercedes posiert. Die Mutter ist in Urlaubsgarderobe zu sehen. Ein Gruppenbild zeigt Rafa mit seinem Vater und seinem Bruder vor einem Holzschuppen; es ist warm, die Sonne scheint. Vater und Bruder stehen im Vordergrund, Rafa steht weiter hinten, ein Junge von etwa zwölf Jahren. Er wirkt auf mich zurückhaltend und verschüchtert. Auf einem anderen Foto sieht man Rafa ungefähr im selben Alter mit einem Fahrrad.
Im "Nachtkuss"-Gästebuch hat Darienne schwärmerische Gedichtfragmente verfaßt und mit Satzzeichen das Bild eines Teddybären gestaltet. Unter anderem ist dort zu lesen:

wurst willi denkt an DICH ... *wooohoooooo*
*s.s.* ^^
:-*

... und ...

... vermiss dich :(
<3!!!
:)
:-*

... und ...

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#__#___Katzen Fred grüßt___#__#
#___#__###__dich____###__#___#
#___###__und__###___#
_#__#__#_DENKT AN DICH_#__#__#__
__##__####____!!!____##_#__##
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... und ...

... die zeit ist gekommen ...
... einen eintrag zu hinterlassen ...
... der dir sagt ...
... dass es jemanden gibt ...
..... der an dich denkt .....
... nicht einschlafen kann ...
..... weil etwas fehlt .....
... und der dich "mag" ...
...*räusper*...
.. vd ..
. ! .
..... :) .....

... und ...

... auf diesem wege möchte ich ihnen unter anderem meinem dank aussprechen für die geduld mit meiner person im hinblick auf meine nicht vorhandenen html-kenntnisse ... *niederknie* - bin schwer beindruckt ;)!
des weiteren bekommen sie noch einen *spezial-kuss-weil-dich-mag* rüber geschickt :)
*mietz mietz*
:)

Zu Beginn des Gästebuchs bittet Rafa:

Wenn Sie sich schon in dieses Gästebuch verirrt haben, tragen Sie sich bitte hier ein!

Ich schrieb als "fractal":

Na gut. Zusammenhängende Sätze mit korrekter Rechtschreibung gibt es jedenfalls hier:

Darunter setzte ich eine URL, die zu meiner Website führt.
Der Eintrag war eine Anspielung auf die zahlreichen Rechtschreibfehler in Dariennes Einträgen, die hier übrigens korrigiert sind.
Platinum erzählte, wie sie mit ihrem Freund Titan zusammengekommen ist. Die beiden lernten sich im W.E-Forum kennen und chatteten viel miteinander. Dieses Jahr zu Ostern wurden sie ein Paar, als sie wegen des W.E-Konzerts gemeinsam nach BS. fuhren. Platinum meinte, Titan und sie seien wie füreinander geschaffen. Sie habe schon einige Freunde vor Titan gehabt, sei aber noch nie einem Menschen wie ihm begegnet. Sie schätze viele Eigenschaften an ihm: Hilfsbereitschaft, Fleiß, Kreativität, Ehrlichkeit, Schönheit ... Titan übertreffe alles, und sie wolle nie wieder mit jemand anderem zusammen sein.
Zu dem Verhältnis von Rafa und mir mailte Platinum:

ich denke einfach, du und rafa, ihr kennt euch sicher schon aus einer anderen inkarnation. denn wie sonst kann man diese liebe erklären? du vertraust dir da auch selbst und weißt, wie es wirklich ist. rafa dagegen verleugnet alles, am meisten sich selbst. das ist traurig, aber wenn er es selbst nicht anders will, kann ihm niemand helfen.
erfahrungen werden im zellgedächtnis gespeichert und wirken sich auf alle nachfolgenden leben aus. somit hat rafa jetzt unglaubliche verlustängste und läßt als konsequenz keine gefühle zu und niemanden wirklich an sich ran. so ist er der meinung, nichts verlieren zu können. und doch hat er alles verloren, weil er nie etwas gehabt hat.
ich habe auch das gedicht "kalte liebe" von berenice gelesen, und natürlich ist klar, von wem es handelt. apropos blick: rafa hat wirklich sehr schöne augen, und ich finde, sie schauen ohne dunkle brille fast ängstlich und sehr verletzlich drein ...

An Platinum mailte ich:

Ja, du hast auf den Punkt gebracht, wie ich die Sache sehe, ich glaube auch, es gibt da eine mysteriöse Verbundenheit zwischen Rafa und mir.
Ja, auch ich habe schon als Kind immer nach den immateriellen Werten gesucht!

Über Rafas Kinder- und Jugendfotos mailte ich:

Rafa war schon immer so niedlich wie jetzt. Und er sieht seinem Vater sehr ähnlich. Ja, eine Zeitlang mimte Rafa den Düster-Pierrot. Ungefähr mit fünfzehn begann er, sein Gesicht zu übertünchen, ziemlich ausufernd; daß er kreativ ist, ist klar, die Farbtöpfe reizen zum Experimentieren, aber so ein bißchen schien er auch sich selber wegschminken zu wollen, so wie er seine Augen heute immer hinter dieser oberscheußlichen Brille versteckt. Ja, die Augen gucken immer irgendwie sorgenvoll und traurig. Er versucht manchmal, sie "abzuschließen", daß man sie nur noch sieht wie Scheiben aus Kunststoff ohne Blick, aber das gelingt ihm nur vorübergehend.

Evan mailte:

Vielleicht kommt Rafa doch noch durch ein Schlüsselerlebnis zu sich. Denn seine Musik ist doch noch immer wieder ganz originell, und es wäre somit schade um ihn.

Am Samstag war ich mit Magenta im "Zone". Magenta erzählte von ihrer Verliebtheit in den berüchtigten Frauenhelden Janssen. Sie wisse, daß er keiner Frau treu sei und ihre Liebe nicht verdiene, dennoch wünsche sie sich, mit ihm zusammen zu sein.
"Aber ich weiß, daß es falsch ist, und ich bin so doof, es mir trotzdem zu wünschen", meinte sie.
Mir fiel auf, daß Magenta oft nicht hinter ihren Entscheidungen steht und sich derentwegen Vorwürfe macht. Allgemein neigt sie dazu, im Unglück die Schuld bei sich selbst zu suchen. Passiv und pessimistisch gibt sie sich ihren Selbstanschuldigungen hin und betrauert Verluste und Mängel in ihrem Leben, anstatt Wünsche und Ziele zu formulieren und aktiv und optimistisch an ihrer Umsetzung zu arbeiten. Sie urteilt sich und andere pauschal ab ("Männer sind eben sch...") und versucht nicht, ihre Situation zu differenzieren und ein folgerichtiges Handeln abzuleiten. Es fällt ihr schwer, ihren eigenen Willen wahrzunehmen und in Worte zu fassen, und ebenso schwer fällt es ihr, zu ihrem Willen zu stehen. Selbstzweifel knicken sie wie einen Halm im Wind.
Hintergrund für Magentas Selbstwertproblem kann ihr Verhältnis zu ihrem Vater sein. Sie erzählte, ihm wäre es lieber gewesen, es hätte sie gar nicht gegeben. Nichts konnte sie ihm rechtmachen.
"Wahrscheinlich wird die Beziehung zu deinem Vater in jeder deiner Liaisons reinszeniert", vermutete ich.
"Und ich suche mir immer wieder nur A...löcher aus, in die ich mich verliebe", seufzte Magenta.
"Das wird sich in dem Augenblick ändern, in dem du aufhörst, dir die Vorwürfe zu machen, die dein Vater dir gemacht hat", meinte ich. "Wenn du zu deinen Entscheidungen stehst, brauchst du dir keine Vorwürfe mehr zu machen. Es ist egal, ob du mit Janssen was anfängst oder nicht. Wichtig ist nur, daß du hinter dir stehst, wie du dich auch entscheidest."
"Wenn das so einfach wäre", sagte Magenta.
Diesen Satz höre ich häufig von ihr.
Im "Zone" war Les nicht, denn sein Auto war kaputt. Ich traf Barnet, Heloise und Felicity. Heloise glaubt, daß die an Chorea Huntington erkrankte Nancy nie wieder in eine Discothek gehen wird. Ihr Freund soll sie abschirmen, auch gegen ihre Freunde, und sie soll mehr und mehr den Mut verlieren zum Ausgehen. Nancy, die mir in Erinnerung ist als schlanke, gut aussehende Blondine, soll sehr zugenommen haben und ihr jugendliches, hübsches Aussehen verloren haben. Heloise meinte, ich würde Nancy nicht wiedererkennen, wenn ich sie jetzt sehen würde.
Als im "Zone" ein Titel von Rafa gespielt wurde, erzählte Heloise, ihr sei aufgefallen, daß einige von Rafas Texten frauenfeindlich sind. Frauen würden darin zu bloßen Objekten degradiert. Dem konnte ich nur zustimmen.

Am Sonntag habe ich geträumt von einem großen weißen Touristenschiff auf einem sehr breiten Gewässer, das ich von einem Heuschober aus betrachtete. Dieses Schiff wuchs und wuchs immer weiter in die Höhe; schließlich waren seine Aufbauten fünfmal so hoch wie gewöhnlich, und oben saß noch einmal ein Aufbau, der war fast so groß wie der Schiffsrumpf. Das hohe Gebilde erinnerte an ein aufrecht auf dem Wasser stehendes Menschenwesen. Durch die Höhe wurde es kipplig, und es suchte Halt bei einem zweiten Schiff, das nebenher fuhr, fast ebenso hoch, nur schmaler und ohne den kopfähnlichen, fast schiffsrumpfgroßen Aufbau an der Spitze. Ab und zu entfernte sich dieses zweite Schiff ein Stück, kam aber nach kurzer Zeit wieder, wohl weil es selbst kipplig war und Halt brauchte.
Wie es geschah, weiß ich nicht, jedoch war ich auf einmal in dem "Kopf" des größeren Schiffs und blickte durch Bullaugen tief hinunter aufs Wasser und auf die Wiesen und Felder, die das Gewässer säumten.
Im Schiff gab es einen Kiosk, dort kaufte ich Süßigkeiten und aß so viele, daß mir übel wurde. Ich hoffte, gegen meine Sorgen "anessen" zu können, aber ich fühlte mich nur elend dadurch. Die allergrößte Sorge war, ob ich jemals mit Rafa Kinder haben kann. Dies zog mich innerlich in einen Abgrund.
Vor einem Waschraum sah ich einen Mann, der ein wenig wie Rafas Vater aussah, den ich ja von Fotos kenne. Der Mann trug ein Handtuch um die Schultern. Er schien sich gestört zu fühlen, als ich ihn ansprach, hörte mir dann aber bereitwillig zu. Ich erklärte ihm, was er anscheinend noch nicht wußte, daß nämlich das Schiff, mit dem wir unterwegs waren, in die Höhe gewachsen war und zu kippen drohte. Es würde schwer sein, es in einem sicheren Hafen zu bringen.

Was nun soll dieser bizarre Traum bedeuten? Eine Deutung, die paßt wie ein durchgepaustes Bild aufs Original, wäre folgende:
Das in die Höhe wachsende, "hypertrophe", "selbstüberhöhende", auf alle anderen Wesen herabschauende Schiff ist Rafa. Er geht auf dem Wasser wie Jesus Christus, mit dem er sich vergleicht, unter anderem in dem Text von "Auf nach Golgatha":

Ich bin Gottes neuer Sohn.
Seht mich übers Wasser gehn,
der Verführung widerstehn.

Die hohe, schlanke Form macht das Schiff jedoch kipplig. Rafa sucht Halt bei einem zweiten, kleineren, ebenso selbstüberhöhenden und kippligen Schiff, das meistens neben ihm herfährt, zwischendurch jedoch den Abstand vergrößert. Dieses zweite Schiff ist Darienne. Sie hat keinen Kopf, überläßt das Denken und Lenken also Rafa.
Das Schiff Darienne ist nicht immer an Rafas Seite. Die Beziehung ist brüchig und gibt keinen verläßlichen Halt.
In Rafas Kopf bin ich. Auch Rafas Vater ist dort. Wir überlegen, wie wir das Schiff Rafa in einen sicheren Hafen bringen.
Ivco mailte, daß am 17. September sein Sohn Lucian zur Welt gekommen ist. Er schickte mir Familienfotos.
Am Mittwoch habe ich Folgendes geträumt:

In der Nähe der Post in Awb. sah ich meinen Klassenkameraden Cygnus vorbeilaufen, mit dem ich in der Sekundarstufe I zur Schule gegangen bin. Hinter der Post gibt es einen Wohnblock, da hat Cygnus damals gewohnt. Ich erkannte ihn gleich, denn er trug dieselben Kleider wie damals, als er in meine Klasse ging, und er trug auch die Haare so wie damals. Ich ging auf ihn zu und wollte sagen:
"Hi, laß' uns über alte Zeiten plaudern!"
- da meldete sich schon der Wecker, und ich konnte nicht zuendeträumen.

Mit Cygnus und einem anderen Klassenkameraden - Henley - wollte ich früher schon ein unbefangenes Gespräch führen, war aber zu schüchtern dafür. Heute wünsche ich mir das immer noch. Die beiden habe ich seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen und nichts mehr von ihnen gehört. Dasselbe gilt für einen weiteren Klassenkameraden, Excel.
Am Donnerstag war ich in der "Spieluhr", wo Les auflegte. Darius begrüßte mich unbefangen und freundlich; er wirkte auf mich viel offener und selbstsicherer als noch vor drei Jahren. Darius erkundigte sich, was aus Rafas Projekt H.F. geworden ist. Ich erzählte:
"Nachdem du Rafa aus 'Das P.' hinausgeworfen hast - anders kann man es ja nun nicht nennen -, hatte er ja schon zwei Termine für Auftritte vereinbart, die er nicht absagen konnte. Deshalb hat er sich gegriffen, was zur Verfügung stand, und das waren Herr Lehmann und Darienne. Und mit denen hat er den 'neuen Menschen der Zukunft' gegründet, 'H.F.', und er ist mit ihnen an den Terminen aufgetreten und hat Stücke von W.E gespielt, weil die ja kaum eigene hatten. Weil Darienne keine musikalische Begabung hat, durfte sie nur auf einem Schlagzeug herumhämmern - das habe ich auf einem Foto gesehen, das sie auf ihrer Internetseite hatte. Ob Herr Lehmann musikalisch was drauf hat, weiß ich nicht ..."
"Der kann auch nichts!"
"O.k., jedenfalls stand der auch auf der Bühne und hatte irgendein Instrument, das Mikrophon hatte aber Rafa."
"Die anderen beiden sind Marionetten."
"Ja, die sind dazu da, daß er sich auf der Bühne nicht so allein fühlt", bestätigte ich. "Rafa möchte ja gerne immer alles allein bestimmen ..."
"Das hat er bei 'Das P.' ja auch versucht."
"Genau, und er hat es sich nach Kräften mit dir verdorben. Der hat ja sogar mit Dessie angebändelt."
"Jaha."
"Und das, obwohl er damals noch mit Berenice zusammen war. Ich sage dir, der hat das nicht getan, weil er an Dessie Interesse hatte, sondern nur aus Zerstörungswut. Der überlegt nur:
'Was mache ich denn heute mal kaputt? - Ach ja, ich kann ja mal die Freundin meines Freundes angraben.'"
Darius hat mit Herrn Lehmann und Darienne nichts mehr zu tun. Ich erzählte, daß Rafa Darienne zu Pfingsten in L. betrogen hat und daß sie ihm deshalb Ende August eine mehrstündige Szene gemacht hat.
"Und dann hat Rafa sein Versöhnungs-Programm abgespielt", fuhr ich fort.
"Und sie ist voll drauf reingefallen", vermutete Darius.
"Genau!" nickte ich. "Sie hat ihm jedes Wort geglaubt. Sie himmelt ihn immer noch an und ist so stolz, seine Freundin zu sein."
"Die passen echt gut zusammen."
"Die passen genauso zusammen wie der Alkoholiker und die Flasche", meinte ich.
Darius kicherte.
"Rafas Beziehungen sind Abhängigkeits-Beziehungen", setzte ich hinzu. "Die Frauen werden von ihm nur konsumiert. Die sollen ihm nur nach dem Mund reden, und er will alles bestimmen."
"Mit den Männern versucht er das ja auch."
"Oh ja, das war bei 'Das P.' auch so. Jedenfalls ... die Internetseite von H.F. wird einfach nicht fertig, und mit dem Projekt scheint es auch nicht wirklich voranzugehen. Gibt es denn etwas Neues von 'Das P.'? Tretet ihr mal wieder live auf?"
Darius berichtete, daß unter anderem ein Auftritt in MD. geplant ist, daß der Termin aber noch nicht sicher feststeht.
Ich erzählte, daß ich in der Reha-Klinik, wo ich arbeite, Schlaganfall-Patienten behandle und daß Rafa eines Tages dort Patient werden könnte, wenn er so weiterraucht wie jetzt.
Darius erzählte von dem Kindersanatorium auf Norderney, wo er war und wo auch Constri und ich waren. Darius hat an die damalige Zeit schlimme Erinnerungen; zweimal sei er bei einem Asthmaanfall fast gestorben. Ich erzählte, daß Constri und mich vor allem die Bevormundungen und Reglements in dem Sanatorium störten.
Vor ein oder zwei Jahren war Darius wieder auf Norderney, mit Rafa und Sten. Sten soll dort ein Haus geerbt haben.
"Norderney ist ja nicht gerade groß, und an jeder Ecke habe ich mich erinnert, daß ich da früher auch schon gewesen bin", erzählte Darius. "Mir ging es deshalb ziemlich schlecht. Das haben Rafa und Sten überhaupt nicht verstanden. Ich habe versucht, denen das zu erklären, aber die haben mich nicht verstanden."
Ende September war ich in WÜ. und aß mit Victoire in einer historischen Wassermühle am gemauerten Mainufer zu Abend. Wir saßen in der letzten Herbstwärme auf dem Balkon. Es gab Mühlenwürstchen und Mühlenbrot. Unter uns rauschte das Wasser vorbei. Vor uns lag die alte Mainbrücke mit den steinernen Fürstbischöfen darauf. Neben der Fahrrinne vor dem gegenüberliegenden Ufer gibt es eine Schiffs-Ampel. Sie ist im Mauerwerk der Brücke eingelassen. Wir schauten zu, wie sie umsprang, wenn ein Lastkahn vorbeifuhr.
Am nächsten Vormittag schaute ich mir die Fürstbischöfliche Residenz an. Dort gibt es im Souvenirshop Kinderartikel mit einem als Kind dargestellten Ludwig II. von Bayern, der "Minikini Luggi" genannt wird. Die Figur ist auf T-Shirts und andere Souvenirs gedruckt, und es gibt Bilderbücher, die Titel haben wie: "Minikini Luggi und der verlorene Teddy". Der "Minikini" geht in den Kindergarten und muß abends früh zu Bett gehen.
Nachmittags war ich in S. bei der Weinlese am Hang unterhalb von Irmins Haus. Ich konnte eben noch ein paar Trauben miternten, dann war alles fertig, denn die Großfamilie hatte morgens schon angefangen. Unten im Dorf schaute ich in der Kelter zu, wie die Trauben entbutzt und in ein Becken geschüttet wurden, das für die Herstellung der lokalen Spezialität "Schillerwein" gedacht war. "Schillerwein" ist eine Mischung aus lokalen Traubensorten, roten und weißen. Er ist benannt nach dem "Schillererker" in einer historischen Gaststätte in Rh., wo Schiller tatsächlich einmal gewesen sein soll.
Irmins Haus, das er von seiner Mutter geerbt hat, liegt oberhalb von Rh. am Hang, und man hat von dort aus einen Panoramablick. Den früheren Balkon im Obergeschoß hat Irmin zu einem Glaserker umgebaut. Dort saßen Irmin, seine Frau Jana und ich am Abend, mit Blick auf den Fernsehturm, und es wurde eine Flasche Wein aufgemacht.
Der Dachboden von Irmins Haus ist eine Fundgrube. Dort gibt es viele Bücher aus vergangenen Jahrzehnten, darunter züchtige Jungmädchengeschichten - artig, steif, vorhersehbar. Hauptthema ist die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen. In jener Zeit war es noch unvorstellbar, daß beides miteinander vereinbar ist, wenn die Männer den Frauen etwas entgegenkommen.
Amaryllis, die jüngere Tochter meiner Cousine Lisa, feierte ihren dritten Geburtstag mit einer Kinderparty. Amaryllis bekam, passend zum Alter, eine dreieckige Torte.
In der Herbstsonne sammelten wir Walnüsse ein, die von einem Baum gefallen waren, und gingen am Hang auf Kieswegen zwischen landwirtschaftlich genutzten Grundstücken hindurch, Stückles und Wingerts. Besonders malerisch finde ich die uralten steinernen Treppchen, die an den seitlichen Grundstücksgrenzen hangaufwärts führen.
Ein Schatten liegt über Irmins Familie. Garret, Irmins Sohn, leidet seit Jahresbeginn an Schizophrenie, die sich vermutlich auf dem Boden eines Asperger-Syndroms entwickelt hat. Die Krankheit brach aus, als Garret sein Jurastudium abgeschlossen hatte. Alle sind sehr in Sorge um Garret. Bisher hat noch kein Medikament wirklich geholfen, zumindest nicht auf Dauer.
Zum Schluß meines Aufenthalts in S. besuchte ich meine Tante Britta und ihren Mann Wilko. Ihr Sohn Corell war aus B. zu Besuch gekommen. Corell hat immer noch seine Freundin Talia, die in Madrid lebt. Daß die beiden noch nicht zusammengezogen sind, hat vor allem berufliche Gründe.
Am Freitagabend kam ich nach KR., wo das "Maschinenraum"-Festival stattfand. Ich ging heute nicht mehr aus, sondern legte mich im Hotel schlafen. Das kam mir zugute, denn der nächste Tag und die sich anschließende Nacht wurden lang.
Am Samstagmittag ging ich einkaufen und traf im Supermarkt Irvin, den ich von den "Stahlwerk"-Parties kenne. Wir bummelten gemeinsam weiter und begegneten Dagda und zwei Freundinnen, Medeana und ein rotgelocktes Mädchen namens Tiziana. Die drei waren übernächtigt und wollten erst einmal schlafen gehen.
Irvin kannte ein hübsches Bistro, in dem man für wenig Geld gut essen konnte. Dort hielten wir unser Mittagsmahl. Außer uns taten das noch mehr Festivalgäste.
Irvin erzählte, daß Dagda seine beste Freundin ist, aber nicht seine Lebensgefährtin. Er hat die Frau seines Lebens noch nicht gefunden.
Über Darien meinte Irvin, mit Dera habe er wirklich Glück gehabt. Dariens bisherige Freundinnen habe man in die Tonne treten können. Dera sei in Ordnung, und sie habe es mit Darien bestimmt nicht immer leicht.
Auf dem Festival traf ich viele Leute wieder, darunter KiEw-Musiker T.D. und Eric van W. Eric umhalste Tiziana und wollte mit mir tanzen, was wir dann auch taten.
Industrial-Musikerin Morgenstern erzählte, daß sie früher in HH. gewohnt hat und daher die "Stahlwerk"-Parties kennt. Später zog sie mit dem Industrial-Musiker Asche im Raum BI. zusammen, und jetzt lebt sie in C-R. Asche und sie sehen sich nur an den Wochenenden.
Musiker und Besucher beim "Maschinenraum"-Festival sind international, einige kommen aus Übersee, manche sogar aus Fernost.
Diddo stellte mir ein Mädchen namens Natta vor, das Plastikschnüre und Plastikschläuche verkauft, mit denen man sich die Frisur verschönern kann. Natta war besonders kunstvoll kostümiert. Heute trug sie eine pinkfarbene Plüsch-Corsage, die vorne mit schwarzen Schnallenriegeln geschlossen war. Dazu trug sie ein Miniröckchen aus schimmerndem Plastik und hohe Plateaustiefel. Ihre rosa Kunstzöpfe reichten bis zur Taille. Natta ist groß und sehr schlank, so daß ihr diese "Manga-Garderobe" gut steht.
Es gab viele schrille Kostüme zu sehen. Ein Pärchen trug rotes Nadelstreifendekor, kombiniert mit weißem Hemd bzw. Puffärmel-Bluse, dazu er mit feuerroter Stachel-Irokesenfrisur, sie mit weißen Zopfschleifchen. Es gab ein Harems-Kostüm mit bauchfreiem Oberteil zu bewundern, das unten mit Glitzerkettchen gesäumt war. Ein Mädchen hatte sich die Augen wie grüne Flammen geschminkt . Ein Kostüm war mit verschiedenen Verpackungsfolien garniert. Das Röckchen bestand aus Bündeln von Verpackungsfolien. Es gab Röckchen aus Plastikfolie, in Regenbogenfarben schimmernd und in Pink. Es gab ein hinten geschnürtes Girlie-Kleidchen in himmelblauem Nadelstreifendekor. Es gab ein Oberteil mit tiefem Decolleté, und oben war ein schnallenverziertes Halsband angesetzt. Und, und, und ...
Zwei Jungen hatten W.E-Fan-T-Shirts an mit dem Cover-Motiv von Rafas nächstem Album "Chaos Total", das noch nicht erschienen ist. Die Musik, die Rafa macht, empfinde ich als so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was auf dem "Maschinenraum"-Festival läuft. Vielleicht war der Kontrast in diesem Fall gewollt ... oder die beiden Jungen halten Rafas Getrommel auf einem Ölfaß tatsächlich für Industrial.
Es gab eine Zeit, da hat Rafa wirklich mit Industrial experimentiert, das ist aber mehr als zwölf Jahre her.
Ein Highlight des diesjährigen "Maschinenraum"-Festivals war der Auftritt von Sonar, sie spielten nachts um drei. Sie brachten einen Clubhit nach dem anderen, ich kam aus dem Tanzen nicht heraus.
Im Merchandize-Bereich gab es interessante Verpackungen für Tonträger zu bestaunen. Ich kaufte eine Kassette als limitierte Ausgabe in einem selbstgestrickten weißen Baumwolltäschchen. Es ist ein Sampler namens "My MHz".
Als ich wieder zu Hause war, bekam ich eine Nachricht von einem "Maschinenraum"-Gast namens Rho, der mir vor zwei Jahren auf dem "Maschinenraum"-Festival begegnete. Er erzählte, daß er mich damals fotografiert hat und mailte mir das Bild. Er schrieb dazu:

Look who is dancing ! The picture that I talked about. You were a pleasure to watch.

Es war sehr kalt in der Ruine, wo das Festival damals stattfand - zwei Grad über null. Das Tanzen hielt mich warm. Immerhin war die Musik so gut, daß ich Lust hatte zum Tanzen, was vor allem für das Konzert von Sonar galt, die damals auch auftraten.
Rho und ich mailten über Industrie- und Ruinenkulissen. Rho erzählte von seiner Internetseite, die sich vor allem mit Neofolk befaßt.
Denise kann schon eine Rolle vorwärts, auch mit Puppe im Arm. Die Rolle führte sie mir auf Constris Bett vor. Als sie von Constris großer Plüsch-Schnecke herunterspringen wollte, rief sie:
"Ich kann bringen!"
Sie versucht auch schon, auf Bäume zu klettern.
"Das habe ich mir früher nie getraut", meinte Constri. "Von mir hat sie das nicht."
"Dann hat sie es von mir", meinte ich. "Ich bin früher immer auf Bäume gestiegen."
Denise spielt begeistert mit ihrem Puppengeschirr aus Porzellan. Weil sie noch kein Besteck hat, nimmt sie Gegenstände, die herumliegen, und erklärt sie zu Besteck. Auch Gerichte stellt sie auf diese Weise her.
Constri nimmt in ihren Kunstwerken häufig Bezug auf ihr Muttersein und die Beziehung zu ihrem Kind. Das macht diese Kunstwerke besonders lebendig und bewegend. Zwei Fachprüfungen hat sie mit 1,0 bestanden. Die eine bestand aus ihrem Film "Schlafe, schlaf mein Kindelein", die andere war ein Referat zum Thema "Kinder und Fernsehen". Constri liegt mit der Aussage des Referats im Trend der Zeit: Fernsehen ist wichtig, Kindern sollte jedoch der Umgang mit dem Medium beigebracht werden, damit sie sich nicht davon beherrschen lassen.



Am Freitag fuhr ich gleich nach der Arbeit nach NDH. Ich kam eine halbe Stunde nach dem Beginn von Rafas Konzert dort an. Ungefähr so hatte ich das auch vorgehabt. Ich wollte nicht mit einer Woge von Fans in den Saal stürmen.
Ich ging ganz in Schwarz. Ich hatte die schwarze Samtcorsage an mit dem Spitzenbesatz, der sich an dem dazugehörigen Halsband wiederholt. Dazu trug ich den langen weiten Tüllrock, den ich aus drei einzelnen Röcken kombiniert habe. Meine Haare hatte ich zusammengebunden und verziert mit Kunsthaarzöpfchen und Organzastreifen. Wie meistens trug ich die langen schwarzen Abendhandschuhe.
Im Saal stand Rafa mit Dolf, Tyra und Nina auf der Bühne. Darienne vermutete ich in der ersten Reihe, sah sie dort aber nicht. Tron begrüßte mich und nahm mich mit zu einem etwas erhöhten Eckchen, wo man abseits des Gedränges einen guten Blick auf die Bühne hatte und genügend Platz und Ruhe zum Plaudern. Dort standen auch Xenon, Luna und einige Bekannte der beiden.
Rafa sagte "Wo kommen all die Geister her?" an, sein Lied über Fernsehshows.
"Jedesmal spielt er dieses Lied", stöhnte Tron. "Und ich mag das doch nicht."
Rafa hatte ein Theremin aufgestellt und untermalte das Stück mit Klängen dieses historischen elektronischen Instruments.
"Das haut es 'raus", lobte Tron, und ich pflichtete ihm bei.
Das Instrument fasziniert durch seine einfache Bauweise und die bizarren Sounds, die damit hergestellt werden können. Dem Theremin haben Covenant ein gleichnamiges Stück gewidmet.
Tron erzählte, daß Rafa bei der Ankündigung von "Deine Augen" alle Zuschauer aufgefordert hatte, ihren Liebsten in die Augen zu sehen.
"Das gilt natürlich auch für Schwule", hatte Rafa hinzugefügt.
"Das ist doch o.k.", meinte ich.
"Das sind zehn Prozent mehr verkaufte Platten für Rafa", vermutete Tron.
Rafa spielte auch "Tanz eiskalt", "Schweben, Fliegen und Fallen" und "Starfighter F-104G". Wie immer wurden bei "Schweben, Fliegen und Fallen" schwarze Luftballons mit Bandlogo ins Publikum geworfen und bei "Starfighter F-104G" Papierflieger. Tron bemängelte, daß Rafa auf der Bühne immer wieder dieselben Stücke spielt.
"Er sollte mal 'Ganz in Weiß' spielen oder 'Schneemann'", meinte ich. "Oder 'Der strahlende Held'. Diese Stücke mag ich nämlich, und die spielt er praktisch nie."
Tron und Xenon mögen "Ganz in Weiß" auch.
Rafa sagte ein Stück an, das auf seinem kommenden Album erscheinen wird. Es klang wie fast alle anderen, weder in der Musik noch im Text beschritt Rafa neue Wege. Wieder wollte er irgendwohin fliegen, weit weg von der Welt, in der er lebt.
"Rafa kommt in den meisten Texten mit dreißig verschiedenen Wörtern aus", meinte Tron.
Ich bestätigte dies und zählte Themen auf, die Rafa mit unbarmherziger Wiederholung in seinen Texten anspricht - Flucht vor der Welt, vor der Gegenwart, vor sich selbst, mit einem anonymen, austauschbaren "Du" ... in eine Welt, die allein auf seine eigenen Wünsche abgestimmt ist, die aber nie genauer beschrieben wird.
Ich lobte, daß Rafa dieses Mal auf die seit mehr als vier Jahren üblichen drehbaren Leuchtdreiecke auf der Bühne verzichtet hatte und stattdessen rechts und links von der Bühne auf Leinwänden abstrakte Videos zeigte.
Mir fiel auf, daß Tron und Xenon auf Applaus verzichteten, ebenso wie ich, die ich allenfalls angedeutet applaudierte, wenn mir etwas gefallen hatte. Gerade die Fans, die sich im W.E-Forum viel zu Wort melden, die viele Kontakte knüpfen und sich anderen Menschen gegenüber offen zeigen, betrachten Rafa mit kritischeren Augen als diejenigen, die bierselig mit "W-E-W-E!"-Rufen vor der Bühne herumspringen.
Nichtsdestoweniger freute sich Tron über die Begeisterungsfähigkeit der Fans im Osten. Er findet das Szenevolk in H. eher kühl.
Rafa brachte mehrere Zugaben. Er bedankte sich durchs Mikrophon bei Fanclub-Organisator Valerien, der mit freundlichem Gesicht am Merchandizing-Stand bediente:
"Und jetzt ein Spezial-Applaus für Valerien!"
"'Spezial' scheint Rafas Lieblingswort zu sein", meinte Tron.
"Ja, das ist mir auch schon aufgefallen", erzählte ich. "Und er benutzt auch gerne Gossen-Wörter."
"Damit will er vielleicht provozieren."
"Ja, bestimmt."
Es gab am Merchandize-Stand noch die Vinyl-EP "Horizonterweiterungen", die ich bisher zu kaufen vergessen hatte, und eine MiniCD-Sonderedition, auf der sich Stücke von W.E-Epigonen und das Stück "Unmenschlich" von Feindsender befinden. Ich kaufte beides und spendete für die SOS-Kinderdörfer, indem ich ein Badge kaufte. Für den Tierschutz gab es dieses Mal keine Unterschriftenliste.
Tron und ich wunderten uns, weil wir Darienne nirgends entdecken konnten. Rafa schien sie nicht mitgenommen zu haben.
Tron hatte mir CD's mitgebracht, die er für mich gebrannt hatte. Auch "Switched on Bach" war dabei, jene legendäre Aufnahme von Bach-Stücken, die in der Frühzeit der elektronischen Musik mit schwerfälligen Synthesizern eingespielt wurden.
Nach dem Konzert blieben Rafa und die anderen Bandmitglieder eine Weile verschwunden. Ich begegnete Cyris, Artemis und schließlich W.O.L.F., der mich stürmisch begrüßte. W.O.L.F. scheint in seinem Freundeskreis sehr beliebt zu sein. Er war wie immer sehr nett und lächelte meistens. Ich mußte daran denken, wie er mir von seinen Selbstmordgedanken erzählt hatte, und ich hoffte, daß er durch den Zuspruch seiner Freunde und die Bindung an sie genügend Kraft schöpfen würde, um davon auf Dauer Abstand zu nehmen.
In einer Sitzecke und davor entwickelte sich ein Treffpunkt für diejenigen, die durch das W.E-Forum Kontakte zueinander haben, auch unabhängig von Rafa und ihrer Vorliebe für seine Musik. Dort begegnete mir Wave, der meinte, daß er spinnt, sei ihm vollkommen bewußt. Er macht aus seiner Verehrung für Rafas Musik einen verspielten Kult und lebt vergnügt das Kindliche im Erwachsenen aus.
Waves Freundin Shannon erzählte, daß sie bald von DD. nach H. ziehen wird, um Tiermedizin zu studieren. Sie bat mich um Tips für das Nachtleben in H.
Platinum saß mit ihrem Freund Titan in der Sitzecke. Mit Platinum unterhielt ich mich die meiste Zeit. Sie berichtete, daß Tyra und Nina W.E nach dem 15.10. verlassen werden. Sie stören sich an Rafas Verhalten. Ein weiterer Grund für Nina, bei W.E auszusteigen, ist ihr Umzug nach F.
Ich frage mich, ob Dolf jemals aus der Band aussteigen wird. Er war ja schon mehr als einmal nahe daran.
Ich frage mich außerdem, ob es Rafa zum Nachdenken bringt, wenn gleich zwei Bandmitglieder auf einmal aussteigen.
"Berenice hat in den letzten Tagen dreimal mit Rafa telefoniert", erzählte Platinum. "Als sie Rafa gefragt hat, wie es mit W.E so läuft, hat er gesagt:
'Alles bestens!'
Ich glaube, der war nahe am Loslachen."
Als die DJ's "Precious" von Depeche Mode auflegten, lief ich zur Tanzfläche. Ich tanzte außerdem zu "Homeward" von VNV Nation.
Rafa und die anderen Bandmitglieder halfen auf der Bühne beim Abbauen, waren aber immer nur kurz zu sehen. Rafa trug das blaue Batik-Shirt und die schwarze Weste. Seine Sonnenbrille hatte er abgesetzt. Er lief einige Male an der Sitzecke vorbei, begrüßte auch die Fans, die dort saßen, mit Handschlag, ließ sich aber auf keine längeren Gespräche ein und setzte sich auch nicht dazu. Rafa lief immer dann an der Sitzecke vorbei, wenn ich gerade nicht in der Nähe war. Platinum erzählte mir, er habe versprochen, sich später noch dazuzugesellen. Ich bezweifelte dies.
Als Rafa wieder einmal auf die Bühne gestürmt war, um etwas abzubauen, stellte ich mich mit Wave in den Weg, der vor der Sitzecke von der Bühne zum Backstage führt. Rafa hatte sich seine graue Jacke übergezogen und schien im Aufbruch zu sein. Als er von der Bühne herunterkam und auf Wave und mich zuging, wich er nicht aus. Ich lächelte ihn an, und er lächelte ebenfalls. Ich kraulte ihn an der Schulter und streichelte seinen Arm. Er stellte sich auf Waves Bitte an ein Tischchen in der Sitzecke und schrieb eine Widmung auf eine Vinylplatte. Ich fuhr Rafa mit einem Finger über die Haare, weil ich die schon so lange nicht mehr gestreichelt habe. Rafa trug an jedem Finger einen Ring. Er schreibt mit links, aber von unten her; das ist mir schon früher aufgefallen.
Als Rafa mit der Widmung fertig war, hatte er es eilig, weiterzukommen. Auf der Treppe, die in den Flur zum Backstage führt, gab Artemis ihm einen Party-Hut, den sie beschriftet hatte. Rafa mußte den Hut aufsetzen und wurde damit fotografiert. Er wählte die Pose mit dem vorgestreckten Arm mit dem Daumen nach oben. Solche Fotos mag ich nicht, weil man Rafa darauf nicht als Persönlichkeit erkennt; freilich dürfte dies von ihm durchaus beabsichtigt sein.
Artemis nahm Rafa den Hut wieder weg, und er verschwand.
Platinum sagte zu mir, sie glaube, daß ich Rafa etwas bedeute. Als er auf mich zugegangen sei, habe er so selig gelächelt, wie sie das gar nicht von ihm kenne.
Platinum vermutete, auf seiner Geburtstagsfeier Anfang dieses Jahres sei Rafa durchaus ein bißchen schwach geworden.
"Der wird immer schwach, wenn er näher als einen Meter an mich herankommt", meinte ich. "Deshalb vermeidet er es ja, so nah an mich heranzukommen."
"Wird der schwächer mit der Zeit?" erkundigte sich Platinum.
"Nein, das bleibt immer alles gleich, da verändert sich nichts", war ich sicher. "Es ist wie bei jeder Sucht. Rafa ist ja schwer suchtkrank."
"Noch was anderes als Zigaretten?"
"Ja, Promiskuität."
"Das heißt nochmal ...?"
"Vielweiberei. Gefühlloser Sex. Rafa betrügt seine Freundinnen so nebenbei, wie andere sich einen Hamburger holen. Das ist reiner Konsum. Das Fremdgehen ist bei ihm in jeder Beziehung schon inbegriffen. Der hat gar nicht vor, treu zu sein."
"Hat er Berenice auch betrogen?"
"Aber natürlich."
Ich erzählte, was ich alles schon über dieses Thema gehört hatte.
"Meinst du, Berenice wußte davon?" fragte Platinum.
"Ja, ich denke, sie wußte es", erwiderte ich. "Das war wohl auch der Grund, warum sie Rafa mit Seraf betrügen wollte ... aus Frust."
Ich erzählte, daß ich in dem Roman "Wirklichkeit" den Weg nachgezeichnet habe, der bei Rafa zu seiner Vorliebe für oberflächliche Bettgeschichten führt:
"Er fühlt sich klein, schlecht und ohnmächtig. Und wenn er eine Beziehung hat mit einer Frau, die ihn nicht durchschaut und ihn nur anhimmelt, kann er sich vorübergehend groß, gut und mächtig fühlen. Das ist aber nur ein Rausch, wie der Alkoholrausch. Danach fühlt er sich noch elender als vorher. Er gräbt immer wieder Frauen an, um das Erlebnis immer wieder zu haben."
Ich erzählte von den Aggressionen, die die Freundinnen von Rafa gegen mich entwickeln.
"Die wissen nicht, wo sie ihre Aggressionen lassen sollen", meinte Platinum. "Rafa wird idealisiert, den wollen sie nicht verlieren. Da bist du das nächste greifbare Zielobjekt."
Über die Freundinnen, die Rafa auswählt, sagte Platinum:
"Das sind alles typische Beispiele für unreife Frauen. Wenig Selbstbewußtsein ... die Bereitschaft, jemanden anzuhimmeln ..."
"Und wenn sie sich weiterentwickeln, steigen sie aus."
Platinum erkundigte sich, in welcher Situation Darienne drohte, mich mit ihrem Cocktail zu überkippen. Ich schilderte, wie Rafa sich in Ivcos Partykeller vor mir entblößte.
"Ich habe ihn umarmt und mir vorgenommen, jetzt umarme ich ihn so lange, bis wir beide umfallen", erzählte ich. "Und das hat Darienne mitbekommen."
"Hatte er vorher Zeit, seine Hose wieder hochzuziehen?"
"Nein."
"Ohh ..."
"Und dann hat Darienne mir an die Schulter getippt und gedroht, mich mit ihrem Cocktail zu überkippen. Rafa ist weggelaufen, er ist ja in dieser Hinsicht feige. Und ich bin auch weggegangen, und Rafa und ich haben uns woanders weiter unterhalten. Er ist aber immer wieder zu Darienne hingegangen und hat ihr Liebesbeteuerungen ins Ohr geheuchelt."
"Ich habe ihn ja nun erlebt ... er ist ja schon imposant ... er ist eine Erscheinung ... er hat Ausstrahlung. Aber ich war überrascht, wie klein der ist. Der ist ja kleiner als ich."
"1,72, um genau zu sein."
"Ich bin 1,73."
Ich erzählte, daß ich Rafa eine Handbreit vom Boden hochheben kann und daß er wahrscheinlich neunzig Kilo wiegt.
"Das ist ja ein ganz schöner Brocken", meinte Platinum.
"Ja", sagte ich schwärmerisch und dachte an Rafas bleischwere Arme und Beine.
Ich erzählte von meiner Vermutung, daß Rafa auch deshalb vor sich selbst und vor der Wirklichkeit davonlaufen will, weil er dem Bild nicht entspricht, dem er entsprechen möchte.
"Er ist nicht der Gott, der strahlende Held, der er gerne sein möchte", meinte ich. "Er kann sich nicht einmal eine eigene Wohnung leisten. Er tritt privat, künstlerisch und beruflich auf der Stelle. Er will sich nicht in die Gesellschaft einfügen, er will nicht Teil des Ganzen werden. In Gruppen ist er unsicher. Er fühlt sich nur sicher, wenn er führen darf - anführen, verführen oder vorführen ..."
"Ich finde es bemerkenswert, wie er sich immer wieder selbst inszeniert", meinte Platinum.
"Das nennt man 'Überkompensieren', aber das ist dir bestimmt ein Begriff", sagte ich. "Rafa hat eine schwere Selbstwertstörung. Er inszeniert sich, um sich besser und wertvoller zu fühlen."
"Dann ist es ja ein Glück, daß er die Bühne hat."
"Ja, deshalb ist er ja überhaupt auf die Bühne gegangen."
Platinum erzählte, daß sie einige Leute, die ihr in "Im Netz" begegnen, in Gedanken mit den Pseudonymen benennt, die sie dort tragen. W.O.L.F. suchte sich sein Pseudonym selbst aus, ebenso wie Herr Lehmann und Tagor es getan haben.
Platinum findet viele Fans von W.E oberflächlich und stumpfsinnig. Außerdem seien die Konzerte von Rafa vorhersehbar, "immer dasselbe, ich hab' keinen Bock mehr, das ist bestimmt das letzte W.E-Konzert, wo ich hingehe. Ich mag die Musik, so zum Hören, daran ändert sich nichts."
"Für mich ist das hier ein Kaffeekränzchen", meinte ich. "Ich schätze es, daß ich hier Leute treffe, die ich nicht jeden Tag sehe, und daß ich Leute kennenlerne, die mir sonst nur im Forum oder im Chat begegnen. Das ist es mir allemal wert."
Tyra kam des Wegs. Ich begrüßte sie. Als ich sie fragte, wie es ihr gehe, antwortete sie, ihr Herz sei schon so lange zerbrochen.
"Mein Herz kann nicht zerbrechen", meinte ich.
"Ja, das bewundere ich ja so an dir", seufzte sie. "Mir ging es neulich so schlecht, daß ich psychologische Hilfe brauchte."
"Oh je", sagte ich und legte den Arm um sie.
"Jetzt muß ich packen", sagte Tyra. "Vielleicht können wir nachher noch in Ruhe reden."
"Ja."
Gegen Morgen wunderten Platinum und ich uns, weil Rafa noch immer nicht ans DJ-Pult gegangen war. Platinum fragte bei den DJ's nach und erfuhr, daß Rafa gar nicht mehr da war; er war schon im Hotel. Dolf hingegen war noch anwesend, ebenso Tyra und Nina.
Um drei Uhr leerte sich der Saal. Tyra, Nina und Dolf hasteten schwer bepackt zum Ausgang. Weil auch die anderen Leute aufbrachen, die ich kannte, fuhr ich ebenfalls nach Hause.
Im W.E-Forum fand ich eine mögliche Erklärung dafür, warum Rafa in NDH. kein DJ-Set mehr gemacht hatte, sondern nach dem Konzert verschwunden war. Valerien berichtete, Rafa sei "noch stark kränkelnd" gewesen.
Am Samstag war ich spätabends bei Lucas, der gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder in seinen Geburtstag hineinfeierte. Die Party fand wie gewohnt im elterlichen Bunker statt. Die Mutter brachte um Mitternacht eine selbstgebackene Aprikosen-Sahnetorte, auf der zwei Puppenlichte und ein Kranz aus Wunderkerzen brannten.
Lucas' Schwester Doro erklärte mir, wer wer ist auf den Familienfotos an der Wand. Ich konnte nur die Zwillinge nicht auseinanderhalten, die anderen Kinder waren leicht zuzuordnen, die Eltern ebenfalls. Doros Mutter rauchte auf dem Hochzeitsfoto im Brautkleid eine Zigarette oder sogar einen Joint. Doro zeigte mir auf älteren Bildern ihre Mutter als Kind. Es gab noch ältere Bilder von Doros Ahnen, die konnte sie nicht zuordnen.
Doros Freund Phoenix fragte mich über meinen Beruf aus. Als ich ihm von meiner Tätigkeit als Gutachterin erzählte, meinte er, in der Rechtsprechung werde das männliche Geschlecht benachteiligt. Vor allem Sexualstraftaten würden Männern oft zu Unrecht angelastet. Ich meinte, es komme zwar nicht selten vor, daß Männer zu Unrecht eines Sexualdelikts beschuldigt werden, wesentlich häufiger sei es aber nach meinem bisherigen Kenntnisstand, daß Sexualdelikte, die sich wirklich ereignet haben, nicht zur Anzeige gebracht werden, weil die Opfer Angst vor den Tätern haben oder glauben, an der Tat selbst schuld zu sein. Es gebe zwei Arten von Frauen, die mir besonders häufig begegnet seien. Die einen - hysterisch-überspannt, dramatisierend, ichbezogen, fordernd und geneigt, Verantwortung für eigenes Unvermögen bei anderen zu suchen - gehören zu denen, die Männern zu Unrecht Sexualdelikte vorwerfen. Vor allem in Scheidungsprozessen komme es vor, daß solche Frauen den Vater der Kinder beschuldigen, die Kinder mißbraucht zu haben. Dies sei aber so gut wie nie nachweisbar. Die anderen Frauen, die mir besonders häufig begegnet seien, neigen dazu, die Verantwortung stets bei sich selbst zu suchen, ob sie nun an einer Straftat oder einem Mißgeschick schuld sind oder nicht. Ihr Selbstwertgefühl ist sehr niedrig, ihr Verhalten devot, das Gefühl für ihre persönlichen Grenzen unterentwickelt, und sie verschweigen die an ihnen begangenen Straftaten, anstatt die Täter anzuzeigen. Dieser Typ Frau sei sehr viel häufiger als der Erstgenannte.
Phoenix meinte, die Menschen, die stationär psychiatrisch behandelt werden, vermittelten einen verzerrten Eindruck von den Verhältnissen in der Gesellschaft. Ich meinte, in der Psychiatrie seien zwar nur die behandlungsbedürftig Erkrankten anzutreffen, doch sei mir auch außerhalb davon häufig von Gewaltdelikten und Sexualdelikten berichtet worden, Erlebnisse von Menschen, denen man ihre Gewalterfahrungen meistens nicht ansieht.
"Dann müßten ja hier auch mehrere davon herumlaufen", sagte Phoenix mit Blick auf die Partygäste.
"Ja, wahrscheinlich sind hier, analog zum Bevölkerungsdurchschnitt, mehrere Leute, die in ihren ersten Lebensjahren irgendwelche verstörenden Erfahrungen gemacht haben", meinte ich. "Das heißt nicht, daß sie dadurch krank geworden sind. Aber solche Erfahrungen können zu psychischen Erkrankungen führen."
"Dieses Gerede von Kindesmißbrauch ... das liegt doch alles nur am gesellschaftlichen Kontext. In Ländern, wo es nicht als Verbrechen gilt, wenn ein Vater mit seiner halbwüchsigen Tochter schläft, führt das doch auch nicht zu psychischen Erkrankungen."
"Kinder, die mißbraucht werden, glauben fast immer, das sei die Normalität", hielt ich dagegen. "Die Täter suggerieren ihnen ja auch, daß das normal sei. Und sie schirmen die Kinder ab. Sie bedrohen sie und verbieten ihnen, mit anderen über den Mißbrauch zu sprechen. Und bei vielen dieser Kinder entwickelt sich später eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung oder andere psychische Krankheiten."
"Wie kann das denn aussehen?"
"Die schneiden sich selbst, zum Beispiel. Das ist unheimlich häufig. Und sehr viele werden suchtkrank oder unternehmen einen Selbstmordversuch nach dem anderen. Das kommt auch bei denen vor, die sich an die Gewalterfahrungen in der Kindheit nicht erinnern können. Wenn dir jemand erzählt, er könne sich an nichts erinnern, was vor seinem vierzehnten Lebensjahr passiert ist, dann ist das nicht normal, und man muß davon ausgehen, daß die persönliche Entwicklung durch irgendetwas erheblich beeinträchtigt wurde."
"Wenn bei Vergewaltigung - zum Beispiel in der Ehe - Aussage gegen Aussage steht, wie soll dann das Gericht entscheiden?"
"Dafür gibt es die Aussagepsychologie. Außerdem sind nach Vergewaltigungen fast immer Spuren von Gewalttätigkeit erkennbar, Würgemale oder Prellmarken."
"Na, man weiß ja nicht, ob die nicht ein bißchen härter drauf sind."
"Spuren von sadomasochistischen Praktiken sehen meistens anders aus als Spuren krimineller Gewaltanwendung", erklärte ich. "Wenn ein Mann eine Frau vergewaltigt, schlägt er sie zum Beispiel mit dem Kopf gegen eine harte Oberfläche, um sie kampfunfähig zu machen. Sowas gehört nicht zu gängigen sadomasochistischen Praktiken."
Am Kaminfeuer verwickelte sich eine Gruppe von Jungs nach mehreren Bieren in heftige Diskussionen über Politik. Ich lauschte amüsiert.
Abraxas war auch im Bunker und berichtete, daß die Tanzveranstaltungen in der "Neuen Sachlichkeit" noch immer gut laufen und daß der jetzige Veranstalter zufrieden ist. Der Eintritt konnte bei 5 Euro gehalten werden.
Puppen-Theo soll sich nie wieder in der "Neuen Sachlichkeit" gezeigt haben. Finanzielle Gründe sollen ihn dazu gebracht haben, die Veranstaltungsreihe aufzugeben.
Von Lucas erfuhr ich, daß die Halloween-Feier im Bunker dieses Jahr am selben Tag stattfindet wie die November-"Stahlwerk"-Party. Ich nahm mir vor, beide Parties zu besuchen. Auf die Frage, wie ich das mit der Kostümierung handhaben werde, antwortete ich, ich würde als Knicklicht gehen und mir ein Knicklicht an den Gürtel hängen.
Nachts war ich im "Radiostern". Musikalische Highlights waren "Gottes Furcht (exclusive version)" von Shnarph!, "Leitbild" von Feindflug und "Electronic world transmission" von Rotersand. Cyra war erkältet und redete nur wenig. Sie hatte mir per SMS vorgeschlagen, Ende Oktober mit ihr in WOB. zu einer Tanzveranstaltung mit DJ Talla zu gehen, und ich verabredete mit ihr nun, daß wir uns vorher bei ihr trafen und pünktlich hinfuhren, weil es für die ersten hundert Gäste kostenlose Talla-CD's geben soll.
Reesli hat noch immer seinen Job, den er zwar für sinnlos hält, ihn aber nicht aufgeben möchte. Osiris erzählte, daß er zur Zeit keine Lust hat, sich Arbeit zu suchen. Es gebe bisher auch kein Jobangebot, daß ihm gefalle. Imo macht viele Überstunden, weil seine Firma fusioniert hat und es strukturelle Veränderungen gibt. Er meinte, wer sich mit Informatik auskenne, könne in der Firma gute Arbeit bekommen.
Imo berichtete, daß er gerade einen Bacardi-Schmuggler erwischt hatte. Das sei ein szene-untypisch gekleideter Typ mit aufgeplusterter Wattejacke gewesen, den er sogleich im Verdacht hatte, und tatsächlich beobachtete er kurz darauf, wie der suspekte Fremde unter der Wattejacke eine Bacardi-Flasche hervorzog. Da mußte der Schmuggler die Flasche in der behelfsmäßigen Garderobe abgeben, dem Büro des "Radiostern".
Shara mailte, daß er seine Magisterarbeit online gestellt hat. Was ihm der Magister beruflich bringen kann, steht noch nicht fest.
Shara findet den Roman "Im Netz" furchtbar lang. Das bestätigte ich und setzte hinzu:

Das gönne ich mir. Telenovelas sind auch lang. Nur sind die kitschiger, und das Ende steht von Beginn an fest und findet ganz in Weiß statt. Das ist trügerisch, denn es gehen so viele Ehen kaputt.

Shara meinte dazu, die heutige Gesellschaftsstruktur fördere die Brüchigkeit sozialer Bezüge. Materialismus sei angesagt, nicht Idealismus.
Berenice und ich unterhielten uns in E-Mails über das Streiten. Berenice meinte, Streit gehöre zu einer Beziehung. Das bestätigte ich und setzte hinzu, es komme darauf an, wie man streitet. Konstruktive Streits genieße ich, vor allem die mit Rafa, die mir außerordentliches Vergnügen bereiten. Ich erzählte, daß ich regelmäßig nach Punkten gewinne und daß Rafa sich in aller Stille geschlagen gibt, wenn er erkennt, daß er meinen Argumenten nichts entgegensetzen kann. Berenice meinte, da hätte ich aber Glück. Rafa habe es nicht ertragen können, wenn sie die überzeugenderen Argumente gehabt habe. Auch habe er ihre intellektuelle Überlegenheit nicht verkraften können. Rafa und sie seien ständig aneinandergeknallt.
Im W.E-Forum ist Rafa auf der Suche nach Personal für zwei Konzerte Mitte Oktober. Er wandte sich hilfesuchend an die Forummitglieder:

Frauen gesucht!!!

Wozu er sie im Einzelnen braucht, teilte er nicht mit. Die Voraussetzungen, die sie mitbringen sollen, beschrieb er wie folgt:

Neben einer gewissen "Freizügigkeit" und einem guten körperlichen Erscheinungsbild sind keine Voraussetzungen, außer einer terminlichen Freiheit zu genannten Daten, zu erfüllen.

Das stieß bei den weiblichen Forummitgliedern auf ein gewisses Amusement. Sie bedauerten, Rafa leider nicht behilflich sein zu können. Als ein Mädchen sich erkundigte, weshalb Rafa Wert auf "Freizügigkeit" legte, wollte Rafa Mißverständnisse ausräumen und schrieb, man brauche lediglich zwei Frauen, die "als eine Art menschliches Keyboard agieren".
Mit Artemis unterhielt ich mich im W.E-Forum in PN's - persönlichen Nachrichten - über Freundschaften und ob sie echt sind. Ich schrieb:

Inwiefern meine Freunde auch wirklich meine Freunde sind, danach frage ich nicht, denn alle sind wir eh nur Menschen und fehlbar. Ich freue mich darüber, daß es die Leute gibt, und im Zweifelsfall sind die meisten eh anders, als man erwartet, durchaus auch im Guten.

Artemis schrieb:

Freut mich, dass du "Freundschaften sammelst" ... ich hatte nie wirkliche Freunde un habs auch eigentlich jetz nich ... ich mein ... halt die, die man so in unregelmäßigen Abstand zum mal Feiern trifft ... aber so ... nichts un niemanden ... aber ich glaube eh, dass das an mir liegt ^^ Bisher brauchte ich sowas auch nich ... un auch jetz dürstet mich nich danach ... *schulterzuck*
Ich hab eh schon immer gewusst, dass ich anders bin ; )
*fühl dich umärmlt*
Artemis

Weil Rafa immer wieder betont, Angst vor mir zu haben, schrieb ich etwas über Angst:

Wenn alle Gefühle abgestorben oder tiefgefroren sind, bleibt nur noch eines über - die Angst.
Noch immer rätsele und rätsele ich, warum Rafa fast nur vor mir und ausgerechnet vor mir Angst hat. Ich habe doch keine Macht über ihn; ich kann seinen Lebenswandel nicht beeinflussen.
Nein, ich denke nicht, daß Rafa sein Leben wirklich genießt; die Heiterkeit ist vordergründig. Er ist hektisch und unausgeglichen und klammert sich an seine Zigaretten. Er hat dieses Frühjahr zu mir gesagt, manchmal will er einfach nur sterben.

Artemis nahm Bezug auf eine vergangene Beziehung:

Es gibt wohl kaum ein mächtigeres Gefühl als Angst ... Angst hat man doch immer ... sei es auch in Situationen, über die man später nur lachen kann ... also, ich habe auch davor Angst, vielleicht doch mal irgendwann wieder (ich bezweifle das, aber trotzdem ist die Angst da) mit dem Menschen zu schreiben, der noch immer mein Herz hat ...
Everywhere I go ... everything just frightens me ... un je mehr ich darüber nachdenke ... manchmal hab ich vor mir mehr Angst als vor irgendwas anderem ... *hmm ...*
Vielleicht hat Rafa Angst vor dir, weil du das kennst, was keiner kennt ... oder so in der Richtung? Was ich nich versteh, warum er nichts verändern will, wenn er ja wohl doch selbst weiß, dass das so nichts Lebenserfüllendes is ...

Ich schrieb:

Rafa traut sich nicht, "Im Netz" zu lesen. Kein Wunder! Er würde sich andauernd selbst begegnen, und das will er nicht. Rafa hat gesagt, er hat Angst vor meiner Internetseite.
Na ja, vielleicht kenne ich ja wirklich was, was keiner kennt.
Jedenfalls, ich denke, Rafa verdrängt, daß er selbst was tun müßte, damit sich in seinem Leben was ändert.

Artemis meinte, Rafa bevorzuge den Weg des geringsten Widerstandes, woraus sich ergibt, daß er lieber auf andere schimpft, anstatt bei sich selbst nach Veränderungsmöglichkeiten zu suchen.







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Am Freitag simste W.O.L.F.:
"Wo und wann treffen wir uns heute, Große? Bin schon ganz hippelig und freu mich, dich zu sehen! Und fahr ja fein ordentlich nachher, will doch, daß de heil ankommst."
W.O.L.F. und ich fuhren gegen Abend nach HH., wo Rafa im "Megamarkt" auftrat. Das Konzert fand im großen Saal statt, der ähnlich wie ein Amphitheater gestaltet ist, nur rechteckig. Es war ziemlich voll. W.O.L.F. und ich gingen nach vorne links, wo meistens eine ruhigere Ecke ist. Kurz nach Beginn des Konzerts stieg W.O.L.F. über eine niedrige Absperrung auf die Bühne, links außen, in der Nähe der Tür zum Backstage. Dort stand im Halbdunkel eine große Holzkiste, wo ich meine Sachen hingelegt hatte. Ich kletterte W.O.L.F. hinterher, und vom linken Rand der Bühne aus verfolgten wir das Konzert. Die Security-Leute lächelten mir zu.
W.O.L.F. berichtete, er sei eben Lucy und Dolf begegnet. Sie hätten ihn ins Backstage eingeladen, und er habe einen Backstage-Stempel bekommen. Rafa habe er auch getroffen. Er habe höflich gegrüßt:
"Hallo, W.O.L.F."
Rafas Gesicht drehte sich wie magnetisch angezogen immer wieder in meine Richtung. Weil Rafa die Brille mit den blauen Gläsern trug, konnte man nicht erkennen, ob er mich wirklich ansah.
Ich spendete keinen Beifall, fächelte W.O.L.F. und mir nur emsig Luft zu.
Rechts und links auf der Bühne stand je ein Katafalk. Zwei Mädchen lagen darauf, zuerst noch mit weißen Tüchern zugedeckt, die mit dem W.E-Bandlogo bedruckt waren - das aufrecht gestellte "Sachsenring"-Emblem. Zweimal wurden die Mädchen während des Konzerts enthüllt, dafür wurden die Katafalke nach vorne auf die Bühne geschoben. Die Mädchen trugen nichts außer Slips und waren mit Sand bestäubt und mit Plattenelektroden beklebt. Tyra und Lucy taten so, als würden sie auf den Mädchen Keyboard spielen. Ein ähnliches Showelement hat Rafa bereits 1994 vorgeführt, damals mit einem Mädchen und einem Jungen als "lebende Keyboards", und Dolf und Tessa mußten auf ihnen "spielen".
Beim heutigen Konzert gab es einen Zwischenfall. Als der zweite Einsatz der "lebenden Keyboards" vorbei war, wurden die Katafalke wieder in den hinteren Bereich der Bühne geschoben, und die Mädchen wurden von den Klebeelektroden befreit. Mit notdürftig bedeckter Blöße wurden sie ins Backstage geführt, wo sie sich wieder ankleideten. Die weißen Tücher, unter denen die Mädchen gelegen hatten, waren neben den Katafalken auf den Boden gefallen. Eines der Tücher war auf einem Kabel zu liegen gekommen, das offensichtlich schadhaft war, denn das Tuch begann zu schmoren. Tyra entdeckte den Brandherd und löschte ihn, indem sie darauftrat. Dann kam sie auf W.O.L.F. und mich zu und berichtete, daß es eben fast gebrannt hätte. Das Konzert lief unterdessen weiter, und die meisten Menschen im Saal dürften von dem Kabelbrand nichts mitbekommen haben.
Während des Konzerts war W.O.L.F. kurz im Backstage. Rafa kreuzte seinen Weg. W.O.L.F. berichtete mir anschließend, Rafa habe ihn merkwürdig angeguckt.
"Jetzt haßt Rafa mich auch", meinte W.O.L.F.
"Warum?" fragte ich.
"Ja, der hat mich schon so komisch schief angeguckt."
"Du, der ist eifersüchtig", vermutete ich.
W.O.L.F. bestätigte Platinums Bericht, daß Tyra und Lucy kurz davor standen, bei W.E auszusteigen. Sie sollen vorhaben, eine eigene Band zu gründen. W.O.L.F. meinte, sicher seien viele Fans auch deshalb hier, um Tyra und Lucy ein letztes Mal auf der Bühne zu erleben. Die beiden schienen heute viel Spaß bei ihrem Auftritt zu haben.
"Die freuen sich, aus der Band wegzukommen", deutete W.O.L.F.
Über das amouröse Verhältnis zwischen Tyra und Rafa wollte W.O.L.F. nichts Näheres erzählen, ließ aber durchblicken, daß Tyras Ausstieg damit zusammenhängen könnte.
W.O.L.F. kündigte an, daß er eine Internetpräsenz erschaffen will über alle verflossenen Mitglieder von W.E.
Was den Auftritt von W.E betraf, meinte W.O.L.F., Rafa zeige in Variationen immer wieder dasselbe.
"Nachdem Rafa für W.E nichts Innovatives mehr einfällt, wird ihm das für H.F. wohl auch nicht gelingen", vermutete er.
Das Projekt H.F. scheint sich ähnlich zu entwickeln wie Rafas Internet-Präsenzen: Rafa gibt vor, etwas Großartiges zu beginnen, das aber nach kurzer Zeit verebbt. W.E bildet eine Ausnahme, die Band existiert nunmehr seit zwölf Jahren. W.O.L.F. sieht allerdings auch das Ende dieser Band nahen. Er meinte, Rafa und Dolf seien zwei alte Herren. Wenn sie wenigstens Erfolg hätten, wäre es kein Problem, dann könnten sie auch in Zukunft Erfolg haben, auch als ältere Leute. Aber da sie nie richtig Erfolg gehabt hätten, sei es unwahrscheinlich, daß W.E sich noch lange halten könne. Es gebe zwei Sorten von Fans: einmal die Fans, die die Musik von W.E mochten - und einmal die Fans, die einfach nur herumjohlen und feiern wollten, und denen sei mit jeder Funpunk-Band ebenso gedient.
Nach der letzten Zugabe ging Rafa dicht genug an mir vorbei, daß ich ihn am Arm streicheln konnte. Rafa stellte sich in meine Nähe, so daß ich ihn ein weiteres Mal streicheln konnte. Er unterhielt sich mit einem Jungen über den Kasten hinweg, wo ich meine Sachen liegen hatte. Der Junge beugte sich über das Absperrgeländer, und Rafa versprach ihm:
"Wir trinken nachher noch ein Bier zusammen!"
Dabei trat Rafa aus Versehen auf einen hohen Metallrahmen, der dort lehnte, und als er den Fuß wegnahm, schnappte der Rahmen zurück und traf mich an der Stirn.
"Aua", sagte ich.
Rafa drehte sich auf dem Weg zum Backstage um und schaute mich an, als wüßte er wohl, was jetzt an der Reihe war, nämlich sich bei mir zu entschuldigen. Er entschuldigte sich aber nicht, sondern ging weiter.
W.O.L.F. und ich folgten Rafa und seiner Truppe ins Backstage.
"Tür zu!" meldete sich Rafa.
Ich machte die Tür zu.
"So, und jetzt alle 'raus, die nicht zu W.E gehören", bestimmte Rafa.
W.O.L.F. und ich gingen zurück auf die Bühne. Wir halfen beim Kabel-Aufwickeln. Die Mitarbeiter des Hauses nahmen die Hilfe dankbar an. "Stahlwerk"-Veranstalter Delan kam auf die Bühne, und wir begrüßten uns. Der Tonmischer erzählte, daß er sonst für Blister B. mischt. Ich meinte, es sei schön, daß Blister immer noch Musik macht. Trinken soll Blister noch immer, wenn auch weniger als früher.
Dolf kam auf die Bühne und bremste mich:
"Was machst du denn hier? Paß auf, das ist gefährlich, da ist Starkstrom unterwegs!"
Das stimmte nicht. Es handelte sich um Drehstrom.
"Ihr könnt hier nicht auf der Bühne 'rumlaufen", setzte Dolf hinzu. "Ihr seid nicht versichert."
Dann lenkte er ein:
"Geht, wohin ihr wollt, geht von mir aus ins Backstage und trinkt ein Colachen."
Das ließen W.O.L.F. und ich uns nicht zweimal sagen:
"O.k., machen wir!"
Dieses Mal warf Rafa uns nicht hinaus.
Das Backstage der großen Bühne im "Megamarkt" besteht aus zwei hintereinanderliegenden Räumen. Im vorderen saß Rafa auf einem Stuhl und hielt Hof. Um ihn scharten sich Bandmitglieder und Fans. W.O.L.F. und ich gingen in den hinteren Raum.
"Wo ist denn die Cola?" fragte ich.
"Oh, da bei Rafa in der Nähe", gab W.O.L.F. Antwort. "Aber hier, kannst meine haben."
Er reichte mir seine Pepsi. Ich trank sie aus.
"Hoffentlich haßt Rafa mich jetzt nicht", sagte W.O.L.F.
"Warum?" fragte Lucy.
"Das ist Eifersucht", meinte ich.
"Was?" fragte Lucy.
"Das ist Eifersucht", wiederholte ich. "Rafa sieht, daß W.O.L.F. und ich uns gut verstehen. Wir sind Kumpels. Und da ist Rafa eifersüchtig."
"Nein, ich will davon gar nichts hören", wehrte Lucy ab. "Ich will davon gar nichts wissen. Von diesem Beziehungskram will ich nichts wissen."
Rafa hatte keine Brille mehr auf. Das Bühnenoutfit hatte er ersetzt durch sein blaugraues Batik-T-Shirt und eine schwarze Hose, die an der Seite mit schwarzen Kreuzen als Schattenmuster verziert war.
Rafa wirkte hektisch, lief mehrfach aus dem Backstage, holte etwas und kam wieder. Zu einem schwedischen Gast sagte Rafa, er werde vom Merchandize-Stand einen neu herausgekommenen Sampler holen, den der Schwede noch nicht kennen konnte. Als Rafa verschwunden war, ging ich in den vorderen Raum hinüber. Die Freundin des Schweden bewunderte meine Kunsthaar-Zöpfchen.
"Das ist alles echtes Plastik", erklärte ich und setzte mich zu ihr.
Rafa kam zurück und unterhielt sich mit dem Schweden, während ich mich mit der Freundin des Schweden über Kleider und Kostüme unterhielt. Ich bewunderte ihren grauen Rock mit der schwarzen Spitzenkante, den sie selbst genäht hatte. Sie fragte mich, ob ich mein Kleid auch selbst genäht hatte. Ich erzählte ihr, wo ich es gekauft habe und was ich daran habe verändern lassen. Ich trug das lange schwarze Taftkleid mit dem weiten Rock, das ich in KI. gekauft habe. Es hat eine perlenbestickte Corsage mit Trägern. Dazu trug ich eine hauchdünne Spitzenpelerine und lange Satinhandschuhe.
Parallel zu unserer Fachsimpelei über Kleider und Mode fachsimpelte Rafa mit dem Schweden über Musik und CD's. Je lauter und lebhafter ich redete, desto lauter und lebhafter wurde Rafa. Er schien bemüht, immer gleichzeitig mit mir zu reden, um nicht mitzubekommen, was ich sagte.
In einer Gesprächspause lauschte ich der Unterhaltung von Rafa und dem Schweden. Rafa seufzte, er sei "fast tot", so anstrengend sei das Konzert gewesen. Der Schwede sagte ermunternd zu Rafa, es sei doch ganz gut gelaufen auf der Bühne. Rafa stapelte tief:
"Ja, das ist erstmal ein Probelauf."
Rafa erklärte dem Schweden, wie die "lebenden Keyboards" funktionierten. Dann prahlte Rafa, wie leicht es ihm gefallen sei, hübsche Frauen zu finden für seine Bühnenshow. Er schilderte, wie er die "Girls" bestellt hatte:
"Also habe ich gesagt:
'Ich brauche noch ein paar hübsche Frauen ...'
Das war so einfach, schöne Frauen zu kriegen ... ich schreibe einfach nur hin, ich brauch' schöne Frauen, und schon kriege ich jede Menge schöne Frauen ... das ist so einfach, an schöne Frauen zu kommen ..."
Für kurze Zeit schwieg alles im Raum. Ich kommentierte in die Stille hinein, zu der Schwedin gewandt:
"Ja, demnächst kann man die Gogos auch im Internet bestellen, unter www.gogo.de, die werden dann per Post verschickt."
Was ich gerne auch noch gesagt hätte, war:
"Rafa, du machst am besten einen Gogo-Lieferservice auf. Es fällt dir doch leicht, eine ansprechende Produktpalette anzubieten. Wie wäre es mit einem Herbstangebot: 'Im Doppelpack 25 % billiger. Und wenn Sie fünf nehmen, gibt es das sechste gratis dazu.' Die Kunden sollen zufrieden sein."
Ich nehme an, das hat Rafa auch ohne Worte verstanden.
Kurz nach meinem Kommentar lief Rafa wieder hinaus, um etwas vom Merchandize-Stand zu holen. Dieses Mal brachte er Hochglanzfotografien mit, die das Cover von Rafas Vinyl-EP "Horizonterweiterungen" zeigten. Sowohl der Schwede als auch seine Freundin bekamen eines.
"Hier, das könnt ihr haben", sagte Rafa gönnerhaft.
W.O.L.F., der unmittelbar in der Nähe saß, ging leer aus. W.O.L.F. erzählte mir, Rafa habe ihm einige schiefe Blicke zugeworfen.
"Das ist ein klarer Fall", meinte ich dazu. "Rafa ist eifersüchtig."
Der Tonmischer erkundigte sich, wie mir das Konzert gefallen habe.
"Ach, wie immer", hielt ich mich bedeckt, "wie man's kennt. Ich kenne die Band schon so lange ..."
Rafa verzog das Gesicht, seufzte auf und schien nahe daran, mich nachzuäffen.
Der Tonmischer erkundigte sich, ob ich auch zur Crew gehörte.
"Ich bin zufällig hier", erklärte ich. "Ich bin der Fahrer von W.O.L.F."
Rafa lief schon wieder hinaus, kam dieses Mal aber nicht zurück. W.O.L.F. und ich fanden ihn wenig später auf der Bühne beim Abbauen. Das Backstage wurde geräumt. Nur die Bandmitglieder durften dort noch hinein, sie wurden verköstigt. Lucy bat W.O.L.F., noch nicht wegzufahren, sie wolle sich noch mit ihm unterhalten. Wir wären gerne noch eine Weile im "Megamarkt" geblieben, doch unsere Eintrittskarten galten nur für das Konzert, und wir gingen nicht davon aus, daß Lucy und die übrigen Bandmitglieder auf der parallel stattfindenden Depeche-Mode-Party erscheinen würden. Also machten wir uns auf den Rückweg.
W.O.L.F. pflichtete mir darin bei, daß Rafa sich nicht in Gruppen einfügen kann und lediglich über das Führen zu anderen Menschen in Beziehung tritt: Vorführen, Anführen, Verführen, Hinters-Licht-Führen ...
"Rafa hätte im Berufsleben arge Probleme", meinte W.O.L.F. "Vielleicht müßte ihn mal ein Chef zusammenstauchen ..."
"Das ist doch wahrscheinlich schon passiert", vermutete ich. "Deshalb arbeitet er vielleicht auch nicht mehr."
"Für Rafa sind immer die anderen schuld, nie er selbst."
"Mir ist auch schon aufgefallen, daß er die Verantwortung und die Schuld immer bei anderen sucht - damit er nie zu sich selber kommt und ihn das, was er erlebt und durchmacht, nicht zum Nachdenken bringt über sein eigenes Verhalten."
Im Hinblick auf Rafas berufliche Eignung meinte W.O.L.F.:
"Rafa kann nichts richtig gut."
"Doch, Schauspielern", entgegnete ich. "Darin ist er wirklich perfekt. Das kann er hervorragend."
Rafa soll einmal zu W.O.L.F. gesagt haben, Konzerte geben sei für ihn wie Urlaub. Das widerspricht dem, was Rafa im Backstage zu dem schwedischen Fan sagte:
"Ich bin fast tot."
W.O.L.F. fand, im Grunde habe er mit Rafa viel gemeinsam - unter anderem die Selbstwertstörung. Jedoch müsse Rafa sich ständig selbst belügen. Er, W.O.L.F., sei wenigstens ehrlich und könne sich die Selbstwertproblematik eingestehen.
Was die Selbstmordgefährdung betraf, meinte ich, Rafa sei durchaus selbstmordgefährdet. W.O.L.F. erzählte von seinem Selbstmordversuch im Alter von etwa zwölf Jahren. Sein Vater habe viel getrunken und geschlagen und sei lieblos gewesen. Der ältere Bruder sei bevorzugt worden. Einmal habe der Bruder ein teures Fahrrad bekommen und W.O.L.F. nur ein kleines Spielzeugfahrrad. In der Schule sei W.O.L.F. gehänselt worden. Die Mitschüler hätten zu ihm gesagt, er sei so häßlich, daß er nie eine Freundin haben werde. Schließlich habe er sich umbringen wollen. Er habe vorgehabt, einen glatten Abhang hinunterzurutschen und in einen Fluß zu fallen. Wie er eben losrutschen wollte, habe sein Vater ihn gepackt, so daß es mit dem Plan nichts wurde.
"Dein Vater hat dich gerettet", meinte ich, "dann kannst du ihm doch nicht völlig egal sein."
"Ach nein, dem bedeute ich nichts", war W.O.L.F. sicher.
"Das glaube ich nicht", entgegnete ich, "sonst hätte er dich doch nicht reflexartig festgehalten. Er wollte doch, daß du nicht umkommst. Er muß doch einen Grund dafür gehabt haben. Vielleicht - wenn er nicht so viel gesoffen hätte, hättet ihr ein richtig gutes Verhältnis zueinander gehabt."
"Warum soll mich denn jemand mögen?" fragte W.O.L.F. "Warum denn mich? Warum mich?"
"Um diese Frage geht es gar nicht", antwortete ich, "die stellt sich nicht, weil jeder Mensch liebenswert ist. Jeder ist etwas Besonderes. Jeder ist um seiner selbst willen liebenswert. Nach dem Christentum ist jeder erwünscht. Jeder, der da ist, ist auch mit Grund da. Wenn jemand sagt, er will sich umbringen, würde ich ihm auch die Frage stellen, warum er es noch nicht getan hat - weil er sicher auch Gründe dafür gehabt hat, am Leben zu bleiben. Wegen irgendetwas muß er doch am Leben hängen, wenn er sich noch nichts angetan hat."
W.O.L.F. erzählte, er hänge am Leben wegen seiner Arbeit. Er macht eine Ausbildung im Medienbereich und im Bibliothekswesen. Daran hat er viel Freude. Außerdem freut er sich darüber, daß er von vielen Kollegen gemocht wird. Die seien sehr nett zu ihm. Das baue ihn sehr auf.
"Das ist ganz viel wert", betonte ich.
"Am besten wäre es, wenn durch einen Krieg hier alles zerstört werden würde", meinte W.O.L.F., "und dann würden die Menschen wenigstens merken, worauf es ankommt."
"Durch Katastrophen werden die Menschen nicht besser", hielt ich dagegen. "Wir hatten das hier schon, das war der Zweite Weltkrieg, und das hat nur Elend und Not gebracht."
"Ja, aber die Leute konnten das, was sie hatten, wieder würdigen."
"Aber unterm Strich hat es sie nicht verändert. Und die Verwüstungen konnte man ja gar nicht mehr ausgleichen. Das ist nicht der richtige Weg. Durch Destruktion erreicht man nicht die Konstruktion."
Frühmorgens tranken W.O.L.F. und ich in H. im Hauptbahnhof Kaffee, während wir auf seinen Zug warteten. W.O.L.F. erzählte, er habe Darienne gefragt, weshalb ihre Homepage offline sei.
"Die wird redesigned", habe sie geantwortet.
W.O.L.F. hat den Eindruck, Darienne stellt sehr zur Schau, daß sie mit Rafa zusammen ist. Artemis hat beobachtet, wie Darienne mit Rafa wild herumknutschte, als müßte sie jedem demonstrieren, wer ihr Freund ist.
"Rafa geht Beziehungen nicht ein, um Gefühlen Raum zu geben", meinte ich. "Er geht Beziehungen ein, um Gefühle zu verhindern. Beziehungen haben bei ihm den Zweck, Gefühle nicht hochkommen zu lassen."
Als ich erzählte, daß Rafa mir nicht glaubt, daß ich ihn liebe, vermutete W.O.L.F.:
"Rafa kann Haß und Liebe nicht auseinanderhalten."
"Rafa ist emotional blind", meinte ich. "Der merkt überhaupt nicht, was in ihm vorgeht. Der ist vollkommen blockiert. Anders ist es doch gar nicht zu erklären, weshalb er mit solchen Leuten wie Tessa überhaupt etwas anfangen konnte."
"Rafa geht es schlechter als mir", meinte W.O.L.F.
"Das stimmt", nickte ich.
W.O.L.F. hatte den Eindruck, daß meine Anwesenheit Rafa verunsicherte. Er beobachtete, daß Rafa mich immer wieder verstohlen anschaute. Rafas Kopf sei unaufhaltsam immer wieder in meine Richtung gewandert, um sich dann aber wieder ganz schnell wegzudrehen. Rafa habe immer versucht, zu mir einen gewissen Sicherheitsabstand einzuhalten.



Am Samstag waren Len und ich im "Zone", wo Rafa mit W.E auftrat, im Rahmen einer Tanzveranstaltung. Wir trafen Cennet und Arndis. Auf der Bühne war schon alles aufgebaut. Ivco bediente am Merchandize-Stand. Ich unterhielt mich ein wenig mit ihm. Anwar kam heran und begrüßte mich. Irith, die ich aus dem W.E-Forum kenne, traf ich auch. Unser Gesprächsthema war die Modefarbe Rosa. Ich trug heute wieder Schwarz, dasselbe wie in NDH.
Rafa hatte auf der Bühne das an, was er immer anhat, die Brille inbegriffen. Während Rafa auf der Bühne stand, drehte er öfters den Kopf in meine Richtung. Ich stand weit vorne und war zumindest theoretisch für Rafa erkennbar. Wegen der Brille war - wie immer - nicht zu erkennen, ob er mich wirklich anschaute. Manchmal schaute Rafa mit gesenktem Kopf über seine Brillengläser hinweg.
Die Show verlief im Wesentlichen wie die am Vortag, freilich ohne Kabelbrand. Rafa erweiterte oder veränderte manche Textzeilen, etwa setzte er zu der Zeile "Es gibt nichts, was mich hier hält ..." ein gewispertes "... außer dir." hinzu.
"Tanz eiskalt" gab es heute auch wieder zu hören.
Gegen Ende des Konzerts teilte Rafa dem Publikum mit, Lucy und Tyra seien heute leider zum letzten Mal dabei. In Entertainer-Manier bedankte er sich überschwenglich bei ihnen und kündigte an, jetzt werde man gemeinsam Sekt trinken. Rafa, Dolf, Tyra und Lucy stießen miteinander an. Es folgte eine Zeugnisvergabe. Rafa behauptete, Berenice und Kitty hätten bei ihrem Weggang auch ein Zeugnis erhalten. Rafa hielt die Zeugnisse, die er verfaßt hatte, in der Hand und wollte erst das Zeugnis für Tyra vorlesen, unterbrach sich aber mit den Worten:
"Ach nein, ich lese das für Lucy vor, das ist besser."
Dieser Seitenhieb gegen Tyra wirkte auf mich nicht wie ein Zufall und auch nicht wie eine harmlose Neckerei.
Insgesamt kam mir die Zeremonie wie ein klischeebeladener Film vor, in dem ein leutseliger Chef sich selbst mit Gott verwechselt und sich auf die Unterwürfigkeit seiner Mitarbeiter verläßt. Rafa schien seinem Publikum - wenn nicht gar der Menschheit - vermitteln zu wollen, daß er es war, der über den Wert eines Menschen entschied. Dementsprechend hatte der Zeugnistext Ähnlichkeit mit einem Arbeitszeugnis für Bewerbungen. In dem Zeugnis hieß es, Lucy habe sich hervorragend bei W.E bewährt. Von 2003 bis heute habe sie bei W.E mitgewirkt und sei für diese und jene Bereiche zuständig gewesen und so weiter. Am Ende folgten ausführliche Lobesformulierungen.
Rafa überreichte Lucy und Tyra theatralisch ihre Zeugnisse. Seine Gesten der Überheblichkeit sollten wohl auch verschleiern, aus welchen Gründen Berenice, Kitty, Tyra und Lucy W.E verlassen haben. Daß Rafas Verhalten für jemanden ein Grund sein konnte, sich von ihm abzuwenden - auf diesen Gedanken sollte niemand kommen.
Lucy und Tyra schienen das Konzert zu genießen. Sie bestritten eine der Zugaben und sangen im Duett ein Lied, das früher Zinnia gesungen hat: "Bill Gates, komm f... mit mir".
Ehe Rafa mit seiner Truppe von der Bühne ging, wies er das Publikum darauf hin, sie sollten nicht vergessen, auf den "schwulen Unterschriftenlisten für den Tierschutz" zu unterschreiben.
Das hatte ich schon getan.
"Wenigstens tut Rafa ab und zu etwas Gemeinnütziges", dachte ich, "und wenn er nur für Berenice die Listen auslegt. Es ist immerhin besser als nichts."
Kurz nach dem Ende des Konzerts erschien Rafa wieder auf der Bühne. Er wickelte fleißig Kabel auf und räumte Equipment zusammen. Durch eine Lücke in der seitlichen Folienwand konnte ich ihn in Ruhe betrachten. Er hatte nun sein Batik-T-Shirt an und darüber eine Weste mit aufgenähtem Hammer und Sichel; die Weste konnte aus einem Militaria-Handel stammen. Um den Hals trug Rafa ein schwarzes Lederband mit einer Münze daran, die ein Loch in der Mitte hatte. Er trug an einem Ohr eine Creole und an jedem Finger einen Ring. Wie gestern hatte er die Hose mit dem Kreuz-Schattenmuster an und die spitzen Schuhe (Pikes) mit den drei Schnallen, die er fast immer anhat. Die Sachen wirkten abgetragen. Rafa kaute Kaugummi, vielleicht um für kurze Zeit nicht rauchen zu müssen. Ob er je ernsthaft versucht hat, mit dem Rauchen aufzuhören, weiß ich nicht.
Ein Pärchen stand in der Nähe der Folienwand. Das Mädchen erzählte, daß es ein Autogramm von Rafa auf einem der Luftballons haben wollte, die während des Konzerts von der Bühne geflogen waren.
"Der traut sich nicht, hier herunterzukommen", meinte ich. "Da bin ich mir sicher. Der traut sich nicht, hier durchzugehen."
Da ging das Pärchen zu der Lücke in der Folienwand hinauf. Rafa entdeckte die beiden und versprach ihnen:
"Das machen wir später."
Sie mußten nicht lange warten. Rafa kam alsbald nach vorne und ließ sich von den Fans Gegenstände zum Signieren auf die Bühne reichen.
Mit Cyris unterhielt ich mich darüber, daß Rafa immerzu über fremde Welten singt, zu denen er fliegen will, daß er aber nie beschreibt, wie diese Welten sein sollen.
"Das stimmt, das erzählt er nie", war auch Cyris aufgefallen. "Wahrscheinlich hat er darüber selber noch nicht nachgedacht."
"Das ist es, wahrscheinlich hat er selbst nicht darüber nachgedacht."
Rafa kam von der Bühne herunter in den Zuschauerraum. Dort wurde er umlagert von den Fans, die etwas signieren lassen wollten. Rafa signierte und signierte. Ich mischte mich allmählich unter die Menge und streichelte Rafa, an der Schulter, am Arm, in der Taille, an den Hüften - das ging eine ganze Weile so, und mich erstaunte, daß bei Rafa keine Abwehr zu erkennen war. Er wirbelte so zwischen den Fans herum, daß er immer wieder in meine Nähe geriet und ich ihn streicheln konnte.
Nach dem Signieren ging Rafa zu Ivco an den Merchandize-Stand, aber nicht dahinter, wie man es von ihm hätte erwarten können, sondern er blieb davor stehen. Es kamen noch mehr Fans, die etwas signiert haben wollten, und Rafa fuhr fort, zu signieren. Ich streichelte Rafa und legte ihm den Arm um die Taille, während ich mich mit Ivco unterhielt. Zu meiner Verwunderung lief Rafa nicht davon, sondern ließ es geschehen.
"Wie kann ich denn euer Baby kennenlernen?" fragte ich Ivco.
"Dafür eignen sich am besten die Wochenenden", erklärte Ivco.
"Natürlich", nickte ich.
Minute um Minute streichelte ich Rafa und hatte den Arm um seine Taille liegen. Er wehrte sich immer noch nicht. Dann endlich ging er einen Schritt zur Seite. Ich blieb stehen, wo ich war, damit Rafa den Abstand zu mir selbst bestimmen konnte. Schließlich ging Rafa weiter nach hinten, vor die Theke an der Längsseite des Saales.
Am Merchandize-Stand erschienen Cennet, Arndis und Len. Cennet erzählte, daß er ein Autogramm von Rafa haben wollte.
"Dann hol' dir das mal", ermunterte ich ihn.
Rafa stand mit Anwar vor einem Geländer, hinter sich die Tanzfläche. Als Rafa an die Theke ging, stellte ich mich zu Anwar, um mich mit ihm zu unterhalten. Ehe ich dazu kam, stürmte Rafa herbei, baute sich vor mir auf und gab eine Haßtirade von sich.
"So!" fauchte Rafa. "Moment mal! Wie ich beobachte, gehst du mir in den letzten zwei, drei Tagen kontinuierlich auf die Nerven, und ich bitte dich einfach nur: Hau' ab. Dann wärst du sowas von nett, sowas von nett. Also: Hau' ab."
"Du kannst mich gerne zusammenschlagen, wenn du möchtest", entgegnete ich freundlich. "Wie ist das eigentlich ..."
Ich wollte ansetzen, ihm eine der Fragen zu stellen, die ich ihm schon lange stellen wollte, nur hatte ich nicht die Gelegenheit. Es handelte sich um die Frage, ob mein Tod oder mein Nichtvorhandensein in ihm ein Gefühl des Glücks und der Befriedigung auslösen würde.
"Das interessiert alles nicht", fiel Rafa mir ins Wort. "Hau' endlich ab, sag' ich nur. Ich sage nur: Hau' endlich ab."
Da mit Rafa kein sachliches Gespräch zu führen war, wollte ich meine unbeantwortete Frage an Anwar weitergeben, damit er sie Rafa stellen konnte, wenn der einem sachlichen Gespräch wieder zugänglich war. Rafas Antwort konnte Anwar wiederum an mich weitergeben. Anwar jedoch schien unter Rafas Einfluß zu stehen und führte dessen Haßtirade fort.
"Hast du nicht gehört, was Rafa gesagt hat?" fauchte Anwar. "Du sollst endlich abhauen!"
"Niemand kann mir verbieten, hier zu stehen", erwiderte ich bestimmt. "Rafa kann ja weggehen, wenn er will. Er kann immer weggehen, wenn er das will."
Rafa ging aber nicht weg. Er blieb stehen, wo er war, und konnte aus nächster Nähe hören, was Anwar und ich miteinander sprachen.
"Willst du meine Meinung hören?" fragte Anwar.
"Ja", gab ich Antwort, "gern. Sag' sie mir."
"Ja, dann komm' hier 'rüber, hier 'rüber."
Ich sollte mich unmittelbar vor ihn stellen.
"Du bist doch auch Psychologin, oder?" fragte Anwar nach.
"Ich bin angehender Psychiater", berichtigte ich.
"Ja, du hast doch Psychologie studiert, ne?" fragte Anwar weiter.
"Nein, Medizin", berichtigte ich.
"Ja, bist du jetzt kein Psychiater?"
"Doch, ich bin kurz vor dem Facharzt."
"Hast du denn da schon gearbeitet?"
"Ich habe sieben Jahre in dem Fach schon gearbeitet."
"Dann müßtest du das doch eigentlich wissen!" fauchte Anwar. "Was du da machst, das ist doch vollkommen klar, daß du eine Psychose hast!"
"Das habe ich mit Sicherheit nicht, damit kenne ich mich ja schließlich aus."
"Natürlich hast du das!" behauptete Anwar.
"Rafa hat eine schwere Selbstwertstörung und bringt sich durch Zigarettenrauchen langsam um. Das ist eine Tatsache."
"Wie?"
"Du solltest dich nicht anmaßen, über etwas zu urteilen, das du gar nicht beurteilen kannst", sagte ich mit Nachdruck. "Du hast keinen Schimmer von meinem Fachgebiet. Du hast keine Ahnung, und du kannst dich hier überhaupt nicht anmaßen, in irgendeiner Art und Weise hier irgendwas zu beurteilen. Du hast auch von Rafa und mir nicht die geringste Ahnung. Du weißt überhaupt nicht, was zwischen Rafa und mir schon alles passiert ist."
"Was du da machst, das ist doch ganz klar, das ist doch Stalking, was du da machst!" behauptete Anwar nun.
"Wie gesagt, du hast keine Ahnung von meinem Fachgebiet", erwiderte ich. "Und du verstehst nichts von den Krankheitsbildern. Du weißt nicht, was eine Psychose ist und was Stalking ist. Und ich weiß mit Sicherheit, daß dieses beides auf mich nicht zutrifft."
"Ja, was trifft denn zu?" fauchte Anwar. "Was hast du denn? Was machst du denn?"
"Ich liebe Rafa und suche den Kontakt zu ihm, und das ist alles."
"Aber das ist doch gar nicht gegenseitig!"
"Doch, das ist gegenseitig, Rafa liebt mich ja auch. Nur kann er damit nicht umgehen."
Rafa entfernte sich.
"Bei welcher Ärztekammer bist du?" fragte Anwar lauernd.
Ich sagte es ihm.
"Ja, echt?" wollte er mir nicht glauben. "Bist du da echt?"
"Ja."
"Wie heißt du nochmal mit Vornamen?" stellte Anwar sich dumm.
"Hetty."
"Ah ... Hetty ... Ich werde dich nämlich bei der Kammer melden!" drohte Anwar. "Das ist eine Gefahr für die Menschheit, wenn du als Ärztin arbeitest!"
"Wenn du das machst, dann werden die dich glatt für verrückt erklären", gab ich ihm heraus. "Du hast von meinem Fachgebiet nicht die geringste Ahnung, und wenn du daherkommst und sowas behauptest, dann halten die dich für verrückt."
"Rafa will doch sowieso nichts von dir", war Anwar überzeugt. "Du belästigst ihn doch nur."
"Den Eindruck habe ich nicht", erwiderte ich. "Ich kenne ihn schließlich seit zwölf Jahren, und noch Anfang dieses Jahres, im Frühjahr, haben wir uns stundenlang umarmt. Du weißt ja überhaupt nicht, was zwischen uns alles passiert ist."
Anwar wollte weiterreden, ich ging aber weg.
Etwas später kam ich wieder an die Theke, wo Anwar noch gegenüber vorm Geländer saß. Ich unterhielt mich mit Len, und Anwar schien aufmerksam zu lauschen. Ich erzählte Len von Anwars Äußerungen.
"Sowas regt mich maßlos auf", meinte ich, "auch wenn es mich nicht aufregen sollte."
"Es gibt eben Leute, wenn denen keine Sach-Argumente mehr einfallen, fangen sie an, beleidigend zu werden", vermutete Len. "Das kommt häufig vor. Ich habe das auch schon oft erlebt."
"Ja, genau das ist es - Anwar kann ja gar nicht sachlich argumentieren in diesem Fall. Deswegen hatte er nur noch die Idee, beleidigend zu werden. Was anderes fällt ihm da nicht mehr ein. Ich denke, er will einfach Rafas Verhalten mittragen. Er ist so eine Art Spießgeselle von Rafa. Anwar und Rafa kennen sich seit über zwanzig Jahren, und Anwar hat Rafa immer gedeckt, wenn der irgendwie Sch... gebaut hat und so. Deswegen glaubt der, er sei so eine Art Diener von Rafa und müßte ihm zuarbeiten. Und ich sabotiere das halt, weil ich Dinge anspreche, die Rafa verschweigen will. Und ich brauche mir so eine Unverschämtheit einfach nicht gefallen zu lassen, und mir ist es wichtig, das klipp und klar zu sagen und Anwar den Kopf zu waschen. Ich würde das auch immer wieder machen, weil es mir wichtig ist, mir Luft zu verschaffen."
"Vielleicht ist es ungünstig, wenn du deine Gefühle allzu eindeutig zeigst und allzu deutlich über sie sprichst, weil du dich damit angreifbar machst."
"Ich finde es wichtig, Gefühle offen zu zeigen", betonte ich. "Ich brauche mich nicht zu verstecken. Ich kann es mir leisten, Gefühle zu haben und zu zeigen."
Als ich wieder beim Merchandize-Stand war, näherte sich Rafa und gab Cennet das gewünschte Autogramm. Dann ging Rafa so dicht an mir vorbei, daß ich ihn ohne Weiteres streicheln konnte. Rafa nahm das hin, ohne sich in irgendeiner Weise zu beschweren.
"Soviel zum Thema 'selbstgewählter Abstand'", dachte ich.
Rafa verschwand für eine Weile und ging dann aufs Neue dicht an mir vorbei, und er nahm es auch dieses Mal hin, daß ich ihn streichelte.
"Oh, du kommst nochmal wieder, das ist ja schön", merkte ich an.
Rafa verzog das Gesicht und setzte seinen Weg fort.
Vor dem Merchandize-Stand unterhielt ich mich mit Ivco. Ich schilderte ihm das Verhalten von Rafa und Anwar. Über Rafas Verhalten sagte ich:
"Das kenne ich schon, das bin ich gewohnt, das ist für mich nichts Besonderes, daß Rafa mit Gefühlen nicht umgehen kann und den Frust, den er selbst hat, auf mir ablädt."
"Das hat bestimmt etwas damit zu tun, daß du ihm unentwegt einen Spiegel vorhältst", vermutete Ivco. "Und das findet er unangenehm und entwickelt Aggressionen gegen dich."
"Genau das ist es", nickte ich. "Ich halte Rafa immer einen Spiegel vor. Ich spiegele ihm die desolaten tatsächlichen Verhältnisse, in denen er lebt, und zeige ihm immer, was er falsch macht in seinem Leben. Und wenn er mich sieht, sieht er das immer. Und das macht ihn aggressiv. Das ist therapeutische Wut, sozusagen - daß er auf denjenigen, der die Wahrheit anspricht, mit Aggressivität reagiert. So ist es, so kenne ich es von ihm, das ist für mich nichts Neues. Was mich so maßlos aufregt, ist das Verhalten von Anwar. Das ist es, was ich nicht verstehe, weil ich mich darüber eigentlich nicht aufregen müßte."
Ivco und ich unterhielten uns an der Theke im hinteren Teil des Saales weiter. Ivco gab mir eine Cola aus. Ich erzählte, daß ich mich immer sehr aufrege, wenn mich jemand beleidigt, selbst wenn er für mich ohne Bedeutung ist. Jeder Dahergelaufene könne erreichen, daß ich mich aufrege, wenn er mich nur beleidigte.
"Rafas Aggressivität gegen mich kenne ich schon", erklärte ich, "das ist für mich nichts Neues. Das paßt zu seinem verlogenen Verhalten und zu seiner Fassade. Das kenne ich, und es wundert mich nicht. Das hat mich nicht aus dem Takt gebracht."
"Das ist ein Zustand, auf den du schon eingestellt bist", meinte Ivco.
"Das ist es", bestätigte ich. "Ich habe nichts gegen Anwar ..."
"Oh, das hörte sich eben anders an."
"Ja, hört es sich auch, aber was mich wütend macht, ist Anwars Verhalten. Er als Person - gegen ihn habe ich nichts."
"Und du kannst das auch so trennen?"
"Genau. Was mich wütend macht, ist Anwars unverschämtes Verhalten, seine Anmaßung, aber nicht er als Mensch. Ich denke auch nicht, daß er von Grund auf schlecht ist. Er benimmt sich nur total daneben und wird ausfallend und beleidigend. Ich hätte vielleicht auch gegen Darienne nichts mehr, wenn sie sich anders benehmen würde."
"Jetzt hat Duncan Geburtstag", sagte Ivco nach einem Blick auf die Uhr. "Jetzt wird es Mitternacht. Ich gehe da jetzt mal eben hin."
"Dann komme ich mit."
"Ja, aber da ist der Anwar ja auch."
"Das stört mich überhaupt nicht. Wie gesagt - ich habe nichts gegen Anwar."
"O.k."
Wir gingen in die Lounge, da war ein großer Tisch gedeckt mit allerlei Eßwaren und Getränken. Rafa saß dort mit seiner Truppe, auch Cyris war dabei. Sie saß bescheiden am Tisch in ihrem roten Blüschen. Alle gratulierten Duncan.
"Jetzt bin ich schon achtunddreißig Jahre alt, schon ganz alt", klagte er.
"Ich bin neununddreißig, was soll ich sagen?" erwiderte ich. "Nicht aufregen, Duncan."
Tyra saß etwas weiter hinten an Tisch. Sie befaßte sich vorwiegend mit Lucy.
Rafa lief hierhin und dorthin, kam aber nicht nahe an mich heran.
Cyris und ich unterhielten uns über den Ausstieg von Tyra und Lucy bei W.E und über Rafas Verhalten, das vermutlich dazu geführt hat.
Cyris erzählte, für sie sei es ein merkwürdiges Gefühl, auf der Gästeliste des "Zone" zu stehen und hier bei den Mitgliedern oder Noch-Mitgliedern von W.E am Tisch zu sitzen. Sie fühle sich irgendwie fehl am Platz und befürchte, den anderen Leuten zur Last zu fallen und sie zu belästigen.
"Um Gottes willen", entgegnete ich, "Cyris, du fällst hier niemandem zur Last, und du belästigst hier niemanden, auf keinen Fall. Diese Menschen, die sich hier aufhalten, sind genau die gleichen, die dir überall sonst begegnen. Das sind ganz normale Leute. Das ist überhaupt nichts anderes als das, was du woanders siehst."
"Das weiß ich ja, daß das eigentlich ganz normale Menschen sind. Trotzdem habe ich immer dieses Gefühl."
Cyris und ich sprachen über das Thema Offenheit. Cyris offenbart ungern ihre Gedanken und Gefühle, weil sie befürchtet, dadurch andere zu belasten und sich selbst angreifbar zu machen. Ich hielt dagegen, daß Offenheit auch ein Mittel sein kann, sich und andere zu schützen, weil damit betrügerische Machenschaften aufgedeckt werden können. Nicht zuletzt könne Offenheit der Sucht entgegenwirken. Ich meinte, daß Sucht ohne Heimlichkeiten, Selbstbetrug und Lügen nicht gedeihen kann und daß man der Sucht durch Ehrlichkeit und Offenheit den Boden entzieht. Demnach wäre die Wahrheit nicht nur ein Mittel gegen die Lüge, sondern auch gegen die Sucht.
"Rafa haßt es, verletzbar zu sein", meinte Cyris.
"Genauso ist es", nickte ich. "Aber jeder Mensch ist verletzbar. Es gibt niemanden, der unverletzbar ist. Rafa versucht, seine Verletzbarkeit zu verstecken, weil er von den Menschen nichts anderes denkt, als daß sie ihn verletzen, wenn sie wissen, daß er verletzbar ist. Er hat ein ganz negatives Bild von den Menschen."
Len setzte sich zu uns, außerdem ein Junge namens Perry. Wir unterhielten uns über berufliche Selbständigkeit. Während unseres Gesprächs zog Cyris sich zurück mit der Begründung, sie wolle uns nicht stören. Unsere Beteuerung, sie störe uns nicht, konnte daran nichts ändern.
Perry meinte, der Weggang von Tyra und Lucy sei ein großer Verlust für W.E. Zu Rafas herrischem Verhalten sagte Perry:
"Der muß halt mal seinen Meister finden. Eines Tages ... eines Tages findet der seinen Meister."
"Bist du da wirklich sicher?" zweifelte ich.
"Auf jeden Fall - das wird passieren", war Perry überzeugt. "Da bin ich sicher."
"Die Frage ist nur, wodurch sich da etwas verändern soll."
Ivco nahm Cyris mit, sie übernachtete in seinem Haus. Cyris hatte schon befürchtet, stundenlang auf den ersten Zug warten zu müssen.
"Das ist schön, daß du sie mitnimmst", sagte ich zu Ivco. "Ich hatte Cyris schon gesagt, sie soll sich an dich wenden, sie hat sich aber nicht getraut."
Das Buffet wurde abgeräumt, das "Zone" leerte sich allmählich. In der kleineren Area, die wie eine Kirche hergerichtet ist, legte Les auf. Nachdem ich ihn begrüßte hatte, traf ich unweit vom DJ-Pult Len. Er zeigte auf die kleine Bar, die durch eine Glasscheibe von der Location getrennt ist, und sagte:
"Rafa ist da drüben."
In der Bar waren neben einem Stehtisch mehrere Barhocker in einem Kreis aufgestellt. Rafa stand inmitten der Leute, die auf den Hockern saßen, und hielt Hof. Tyra war unter ihnen, außerdem Anwar, Lucy und einige, die ich nicht kannte. Dolf und Duncan waren auf der Tanzfläche, sie kamen später zwischendurch in die Bar. Mit Tyra hatte ich heute noch fast gar nicht geredet. Das wollte ich ändern und setzte mich neben Tyra auf einen freien Hocker. Rafa kam wie zufällig immer wieder in meine Nähe. Einmal setzte er sich für kurze Zeit neben mich, einmal stand er unmittelbar vor mir, dann wieder ging er dicht an mir vorbei. Einmal stellte Rafa sich so dicht neben mich, daß unsere Körper sich berührten. Ich nutzte jede Gelegenheit aus, Rafa zu streicheln, und es gab viele Gelegenheiten. Rafa beschwerte sich nie, machte nicht einmal ein schiefes Gesicht. Er trug wieder seine blaugetönte Brille, die er nach dem Konzert abgesetzt hatte, und so konnte ich nicht sicher feststellen, wann und ob er mich ansah.
Rafa sang Lieder mit der Runde, unter anderem "Ohne dich" von Die Ärzte. Ich streichelte Rafa, während er sang:
"Die Welt könnte so schön sein ohne dich."
Nach dem Gruppensingen - an dem ich mich nicht beteiligte - wollte Rafa einen ausgeben.
"Wer will was?" fragte Rafa jeden in der Runde und nickte jedem zu.
Als ich hätte an die Reihe kommen müssen, nickte Rafa in meine Richtung, als wollte er mich auch fragen, schien sich aber inwendig selbst zurückzupfeifen. Das erinnerte sowohl Tyra als auch mich an Rafas fehlende Entschuldigung am Vortag.
"Mensch, du hast doch gestern diesen Rahmen voll an den Kopf gekriegt", kam Tyra auf das Thema zu sprechen. "Das muß doch voll wehgetan haben."
"Ja, das knallte voll dagegen", bestätigte ich. "Na, das war ja keine Absicht ..."
"Nein, das war keine Absicht von ihm. Aber ich habe ihn nachher noch gefragt, ob er sich entschuldigt hat. Da hat er gesagt:
'Nö.'"
"Na, das paßt zu ihm", meinte ich. "Nachdem das passiert ist, hat er ganz kurz in meine Richtung geguckt, wie so ein Reflex, als wenn er sich eigentlich entschuldigen wollte. Und dann ist er doch weggegangen. Das war so wie eben, als er aussah, als wollte er mir auch einen ausgeben, und dann sagte er zu sich selber:
'Nein.'"
"Er hat überhaupt kein mitmenschliches Verhalten", meinte Tyra. "Er hat überhaupt kein Gefühl für das Zwischenmenschliche."
"Der weiß genau, was sich gehört", meinte ich, "aber er tut es nicht. Er will sich nicht anständig verhalten."
"Die ganzen Ideale, die er immer predigt, die tritt er selbst mit Füßen."
"Genau so ist es", nickte ich. "All das, was er immer in seinen Interviews und Liedtexten predigt, genau das ist es, was er alles nicht einhält und dem er zuwiderhandelt. Genau das ist mir auch aufgefallen."
"Durch sein Verhalten wird Rafa sich irgendwann sehr einsam machen."
"Ja, aber einen Menschen verliert er nie: mich."
"Mich verliert er auch nicht", war Tyra sicher. "Auf der Bühne behandelt er mich zwar wie den letzten A..., aber ich mag ihn trotzdem."
Als ich ihr Anwars Verhalten am heutigen Abend schilderte, erkundigte sich Tyra:
"Merkst du denn nicht, daß du Rafa nur auf die Nerven gehst?"
"Das stimmt nicht, daß ich ihm nur auf die Nerven gehe", entgegnete ich. "Das ist seine Fassade."
"Woher willst du denn wissen, daß das nicht stimmt?" fragte Tyra.
"Ich kenne Rafa schon zwölfeinhalb Jahre", erzählte ich. "Mir kann der nichts vormachen. Und Rafa lügt gern und viel."
"Ja, ja, ja", bestätigte Tyra lebhaft.
"Er ist ein sehr guter Schauspieler", meinte ich.
"Mir mußt du das nicht erzählen", winkte Tyra ab, "ich bin Erzieherin. Bei dem in der Kindheit muß gewaltig was schiefgelaufen sein."
"Bei dem ist mit Sicherheit eine Menge schiefgelaufen."
"Als der Vater gestorben ist, war das wohl."
"Nein, ich glaube, das war viel eher. Das war schon in den ersten Lebensjahren. So eine Selbstwertstörung, wie der hat, entwickelt sich eher."
Ich erzählte ein wenig von meinen Erlebnissen mit Rafa. Tyra meinte, Rafa erwidere meine Gefühle nicht.
"Doch", nickte ich, "der liebt mich."
"Aber woher willst du denn das wissen?" fragte Tyra und wirkte halb amüsiert, halb mitleidig.
"Das habe ich erlebt", antwortete ich. "Das vergißt man nicht, solche Erfahrungen."
"Ja, wieso, hattet ihr denn schon ...?"
"Fast ... mir ging es darum, daß er sich zu mir bekennt, und er hat sich nie zu mir bekannt. Er hat so oft den Wunsch gehabt, mit mir ins Bett zu gehen, er hat den Wunsch so oft geäußert, aber er hat sich nie zu mir bekannt. Immer wenn es fast so aussah, als wenn wir ein Paar wären, immer wenn alles dafür sprach, ist er weggelaufen. Und das ist all die Jahre immer wieder passiert."
"Was macht dich so sicher, daß er dich liebt?"
"Es sind so viele Ereignisse, die übereinandergelegt immer das Gleiche ergeben."
Rafa spielte Spiele, bei denen er die gesamte Runde einbezog - auch mich. Er begann mit "Stille Post". Einer der Begriffe, die er auf Reisen schickte, lautete "Extravertierte Spezial-Erotik-Tour". Die Vorsilbe "Spezial-" verwendete Rafa heute inflationär.
Len kam in die Bar, und ich lud ihn ein, sich dazuzusetzen. Er nahm auf einem freien Hocker Platz.
Rafa befaßte sich vorwiegend mit den Herren in der Runde. Ihnen gegenüber schien er sich weniger unsicher zu fühlen. Rafa gab sich kumpelhaft und vermied alle Themen, die in die Tiefe gingen, die mit Gefühlen oder Konflikten zu tun hatten. In der Runde saßen auch Lucy und eine tief decolletierte Bühnenstatistin. Mit den beiden beschäftigte Rafa sich eher und lieber als mit Tyra.
Rafa warb für seinen Auftritt als DJ Ende Oktober im "Byzanz". Er erzählte von seiner Tätigkeit als DJ. Er könne nicht immer anspruchsvolle Sachen spielen, sondern es müßten auch Stücke laufen wie "The sparrows and the nightingales" von Wolfsheim, dann sei immer die Tanzfläche voll, obwohl das Stück völlig abgedroschen sei.
"Was machst du denn Weihnachten?" fragte einer der Herren.
"Wir müssen ja nicht immer nur Geld verdienen", antwortete Rafa, "wir können ja auch mal welches ausgeben."
Er gab eine Runde nach der anderen aus, als wollte er zeigen, daß er viel Geld hatte.
Einer der Herren machte Fotos. Einmal holte Rafa Tyra, Lucy und zwei von den Herren für ein Foto zusammen, das er von allen machen wollte, sich selbst inbegriffen. Rafa zeigte auf einen Punkt rechts oben in der Ecke, da sollten alle hinschauen. Sie machten folgsam, was er verlangte. Rafa hat solche Überheblichkeits-Posen auch schon für Bandfotos eingesetzt.
"Aach, das sieht doch so bescheuert aus, diese posierten Fotos", rief ich aus Herzensgrund und konnte Rafa nun endlich sagen, was ich davon halte.
Heather gesellte sich zu uns, die ich aus dem "Zone" kenne und dort schon öfter getroffen habe. Als Les das Power-Elektro-Stück "04.08" von Störfunk spielte, gingen Heather und ich auf die Tanzfläche. Zu "Lifetimes" von Slam und "Vater unser" von Combichrist tanzte ich ebenfalls. Ansonsten saß ich bei Tyra in der Runde. Rafa war manchmal auch woanders unterwegs. Einmal machte er durch die Glasscheibe in die Bar hinein Faxen, als wollte er für uns den Clown spielen. Er vollführte Gesten und Posen aus seiner Bühnenshow und drehte ein imaginäres Lenkrad, wie er es auf der Bühne tut, wenn er "VW Käfer" vorträgt.
Einmal ging Rafa wie so oft an meinem Hocker vorbei, und hätte er seine Laufrichtung beibehalten, wäre unser Körperkontakt recht eng geworden. Rafa bog im letzten Augenblick ab, so daß ich ihn zwar streicheln konnte, er aber nicht an mir entlangstreifte.
Gegen Morgen verabschiedeten sich die Leute nach und nach, die Runde wurde kleiner. Rechts neben mir wurde ein Hocker frei. Rafa war gerade außerhalb der Bar unterwegs. Sein vorheriger Platz wurde besetzt. Als Rafa wieder in die Bar kam, vermied er es, sich auf den freien Platz neben mir zu setzen. Er stand unschlüssig da, in meiner Nähe, schaute herum, stellte sich an die Theke, lehnte sich an, schaute etwas ratlos und verließ die Bar wieder. Ein Weilchen stand er alleine am Rand der Tanzfläche, rauchte und blickte vor sich hin. Dann kam er wieder in die Bar und ging wieder hinaus.
Zwischen Tyra und Len wurde ein Hocker frei. Rafa setzte sich eilig auf diesen Platz, als hätte er darauf gelauert. Rafa warf mir immer mehr Blicke zu, geschützt durch die blaugetönte Brille. Aus der Nähe war mit etwas Mühe erkennbar, daß er mich tatsächlich anschaute.
Barnet kam herein.
"Ey, wie schön, daß ihr da seid!" rief ich ihm zu.
Er war eben mit Heloise und Felicity aus PB. gekommen, wo sie eine andere Veranstaltung besucht hatten. Barnet und ich umarmten uns zur Begrüßung.
"Barnet, setz' dich doch dazu", ermunterte ich ihn. "Guck', hier ist noch ein Platz."
"Das würde ich gerne", entgegnete Barnet, "nur ich muß unbedingt meinen beiden Frauen Wasser bringen, weil die verdursten sonst."
"Dann werde ich mich auch noch zu euch dazugesellen, dann quatschen wir mal wieder ein bißchen."
Ich wisperte Barnet zu, daß Rafa vorhin ziemlich garstig zu mir gewesen sei, sich jetzt aber schon wieder streicheln lasse.
"Haha, so ist das eben mit ihm", meinte Barnet und brachte Heloise und Felicity Wasser.
Rafa guckte öfters auf die Uhr und sagte schließlich zu der Statistin:
"Um fünf fahren wir. Jetzt haben wir noch fünf Minuten."
Als die fünf Minuten um waren, sagte er:
"So - gehen wir."
Rafa stellte sich in die Mitte des Kreises und ging langsam rückwärts, bis er dicht vor mir stand. Ich streichelte ihn nochmals, am Rücken, am Arm, und kraulte ihn in der Taille. Rafa verabschiedete sich von allen, außer von mir. Tyra verabschiedete sich von allen, umarmte mich zum Abschied und ging mit Rafa und der Statistin weg.
"Ich habe gehört, ihr macht bald wieder was Musikalisches?" sprach ich Lucy auf ihr geplantes Projekt mit Tyra an. "Da wünsche ich euch viel Glück."
"Ja", lächelte sie, "danke."
"Und ich drücke euch ganz doll die Daumen, daß es euch gelingt, in kurzer Zeit ganz viele Stücke fertigzustellen", setzte ich hinzu, "denn ich weiß, daß das immer die größte Hürde ist."
"Ach, das schaffen wir schon", war Lucy zuversichtlich.
"Da geht man an die Sache 'ran voller Motivation, voller Eifer", gab ich zu bedenken, "und dann paßt hier der Terminkalender nicht und da der Terminkalender nicht ..."
"Ach, ich denke, das schaffen wir schon."
Den Rest der Nacht verbrachte ich in der angrenzenden kirchenähnlichen Location, wo Les auflegte. Am Rand der Tanzfläche stellte ich mich zu Barnets Familie und deren Freundin Joujou. Barnet erzählte, daß Joujous Freund Marian gesagt hat:
"Wenn Rafa die Darienne noch einmal anfaßt, kriegt er es mit mir zu tun."
"Was hat Rafa denn da mit Darienne gemacht?" erkundigte ich mich.
"Der war wohl etwas gewalttätig zu ihr", berichtete Barnet.
"Wer weiß denn darüber mehr?" fragte ich.
"Die Joujou", antwortete Barnet.
"Hi Joujou", sprach ich sie an, "ich habe gehört, daß Rafa der Darienne gegenüber in irgendeiner Form tätlich gewesen ist?"
"Ja, die hatte eines Tages ganz blaue Flecken an den Handgelenken", erzählte Joujou. "Und das kann nicht anders entstanden sein."
"Dann wird er sie wahrscheinlich an den Handgelenken gequetscht haben und geschüttelt haben", vermutete ich.
"Anders kann ich es mir auch nicht erklären", meinte Joujou.
"Wahrscheinlich war das wieder einer der Streits, wo Darienne wild geschrien hat ...", überlegte ich.
"Sowas ist überhaupt keine Art, eine Frau zu behandeln", sagte Joujou. "So behandelt man eine Frau einfach nicht."
"Ja, das ist auch völlig richtig. Das ist indiskutabel, so ein Verhalten."
"Darienne war früher eine stolze Frau", erinnerte sich Joujou. "Und jetzt guckt sie nur noch zu Boden. Sie hat sich verändert, seit sie mit Rafa zusammen ist. Sie hat sich völlig verändert. So kenne ich sie gar nicht. Wenn ich sie anrufe, und ich will mich mit ihr verabreden, hat sie nie Zeit - oder man bekommt sie gar nicht mehr ans Telefon, weil sie immer bei Rafa ist. Sie will dann immer gerade zu Rafa. Sie sagt, daß sie mit Rafa total glücklich ist. Aber das glaube ich nicht. Ich glaube, diese Beziehung ist nicht glücklich. Das merke ich ja an Dariennes Verhalten, das sich so verändert hat."
"Darienne hat eine schwere Selbstwertstörung", meinte ich. "Das ist auch der Grund, warum sie sich das Gesicht so zukleistert. Die ist ein unglücklicher Mensch. Dieses Verhalten, das sind nur zwei Seiten derselben Medaille: daß sie so stolz die Nase hoch getragen hat, daß sie so arrogant auf andere Menschen 'runterguckt, das ist ein Überkompensieren ihres Selbstwertdefizits. Sie guckt auf andere herab, um sich wertvoller zu fühlen. Und daß sie nun schüchtern den Kopf senkt, das ist der Hintergrund des Ganzen."
"Na, woher es kommt, das muß man auch mal sehen", meinte Joujou. "Darienne ist eine sehr gute Bekannte von mir geworden. Ich weiß über sie Einiges, und sie braucht lange, bis sie was sagt."
"Ich habe mal versucht, mich mit Darienne zu unterhalten, und da habe ich festgestellt, daß sie einfach nichts sagt. Mehr als wenige Silben oder drei Sätze waren nicht herauszubekommen. Da kam einfach nichts."
"Stell' dir mal vor, wie sich ein Mensch so entwickelt. Wenn ihre Mutter ihr immer nur sagt:
'Du bist die Schönste! Du bist die Beste!'"
"Ach so", schlußfolgerte ich, "die Mutter hat ihr vermittelt, daß sie nur dann etwas wert ist, wenn sie schön ist."
"Ja."
"Siehst du - daher kommt es. Die Mutter ist schuld am Selbstwertproblem der Tochter. Sie hat ihr vermittelt, daß sie nur dann liebenswert ist, wenn sie schön ist - und nicht um ihrer selbst willen. Und deshalb stellt Darienne die Fassade so in den Vordergrund und kleistert sich das Gesicht mit Schminke zu. Und Rafa hat ein Gespür dafür, wenn Frauen Minderwertigkeitsgefühle haben, und die sucht er sich dann aus. Mit denen führt er dann solche Streitereien, und dann fängt sie an zu schreien und schreit sich die Kehle aus dem Leib ..."
"Ich selbst habe das noch nie miterlebt."
"Ich habe es miterlebt", konnte ich berichten. "Und zwar im 'Keller'."
"Ach, bei einer Tanzveranstaltung?"
"Ja. Da hat Darienne sich die Kehle aus dem Leib geschrien. Und Rafa stand zufrieden lächelnd am DJ-Pult."
"Da hat er ihr gerade gesagt, daß er sie mit seiner Ex-Freundin betrogen hat", erzählte Joujou, "Tyra oder Tayra oder so. Und gleichzeitig hat er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Also, wenn mein Kerl zu mir sowas sagen würde ... da würde ich auch ... woooh ..."
"Nein, ich hätte zu ihm gesagt:
'Alter laß' dir mal was Neues einfallen.'"
"Ja - aber nicht Darienne", meinte Joujou, "die zu allem Ja und Amen sagt."
"Aha, Darienne sagt zu allem Ja und Amen."
"Ja."
"Oh Gott, die ist ja völlig devot", stellte ich fest. "Na ja, dann wird die Beziehung so weitergehen. Rafa kann mit Darienne machen, was er will, und sie läßt alles mit sich machen. Das kann ja noch lange so weitergehen ..."
"Darienne ist hypersensibel", meinte Joujou.
Vielleicht sollte das eigentlich "labil" heißen.
Auf der Rückfahrt tauschten Len und ich unsere Beobachtungen aus. Len fand das Konzert von W.E "qualitativ ziemlich mau". Die Choreografie der Damen fand er "unter aller Kanone", zumal die Bewegungen nicht einmal synchron gewesen seien. Bei Rafa sei ihm Folgendes aufgefallen: Als er während des Stücks "Gib mir mein Gefühl zurück" die Zeile sang:
"Glaube mir, ich liebe dich!"
- sah er kurz in meine Richtung, als wollte er damit sagen:
"Dich aber nicht."
Len fand, Rafa wirkte ziemlich aufgekratzt. Len hatte wie ich den Eindruck, daß Rafa sich Mühe gab, in allem, was er sagte, an der Oberfläche zu bleiben.
"Rafa will immer eine Show abziehen und unheimlich cool wirken und vor allem Leute um sich sammeln, die ihm eindeutig unterlegen sind und nur seine Fassade sehen, nicht ihn selbst", meinte Len. "Anscheinend braucht Rafa die Leute oder glaubt, sie zu brauchen. Er will in Ruhe seine Show abziehen, und dabei störst du ihn wahrscheinlich."
"Weißt du, ich glaube, Rafa hat Angst, sich zu blamieren, wenn er seine Zuneigung zu mir vor den anderen offenbart. Er kann dann nicht mehr als der obercoole Typ dastehen."
"Das hört sich plausibel an. Das könnte ich mir auch vorstellen, weil Rafa glaubt, auf die Bewunderung dieser Leute angewiesen zu sein. Allerdings ist das eine Schein-Bewunderung. Das ist nicht Echtes, nichts, was trägt und nichts, was hält."
Len fand die Leute, die mit uns in der Bar saßen, zum überwiegenden Teil ziemlich oberflächlich. Ein Grund dafür war, daß sie über banale Dinge lachten. Sie lachten bereits, wenn jemand einen Spruch machte wie:
"Guck' mal, da steht ein Glas, hahaha."
"Genau das ist mir auch aufgefallen", erzählte ich. "Das ist mir aber nicht bewußt aufgefallen."
Len hatte den Eindruck, daß die Leute in der Runde mich mit Geringschätzung betrachteten und mich nicht für voll nahmen, was auch und insbesondere für Lucy galt.
"Das ist mir dadurch aufgefallen, daß ich mich mit den Leuten fast gar nicht befaßt habe", sagte ich dazu. "Ich hatte gar nicht die Motivation, mit denen zu reden. Ich hätte nicht gewußt, über was."
"Die haben dich auch in keiner Weise integriert."
Len erzählte, er habe sich amüsiert, indem er die Leute beobachtet habe.
"Mit mir schienen die ja überhaupt nichts anfangen zu können", meinte er.
"Bis auf Tyra", gab ich zu bedenken. "Die hat dir ja freundlich die Hand gegeben."
"Ja, da habe ich mich auch gewundert. Das hätte ich gar nicht gedacht, daß die mir so freundlich die Hand gibt."
"Die ist aber auch nicht wie die anderen."
Was Anwar betraf, vermutete Len:
"Anwar ist ein einfacher Mensch, der das Gefühl hat, überhaupt nichts Besonderes zu sein. Vom Aussehen ist er auch sehr unscheinbar. Er schließt sich Rafa an, um das Gefühl zu haben, damit etwas Besonderes zu werden. Es ist durchaus nachzuvollziehen, daß Anwar daran gelegen ist, mit Rafa keine Konflikte zu haben und daß er deshalb ihm gegenüber keine konträre Position bezieht."
Len schätzte Rafa als unzuverlässig und faul ein, als jemanden, der es nicht schafft, in seinem Leben wirklich etwas zu bewegen. Len hatte den Eindruck, daß Rafa kein ausgereifter Charakter ist. Rafa sei so unreif wie ein Zehntkläßler. Er erinnere ihn an einen Klassenkasper.
"Ja, auf diesem Niveau ist Rafa stehengeblieben", meinte ich. "Ich kann mir auch vorstellen, daß er früher ein Klassenkasper war."
Für Rafas Unreife spricht, daß er immer noch bei seiner Mutter wohnt, mit fast fünfunddreißig Jahren.
"Da hat er es warm", meinte Len, "da hat er immer was zu essen, und da hat er gar keinen Anreiz, sich beruflich nach vorne zu entwickeln. Er hat es auch in dem Alter schon ganz schön schwer, noch irgendetwas zu finden. Und er könnte sich sowieso nicht integrieren, so wie er sich verhält."
Rafa erinnerte Len an einen seiner Bekannten, der auch unzuverlässig ist und sich ähnlich verhält.
Len erzählte von seiner Berufstätigkeit als Softwareentwickler und -optimierer. Er arbeitet bald nicht mehr für die Firma, für die Cennet arbeitet, sondern wechselt zu einer Firma in Hessen. Wir planten, uns nach seinem Wegzug aus H. wiederzutreffen und noch mehr verlassene Industriegelände zu erkunden.
Ivco mailte am Dienstag:

Und, bist du noch gut nach Hause gekommen? Ich hatte eine angenehme Fahrt mit Cyris, wir haben uns viel unterhalten, was für mich bei Nachtfahrten der angenehmste Zeitvertreib und Ablenkung ist. Sonntag nach dem Frühstück haben Dina und ich sie noch zum Bahnhof gebracht. Cyris war ganz glücklich, nicht mit dem ersten Zug am Sonntag von HF. nach Hause fahren zu müssen.
Zusammen rätselten wir, wer nun die "Weiblichkeit" bei W.E übernimmt. Darienne würde ja auf der Hand liegen, kann ich mir wegen H.F. aber nicht vorstellen. Lassen wir uns überraschen!

"Weiblichkeit" ist Rafas Synonym für Bühnenstatistin, Gogo-Girl, Sängerin oder Playback-Sängerin. Ich finde den Begriff in diesem Zusammenhang fragwürdig, zumal er Menschen auf bestimmte Körperteile reduziert. Das ist bei einigen Schimpfwörtern ebenso. Die Frage, ob bei Rafa grober Stammtisch-Sexismus oder regelrechter Frauenhaß vorliegt, kann ich noch nicht beantworten.
Ich mailte an Ivco, ich sei sicher, Rafa werde Darienne auf die Bühne stellen. Sie mache es ihm leicht; sie sei devot und naiv.
Icon mailte, er habe sich wohl bei Rafa mit einem grippalen Infekt angesteckt. Ihm sei aufgefallen, daß Rafa häufig krank sei. Über Darienne mailte Icon:

Darienne hat angeblich ihr Abi abgebrochen, weil sie nun Sängerin von H.F. ist. So hat es mir zumindest Lucy gesagt. Das kann ich mir nicht vorstellen. Wer verbaut sich denn so die Zukunft für eine Scheinkarriere?

Über Lucy mailte Icon:

Mit Lucy verstehe ich mich momentan auch sehr gut. Sie ist jetzt mit ihrem Freund nach F. gezogen. Dies ist ziemlich in meiner Nähe und noch näher an DA., wo Mayjana wohnt. Also werden wir demnächst wahrscheinlich öfters mal etwas unternehmen. Interessant wird es bestimmt auch im Dezember. Da möchte Berenice nach F. auf den Weihnachtsmarkt fahren, und sie wollte, dass wir uns dort mal treffen. Da freue ich mich jetzt schon drauf.
Lucy hat mir etwas sehr Interessantes erzählt. Der Vertrag bei dem Label geht nur noch bis zum nächsten Album, danach ist Schluss. Nun stellt sich die Frage, ob das Label danach den Vertrag mit W.E verlängern möchte oder nicht, denn schliesslich ist die Arbeit mit Rafa nicht sonderlich angenehm. Sie wollten bis September das Album sehen, aber Rafa hat es nicht geschafft. Stattdessen wollte er mal wieder eine Maxi-CD veröffentlichen, aber diesmal wollte das Label nicht, sie bestanden auf dem Album. Jetzt heisst es, dass es im Frühjahr 2006 veröffentlicht wird. So schwer, wie sich Rafa jedoch momentan tut, glaube ich nicht, dass das etwas wird. Er fängt ständig etwas an und bringt es nicht zu Ende. Genauso wie sein Spiel, das er im August auf der "Salix" gezeigt hat ... Das ist bis jetzt nicht komplett fertig. Eigentlich ist es fast unspielbar, da Rafa vergessen hat, den Zufallszahlengenerator zu starten, und man deswegen immer dieselben Fragen gestellt bekommt. Rafa sagt immer nur, dass es in Arbeit ist, aber es wird nicht fertig ...
Ich warte ja auch schon ewig darauf, dass Rafa mal sagt, wie die neue W.E-Homepage werden soll. Dann könnten wir endlich mal anfangen. Er hat auch immer eine Menge netter Ideen, aber leider kein fertiges Konzept / Layout / was auch immer. Und so geht das nun schon rund ein Jahr.

Am Mittwoch hatte ich folgenden Traum:

Es gab eine Möglichkeit, durch geheime Türen in ein Land zu kommen, das in die Hintergründe der menschlichen Psyche führte. Das war das "Phantasiereich", eine Art Parellelwelt. Es gab dort mehrere Bereiche, die ineinander übergingen. Man konnte durch das Innenleben von Menschen hindurchgehen. Die Parallelwelt gehörte nicht nur einem Menschen allein, sie wurde nicht nur von einem Menschen gestaltet, sondern von vielen. Besonders spannend fand ich es, durch fremdes Terrain zu gehen. Ich war auch mit Freunden gemeinsam in der Parellelwelt unterwegs. Wenn man einen Bindfaden hatte, der an zwei Enden eine Perle trug, und wenn man den Bindfaden durch ein Loch in die Parallelwelt hineinschob und durch ein anderes wieder heraus, konnte man an dem Bindfaden entlang durch ein Loch in die Parallelwelt hineingehen und durch das andere wieder hinausgehen. In der Parallelwelt sah ich Rafa mit Darienne stehen in einer Discothek, die einem Aufbahrungszimmer ähnelte. In der Mitte brannten Kerzen auf einem Altartisch, rechts uns links konnte man vorbeigehen und etwas trinken. Auf dem Boden lag ein Teppich. Alles gehörte zur Einrichtung der Discothek. Den Raum eroberte ich nach und nach für mich, als Rafa vorübergehend nicht dort war. Ich unterhielt mich mit vielen Leuten, wir amüsierten uns. Dann kam Rafa mit Darienne in unsere Nähe. Darienne erkannte, daß ich mich in ihrer bevorzugten Ecke eingerichtet hatte. Sie bekam einen mißmutigen Gesichtsausdruck, lästerte laut über mich und machte sich über mich lustig, so sehr sie konnte. Rafa erstickte Dariennes Unmutsäußerungen in Liebesbeteuerungen. Den anderen Leuten gegenüber zeigte Rafa sich lärmend und wohlgelaunt. Darienne hielt sich schattenhaft neben ihm. Rafa ging mit Darienne ans Ende eines Katafalks und schickte sie unter einem Vorwand weg. Als sie außer Sicht war, ging ich auf Rafa zu, und wir begannen, eine klassische Theaterszene zu spielen. Die Szene handelte davon, daß zwei Liebende einander trafen, deren Liebe gesellschaftlich verboten war. Wir hielten uns in den Armen, rezitierten klassische Texte, so laut wir konnten, und hatten einen unglaublichen Spaß daran. Rafa spielte in dem Drama so eifrig mit, daß er mit mir ein paar mehr als heftige Zungenküsse austauschte. Die Zungenküsse gingen weit über das hinaus, was man in einer klassischen Theaterszene erwarten würde. Rafa schien das Spiel mindestens so sehr zu gefallen wie mir. Als wir die Szene zuendegespielt hatten, löste sich Rafa nur sehr ungern von mir. Ich huschte wieder in meine Ecke, weil Darienne zurückkam. Es konnte ihr nicht verborgen geblieben sein, daß Rafa und ich laut Theatertexte rezitiert hatten. Rafa hatte sich mit Darienne kaum wenige Schritte von mir und den Umstehenden entfernt, als Darienne anfing, Rafa aus Leibeskräften in den höchsten Tönen anzuschreien. Rafa antwortete mit Liebesbeteuerungen, die ebenso routiniert wie formelhaft wirkten. Darienne schrie weiter. Rafa schien den Ablauf zu kennen und wirkte keineswegs verwundert.

Als ich Isis in einer E-Mail die Ereignisse im "Megamarkt" und im "Zone" schilderte, schrieb sie:

dein bericht is ja einfach göttlich ... nein, ich hab eben gegrinst.
wie widersprüchlich doch so manche charaktere sein können *lach* der rafa is da wohl der meister *noch mehr lach*
und dein verhalten war ja wohl nur *ich sags mal ganz salopp* megageiiiil!
ich glaub, DAS war ne first class therapie.
*sorry ich komm ausm lachen nicht mehr raus*
... meine herren, sind die daneben, wie kann man bloss seine ganzen sängerinnen so vergraulen und die freundin als hündchen misshandeln ... ich sagte ja schon: darienne schien sehr schüchtern und devot zu sein, so, wie ich sie am 9. september sah.
(sehr trauriges menschenbeispiel, also, was regelrecht ausgenützt wird und die launen widerstandslos erträgt ... schlimm)

Evelyn mailte zu dem Thema:

Das hört sich sich ja wirklich danach an, als ob Rafa wirklich unberechenbar ist! Einerseits sagt er, Du sollst ihn nicht nerven, aber andersrum sagt er auch nichts, wenn Du ihn streichelst! Weiß dieser Mann eigentlich, was er will? Wohl nicht! Aber ich denke auch, wenn es nicht mehr ganz so läuft mit W.E, wird er vielleicht von seinem hohen Ross gestoßen, und er wird dann auch umgänglicher! Man weiß es nicht! Vielleicht gibt es ja auch mal die Zeit, dass Ihr Euch doch mal aussprechen könnt! Die Zeit wird es bringen!

Ich mailte:

Ja, Rafa scheint wirklich nicht zu wissen, was er will! Ach, wie sehr hoffe ich, daß er endlich mal Kontakt kriegt mit dem Boden der Tatsachen. Der lebt doch gar nicht, der suchtelt nur vor sich hin.

Im W.E-Forum äußerten sich die Fans begeistert über das Konzert in HH. Rafa freute sich:

Wer hätte gedacht, daß "klein" W.E ;) den "Megamarkt" / HH. UND auch das "Zone" in HF. VOLL (!!!) bekommt!!!! + + +

Ein Mädchen bedankte sich bei Rafa "für das Zulächeln nach dem Konzert". Ich schrieb:

Ach, wie's um HH. geht, grade fällt's mir ein. Rafa, du wolltest dich doch noch bei mir entschuldigen.

Rafa, der sich offensichtlich immer noch nicht für seine Rempelei auf der Bühne entschuldigen wollte, löschte den Beitrag.
Als die Fans sich im Forum darüber austauschten, wie sie W.E kennengelernt haben, schrieb ich:

Damals gab's die Band noch gar nicht, zumindest nicht unter dem Namen.

Wenn es im W.E-Forum um Bands geht, deren Musik ich mag, melde ich mich auch gern zu Wort, etwa zu Feindflug:

Die "Sterbehilfe"-EP bringt es, finde ich, besonders gut zum Ausdruck: Die Botschaft von Feindflug richtet sich gegen Krieg, gegen die Todesstrafe und gegen Menschenrechtsverletzungen allgemein.
Feindflug rules.
Lieblingslied: "Roter Schnee" (das Lied über das Grauen von Stalingrad)

Sowohl Tyra als auch Lucy haben einen Abschieds-Thread ins W.E-Forum gestellt. Viele Fans zeigen Bedauern über den Weggang der beiden und geben sich Mühe, Verständnis zu zeigen. Was tatsächlich dazu geführt hat, daß Tyra und Lucy W.E verlassen haben, wird in dem Thread nicht erwähnt.
Berenice kündigt in der früheren W.E-Rubrik auf ihrer Homepage die Versteigerung ihrer Bühnenkostüme an, alles zugunsten des Tierschutzvereins. Sie schrieb dazu:

Ich kann es leider nicht jedem Recht machen ;) So gern ich den teils einfallsreichen, teils lieben Umstimmungsversuchen etlicher Fans nachkommen würde, so unmöglich ist es mir. Ich habe W.E nach reiflicher und langer Überlegung verlassen und diesen Schritt bis heute nicht bereut. Innerhalb eines Jahres habe ich so viel gelernt und so vollkommen verschiedene Erfahrungen gesammelt - all dies wäre mir verwehrt gewesen, hätte ich nicht den Schritt zur Veränderung gewagt. Ich danke Euch für die Treue, aber zu W.E werde ich nicht zurückkehren.

Als Rafa im W.E-Forum zu der Bedeutung seines Liedes "Arbeit adelt!" befragt wurde, beschwor er Weltkriege herauf, Trümmerfelder, die alle Menschen vereinen sollten, denn alle seien nach solchen Ereignissen in derselben Situation. Das sei ein Weg zu echter Völkerverständigung:

"... Schwarz und Weiß, arm oder reich - Alle Menschen werden gleich. Und alle müssen nochmal ran - Kommt, stellt die Maschinen an!"

Diese Trümmerromantik folgt der Illusion der fünfziger Jahre, man habe aus eigener Kraft gemeinsam alles wieder aufgebaut. Daß der Wiederaufbau nur mit viel fremdem Geld möglich war, daß die "Schreibtischtäter" der NS-Zeit zum größten Teil immer noch dort saßen, wo sie vor 1945 gesessen hatten und daß die Aufarbeitung des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte verschleppt und behindert wurde, scheint Rafa entweder nicht zu wissen oder nicht wissen zu wollen.
Ich schrieb:

Infernalische Szenarien (Zusammenbruch der Gesellschaft, Weltuntergang) malt man sich häufig dann aus, wenn die eigene Lebenssituation bzw. das gesellschaftliche Nahumfeld (gesicherte Arbeitsstelle, Treue in der Partnerschaft, Gesundheit) im Argen liegen. Sind die persönlichen Lebensverhältnisse geklärt (z. B. die Arbeitsstelle ist einigermaßen sicher, in der Partnerschaft ist man treu, das Rauchen hat man aufgegeben, man ist mit sich selbst im Reinen) treten Schreckensszenarien (Weltuntergang, Verschwörungstheorien etc.) meist in den Hintergrund.
Angst hat man in erster Linie vor dem, was einen unmittelbar betrifft (Sorge um die Existenz, Angst vor Ablehnung, Diagnose Lungenkrebs). Der Weltuntergang oder die geargwöhnte Geheimverschwörung sind eher vorgeschobene Etiketten für Angst.

Cyris zitierte Rafa:

Versuche, diese Welt zu verbessern, oder erschieß Dich!

Sie setzte hinzu:

Dieses "Lebensmotto" ; ) ist doch recht brauchbar.

Ich schrieb:

"Die Welt verbessern" ist relativ; es kommt auf die Frage an, für wen und wodurch. Spätestens hier wird das Motto problematisch. Nimmt man es wörtlich, wollte Hitler auch nur die Welt verbessern. (Nebenbei - als er sein "Werk" nicht vollenden konnte, erschoß er sich.)
Wer soll denn festlegen, für wen, wie und in welche Richtung die Welt verbessert werden soll? Wer soll darüber entscheiden, was mit "besser" gemeint ist?
Und sich zu erschießen, weil man eine bestimmte Meinung nicht teilt bzw. etwas Bestimmtes unterläßt bzw. nicht versucht, ist die wohl destruktivste aller möglichen "Lösungen" und eine Entwertung des Menschen an sich. Die Behauptung, daß jeder, der etwas Bestimmtes, beliebig Festlegbares nicht leistet bzw. nicht leisten will, deshalb nicht lebenswert sei und sinngemäß im Universum nur Platz wegnehme, impliziert, daß man dem Menschen den Wert abspricht, den er um seiner selbst willen hat.
Willkürlich festzulegen, was eine "Weltverbesserung" bedeutet, heißt auch, willkürlich festzulegen, welcher Mensch lebenswert ist und welcher nicht. Das hatten wir doch alles schon mal in Deutschland ...???

Evan bestellte bei mir per E-Mail einige Exemplare aus der diesjährigen Katastrophen-Keks-Kollektion:

Guten Tach Frau von Fractal,
ich hätte gerne 200g Katastrophenkekse mit ganzen Kruppstahlsplittern und einen großen Beutel Dresdner Brandplätzchen!
Vielen Dank und knusprige Grüsse!
Das stählerne Krümelmonster

Ich mailte:

Ja, es wäre eine Idee, Stahlwolle in die Kekse zu backen, nur könnte man sie dann nicht mehr essen. Man müßte Stahlwolle aus z. B. Zucker nachahmen und damit die Kekse dekorieren, z. B. Das geht aber nur mit professionellem Konditor-Handwerkszeug bzw. industriell.
Fraktale Grüße!
Hetty

Azura backt auch gerne merkwürdige Kekse. Sie mailte:

Ich verziere sie immer mit Zuckerguß in Pink, Türkis, Hellgrün oder Neongelb, und einmal hab ich die Farben auch gemischt, weil ich Lila wollte, und so ein Grüngraulila rausbekommen, was dann auf den Teddybären und Engeln recht eklig aussah, zumal dann noch die bunten Streusel drauf zerlaufen sind ... Meine Mutter hat sich beschwert, daß ich lauter "Wasserleichen" backe ...

Sator erzählte am Telefon, daß ich im Stadtmagazin zu sehen bin. Ich kaufte mir das Heft. Eine Seite ist dem "Mute" gewidmet und trägt die Überschrift "Black is beautiful". Die Fotos sind im September gemacht worden. Auf dem Foto in der Mitte sieht man mich auf der Tanzfläche, mit Leuchtstab im Haar und Corsage. Darunter steht "Düster-Fee". Ringsherum gibt es Fotos anderer Partygäste zu sehen, unter denen die Namen der Abgebildeten stehen.
Talis hat am Telefon erzählt, daß Virginia und Pascal eine Tochter haben, die Mitte September zur Welt gekommen ist und Maria-Louisa heißt. Seit Pascal nach H. zurückgekehrt ist, wo er eine Stelle bekommen hat, wohnt er bei Virginia. Geplant ist der Umzug in ein eigenes Haus. Pascal hat - ebenso wie seine Freunde Dane, Ovid und Pierre - in H. Elektrotechnik studiert. In der Firma, wo Pascal jetzt arbeitet, ist er in der Entwicklungsabteilung beschäftigt. Zum Testen von Steuerungs- und Bremssystemen fährt er öfters nach Finnland, weil man sich dort auf winterliche Verkehrssituationen verlassen kann.
Pierre hat zusätzlich Mechatronik studiert. Er war mit seiner Frau und den beiden Kindern ein Jahr lang in Amerika und ist zurückgekehrt, damit die Kinder eine solide Schulbildung erhalten; die nämlich ist in den USA schlecht zu bekommen. Die Familie lebt nun wieder in Schleswig-Holstein im eigenen Haus. Pierre ist verbeamtet und braucht sich keine Zukunftssorgen zu machen. Aufgrund seiner Ausbildung und seiner sonstigen beruflichen Voraussetzungen wird er hoch gehandelt und gut bezahlt. Erst kürzlich soll er befördert worden sein.







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Am Freitag war ich auf Evelyns Geburtstagsfeier, die in einem Vereinsheim stattfand. Evelyn ist dreißig geworden. Timon erzählte, daß er nächstes Jahr dreißig wird. Loulou und er planen bislang weder Ehe noch Kinder. Timon ist sicher, nie Kinder haben zu wollen:
"Ich will das Generve nicht. Für mich ist das klar, daß ich das nicht will."
"Du weißt nicht, was dir entgeht", meinte ich.
Tricky guckte tief ins Glas. Auch ein Junge namens Cory trank ordentlich.
"Bei Frauen kommt es nicht nur darauf an, daß sie schön aussehen", lallte Cory. "Es kommt auch auf die Intelligenz an. Auch die Intelligenz ist wichtig."
"Es gibt eine neue Statistik", erzählte ich. "Man hat festgestellt, daß die Wahrscheinlichkeit, daß eine Frau heiratet, mit sinkendem IQ steigt."
"Ja, das liegt daran, daß intelligentere Frauen höhere Ansprüche haben."
"Aber intelligenten Männern soll es ziemlich egal sein, ob die Frau, die sie heiraten, dumm wie Brot ist."
"Das is' aber nur die Statistik", lallte Cory. "Mir is' das nich' egal. Mit mir kann man sich nich' nur über Autos unterhalten. Mit mir kann man sich auch über Psychologie und Philosophie unterhalten."
"Das ist aber schön", lobte ich. "Kann man denn auch mit betrunkenen Männern anspruchsvolle Gespräche führen?"
"Betrunkene Männer sind ehrlicher", behauptete Cory. "Deshalb kann man mit ihnen ehrlichere Gespräche führen. Am besten ist es, wenn ein betrunkener Mann und eine betrunkene Frau sich unterhalten. Dann sind beide ehrlich."
Torvils Bekannte Morgana erzählte, daß sie den ganzen Tag geweint hatte. Heute früh hatte ihr Freund mit ihr Schluß gemacht. Ich erzählte ihr von Rafa, und eben da erklang im Tanzsaal Rafas Stück "1000 weiße Lilien".
"Wenn man vom Teufel spricht, fängt er auch schon an zu singen", kommentierte ich.
Morgana meinte, Rafas Verhalten erinnere sie an ihren Ex-Freund.
Cory wollte mit Morgana flirten. Die wollte das aber nicht, weil sie mit der Trauer um ihren Ex-Freund beschäftigt war.
Tricky schlief gegen Morgen auf einem Stuhl ein, und ein Mädchen steckte ihm einen Strauß rote Plastik-Rosen in die halb geöffnete Hand. So wurde er von Evelyn fotografiert.
Am Sonntag war ich in einem Dorf in der Nähe von HE., um dort bei einer Knochenmark-Spendenaktion zu helfen. Der Verwandte, um den es der Familie ging, hatte inzwischen einen Spender. Die Proben wurden genommen, damit auch für andere ein Spender gefunden werden konnte. Als Dankeschön gab es für mich eine Flasche Prosecco und eine Flasche Dornfelder.
Die Frau des Hauses hatte Kuchen gebacken, und die Aktion wurde verbunden mit einem Kaffeekränzchen am Kaminofen. Es ist eine Patchwork-Familie. Die Mutter lebt mit ihrem jetzigen Lebensgefährten und der Tochter aus ihrer Ehe, der Sohn lebt beim Vater. Sie erzählte, daß beide Kinder an ADS leiden und nur mit Hilfe von Ritalin in der Schule zurechtkommen. Die elfjährige Tochter Yanessa hatte eine Geschichte geschrieben, in der fanden drei Paare zusammen. Ich fand die Geschichte so niedlich, daß ich mir wünschte, daß Yanessa sie mir als E-Mail schickte, und das tat sie auch.
Gegen Abend schauten noch Amelie und Jay-Elle vorbei, um sich Blut für die Knochenmark-Typisierung abnehmen zu lassen. Sie waren auf dem Weg zum Nachtdienst und hatten nicht viel Zeit, so daß wir uns nur kurz unterhalten konnten.
Am Samstag war ich in HM. in der "Kaputtbar". Vor fünfzehn Jahren ist die "Kaputtbar" aus einem maroden Bretterbau in ein ehemaliges Firmengebäude gezogen, das in eine schicke, moderne Location verwandelt wurde. Der Bretterbau wurde nach dem Auszug der "Kaputtbar" abgerissen. Vorher wurden die Stammgäste eingeladen, das Interieur nach Herzenslust zu zerstören. Telgart war dabei und schwärmte, das Demolieren habe so viel Spaß gemacht.
Zu der neuen "Kaputtbar" gehört ein hübsches Café, dessen Aussehen an eine Kunsthalle erinnert. Cyra, Desirée und ich saßen dort zum Kaffeeklatsch. Ich erzählte, daß ich mir auf der Arbeit Groschenromane von der Kommode im Stationsflur nehme, wo die Patienten ihre ausgelesenen Zeitschriften und Groschenhefte hinlegen. Schon während des Studiums habe ich im Stations-Nachtdienst Regenbogenpresse und Groschenhefte gelesen. Ich rezitierte erfundene "Ich kann nicht länger schweigen"-Artikel, etwa so:
"Zwanzig Jahre lang führten wir eine glückliche Ehe - glaubte ich zumindest. Heiner verdiente gut und war ein liebevoller Ehemann und Vater. Als meine Freundin Carla mir erzählte, daß Heiner seit Jahren fremdging, schalt ich sie eine Lügnerin und brach empört den Kontakt ab. Wie schämte ich mich, als ich feststellen mußte, daß er eine Geliebte hatte! - Ich heiratete den Mann, den meine Mutter aussuchte. Sie wünschte sich einen Schwiegersohn, der viel Geld hatte. Wie konnte ich ahnen, daß Rainers Firma bereits Konkurs anmelden mußte? - Und so weiter und so weiter. Diese angeblich wahren Geschichten sind frei erfunden, weil sie sich so leicht ausdenken lassen und weil es billiger ist und schneller geht, sie zu erfinden, als sie zu recherchieren."
In der Eingangshalle zum Saal traf ich Dirk I. und seinen Freund Peter am Merchandize-Stand. Wir begrüßten einander und erzählten Cyra vom "Maschinenraum"-Festival, wo sie dieses Jahr nicht gewesen ist. Peter meinte, für ihn sei der beste Act Contagious Orgasm aus Japan gewesen. Ich meinte, für mich sei Sonar der beste Act gewesen, außerdem Morgenstern.
"Sonar ... aach ...", winkte Cyra ab.
"Doch, in echt", blieb ich dabei. "I was glad to sleep enough friday night, so I was fit enough for saturday and for Sonar."
Dirk trat heute in der "Kaputtbar" als Dive auf. Seine Show ist immer gleich, die Titel nahezu auch, doch diese Auftritte werden mir nie über. Ich kann Dive und Sonar konsumieren bis zum buchstäblichen Umfallen, denn ich tanze dazu bis zum Umfallen, wenn sie lange genug spielen.
In der "Kaputtbar" traf ich Terry, Linus und Terrys Freundinnen Birthe und Candice, außerdem Heloise und Barnet. Birthe und Candice wohnen jetzt in HM. in einer WG. Birthe lebt von ihrem Einkommen als Putzfrau in einer Zahnarzt-Praxis. Eine Ausbildung will sie nicht machen. Der einfache Lebensstil scheint ihr zu genügen; sie wirkt auf mich zufrieden und ausgeglichen.
Was mein Gespräch mit Joujou am letzten Samstag betrifft, so meinte Heloise, ich hätte Joujou wohl die Augen geöffnet. Joujou sei bisher davon ausgegangen, daß Dariennes überhebliches Verhalten Zeichen eines gut ausgeprägten Selbstwertgefühls sei und daß Rafa sie so sehr eingeschüchtert habe, daß ihr Selbstwertgefühl darunter erheblich gelitten habe. Ich hätte nun Joujou vor Augen geführt, daß sowohl Dariennes Überheblichkeit als auch ihre Verschüchterung auf eine Selbstwertstörung zurückgehen und zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Dariennes Selbstwertgefühl sei bereits durch die Lieblosigkeit der Mutter gestört worden, nicht erst durch Rafa. Joujou habe diese Deutung zuerst mit Skepsis aufgenommen, dann aber sei sie zu dem Schluß gekommen, daß sie sinnvoll sei und wahrscheinlich zutreffend.
Heloise und Barnet haben Darienne zuletzt im Juni gesehen, da war sie ohne Rafa im "Zone".
Heloise erzählte, daß ihre Tochter Felicity in Discotheken gerne dasitzt und Leute beobachtet. Wenn sie jemand fragt, warum sie nicht mehr redet oder warum sie nie tanzt, läßt sie sich davon nicht beirren.
"Ich denke, ihr habt ihr das Richtige beigebracht", meinte ich. "Felicity weiß, worauf es ankommt."
"Ja, die sagt ja auch schon Sachen wie:
'Da ist ja richtig Zickenalarm! Das ist ja wie bei uns in der Schule! Ich denke, die sind erwachsen! Hört das denn nie auf?'
'Nein', habe ich geantwortet, 'das hört nie auf.'"
Nach dem Dive-Konzert klagte Dirk am Merchandize-Stand, heute sei im Saal nicht genug Stimmung gewesen. Ich erwiderte, ich hätte doch andauernd nur getanzt.
"You of course, you were dancing", sagte Dirk.
Den eigentlichen Main Act - [:SITD:] - verfolgte ich eher nebenbei. Nach dem Konzert spielte der DJ ein Stück, zu dem ich tanzte, "Rise again" von :wumpscut:. Die Stücke, die er danach spielte, konnten mich nicht mehr auf die Tanzfläche locken.
"You're not dancing?" fragte Dirk.
Er hatte wohl Lust dazu. Ich erklärte aufrichtig, die Musik sei mir einfach zu lau.
Gegen ein Uhr verabschiedete ich mich von allen, außer von Terry, denn mit ihr ging ich ins Café nebenan, um zu frühstücken.
Evan leitete eine E-Mail an mich weiter, die er von einer Bekannten namens Jolene erhalten hatte. Jolene kennt mich von den Locations in H. In ihrer E-Mail berichtete sie von einem Todesfall. Wer der Verstorbene war, wußte ich zuerst nicht, weil er mehrere Rufnamen hat. Als Ted mich anrief, klärte sich, um wen es sich bei dem Verstorbenen handelte: um Cyan, Teds alten Freund und verflossenen Geliebten. Ted erzählte weinend, daß Cyan an einem Herzinfarkt gestorben ist. Cyan hatte einen Herzfehler und war als Kind deswegen operiert worden, hatte damals aber noch keine neue Herzklappe bekommen. Dieses war inzwischen notwendig geworden, deshalb bekam Cyan vor Kurzem in der Hochschule eine neue Herzklappe. Wenige Tage nach der Operation wurde er bereits in eine neurologische Reha-Klinik gebracht. Es wurde keine internistische, sondern eine neurologische Reha-Klinik ausgesucht, weil Cyan länger als gewünscht im Koma gelegen hatte. Wenige Tage nach Beginn der Reha-Maßnahme erlitt Cyan einen Herzinfarkt, an dem er noch im Rettungswagen starb. Ob es einen Unterschied gemacht hätte, wenn Cyan in eine internistische Reha-Klinik gekommen wäre statt in eine neurologische, ist fraglich. Daß es einen Unterschied gemacht hätte, wenn Cyan nicht so rasch aus intensivmedizinischer Behandlung entlassen worden wäre, darf als wahrscheinlich gelten. Allerdings werden Leben und Gesundheit der Patienten zunehmend den Kostendämpfungsversuchen im Gesundheitswesen geopfert.
Ted berichtete, er habe neulich bei Cyan angerufen, um dessen Frau Catherine zum Geburtstag zu gratulieren. Catherine erzählte ihm, daß Cyan im Krankenhaus war. Ted und Catherine verabredeten, in einigen Tagen wieder zu telefonieren. Am Morgen des 25. Oktober stand Ted nicht wie gewohnt um sechs Uhr auf. Er sagte sich, seine Arbeiter hätten genug Arbeit zu machen, die seien beschäftigt, er könne also ruhig etwas später in die Firma kommen. Er komme aber sonst stets pünktlich in die Firma; dies sei das erste Mal in seinem Leben gewesen, daß er im Bett liegengeblieben sei. Um sieben Uhr rief Catherine an und berichtete, daß Cyan am Vortag gestorben war, morgens früh um sechs. Ted stand auf, ging hinaus, lief an der Ruhr entlang und redete mit Cyan. Er wollte ihm noch so viel sagen, und dazu war es nicht mehr gekommen. Cyan hatte ihn vor einem Jahr gefragt, warum er sich zwei Jahre lang nicht mehr bei ihm gemeldet hatte, und Ted hatte geantwortet, das werde er ihm eines Tages erzählen, nur nicht jetzt. Und nun war es zu spät.
Ted ging in seine Stammkneipe und trank drei Kaffee und danach drei Pils. Die Wirtin erkundigte sich, was mit ihm los sei, denn sie merkte, daß etwas nicht stimmte. Auch in der Firma machten sie sich Sorgen. Erst mittags meldete Ted sich dort.
Der Wirt in Teds Stammkneipe fragte Ted, warum er immer noch keine Lebensgefährtin habe. Er sehe doch schmuck aus, sei ein netter Kerl und fahre ein schönes Auto. Ted meinte, dies spiele keine Rolle bei seiner Suche.
Am Samstagabend ging ich mit Cyra und einigen anderen Leuten in WOB. essen. Cyras Eltern, Cyras Schwester Gracienne und deren Sohn waren auch dabei. Cyra und ihre Eltern erzählten, wie versucht wird, bei VW Kosten zu sparen, was sich auf die Qualität niederschlägt und sogar zusätzliche Kosten verursacht, etwa weil die bestellten Billig-Türen so schwer einzubauen sind, daß dafür mehr Personal benötigt wird als vorgesehen.
Graciennes Sohn übernachtete heute bei den Großeltern, so daß Gracienne mit uns anderen tanzen gehen konnte. Wir fuhren zu einem ehemaligen Schlachthaus, wo sich jetzt eine Location namens "Endstation" befindet. DJ Talla legte auf und brachte launige Techno-Tanzmusik wie "Fight hard" von DJ Lee und "We come one" von Faithless.
In der Nacht wurden die Uhren umgestellt. Zwanzig nach zwei Uhr Sommerzeit kam ich ins "Byzanz". Darienne saß in versteinerter Haltung auf einem Barhocker neben dem DJ-Pult und beobachtete mich mit versteinerter Miene. Rafa legte auf und kümmerte sich nicht um sie.
Crissella und Sanjay begrüßten mich; ich kenne sie aus dem "Radiostern". Tana stellte mir einen Freund vor, vielleicht ihren neuen Freund, denn Syre sah ich nicht.
Daß Darienne nicht eben gute Laune hatte, war auch Crissella und Sanjay aufgefallen. Crissella meinte, es würde Rafa wohl ganz gut tun, einmal so richtig gegen eine Wand zu laufen, da er sonst keinen Bedarf fühlen werde, in seinem Leben etwas zu verändern.
"Es ist doch seltsam", sagte ich zu Magenta, "Darienne ist mit Rafa zusammen und ich nicht, aber mir geht's besser als ihr. Ich amüsiere mich und sie nicht."
Magenta erzählte, daß sie neulich dem ewig untreuen Janssen ihre Meinung gesagt hat:
"Du steigst doch nur über die Frauen drüber, und danach sind die abgemeldet."
Janssen habe nichts darauf erwidert und grüße sie seitdem nicht mehr.
"Den Typen brauchst du nicht", meinte ich. "Auf den kannst du verzichten."
Janssen schäkerte mit einem Mädchen herum, verschwand mit ihr für einen Weile und tauchte später wieder auf.
Als ich auf der Tanzfläche war, ging Rafa dicht an mir vorbei, so schnell, daß ich nicht nach ihm greifen konnte. Er kam auf demselben Weg zurück und ging wieder so schnell, daß ich nicht nach ihm greifen konnte.
Mit Magenta und ihrer Freundin Crimson setzte ich mich an einen Tisch auf dem Podest, das als Bühne genutzt wird. Zwischen Rafa und mir befand sich die Tanzfläche. Rafa setzte seine Spiegelbrille nie ab. Zunächst stand er im schwarzen Sakko am DJ-Pult, später zog er dieses aus und war im weißen Hemd, mit schwarzem Binder und schwarzer Weste zu betrachten. Rafa begrüßte sein Publikum durchs Mikrophon mit steifer Anrede ("Sehr verehrte Damen und Herren ...") und kündigte an, daß die Uhren um drei auf die MEZ umgestellt würden und daß man dies beachten solle. Ansonsten redete er nicht durchs Mikrophon. Er guckte meistens aufs DJ-Pult und in seinen CD-Koffer. Selten guckte er mit gesenktem Kopf über seine Brillengläser hinweg. Ob er mich dabei ansah, konnte ich auf die Entfernung nicht feststellen. Daß Darienne mich fast unentwegt ansah, war ohne Weiteres zu erkennen, nicht nur für mich.
Ein einziges Mal sah ich Darienne auf der Tanzfläche. Sie trug ein hellrosa Etuikleid und einen hellrosa Haarreif. Nach dem Stück, zu dem sie getanzt hatte, verließ sie den Saal. Einige Zeit später ging Rafa längs und quer durch den Saal, ohne aber in meine Nähe zu kommen, und verließ ebenfalls den Saal. Er ging zu der Sitznische, die sich treppauf hinter dem Tanzsaal befindet, und blieb fürs Erste verschwunden.
Mir fiel ein, daß ich Cyra versprochen hatte, Flyer für eine ihrer Parties auszulegen. Ich brachte die Flyer in den schmalen Gang, wo sich die Kasse befindet und ein Tischchen, auf dem man Flyer ablegen kann.
In der Sitznische gegenüber dem schmalen Eingangsflur stehen Tische und Stühle. Auch eine Bar gibt es dort, die heute nicht besetzt war. Aber ein Kleiderständer war da mit Underground-Mode von Auraleen. Schuhe und Schmuck hatte Auraleen ebenfalls mitgebracht. Weiter hinten gab es einen Stand mit Fotografien und einen Stand, wo Tattoos angefertigt wurden. Zwischen den Ständen hielt Rafa Hof. Er hatte sich in der Mitte aufgebaut und redete, was das Zeug hielt, mit allen Leuten, die um ihn herumstanden oder zwischen den Auslagen von Auraleen auf zwei über Eck gestellten Sofas und einem Sessel saßen. Darienne sah ich nicht in Rafas Nähe.
Ich ging zurück in den Tanzsaal und sagte zu Magenta, daß ich mich scheute, hinaufzugehen in die Nische, weil Rafa mir nicht vorwerfen sollte, ihn zu belästigen. Andererseits hätte ich Lust, mich mit Auraleen zu unterhalten.
"Dann geh doch 'rüber", riet Magenta. "Laß' dich doch von Rafa nicht daran hindern."
"Recht hast du", nickte ich. "Wenn ich mich mit Auraleen unterhalten will, dann sollte ich mich mit ihr unterhalten, ob Rafa danebensteht oder nicht. Ich darf mich von Rafa nicht behindern lassen. Mir muß egal sein, was er tut, wenn ich tue, was ich tun will."
Also ging ich in die Nische, wo Rafa sich inzwischen mit dem Gesicht zum Eingang und mit dem Rücken zu dem Kleiderständer auf den Sessel gesetzt hatte, umringt von den Leuten, die auf den über Eck gestellten Sofas saßen. Ich schaute mir die Fotografien an und dann die Kleider auf dem Ständer. Gegenüber von Rafa saß Auraleen auf einem Sofa. Ich winkte ihr zu, und sie stand auf. Wir begrüßten uns in der Mitte der Runde. Ein langhaariger Junge machte Platz, und ich setzte mich neben Auraleen auf das Sofa. Während Rafa sich angeregt mit zwei Jungs unterhielt, unterhielt ich mich angeregt mit Auraleen. Rafa, der dicht vor mir saß, bekam von mir keinen Blick zugeworfen, weil ich mich um sein Verhalten nicht kümmern wollte und keine Angriffsflächen schaffen wollte. Was Rafa den Jungs erzählte, bekam ich nicht mit, weil ich selbst ins Gespräch vertieft war. Auraleen berichtete, mit ihrer Firma laufe es gut, sie sei zufrieden. Sie habe ihr Hobby zum Beruf gemacht, sei sich jedoch bewußt, daß sie nicht nur ihre Wunsch-Ideen umsetzen könne, sondern sich auch nach den Kundenwünschen richten müsse. Schließlich gründe sich auf der Beliebtheit ihrer Modelle ihre Existenz.
Ich erzählte von Constris Diplom im Januar und von dem Film, den sie dafür macht. Ich schilderte die Handlung in "Schlafe, schlaf mein Kindelein", dem Film, für den Constri in einer Fachprüfung eine Eins bekommen hat.
"Da hat Constri mit experimentellen Mitteln in fünf Minuten eine Tragödie dargestellt", erzählte ich. "Sie sagt, das Muttersein ist das Schönste, was es gibt. Sie freut sich so an ihrer Tochter Denise und hat natürlich Angst davor, daß dem Kind etwas passieren könnte. Und diese Angst verarbeitet sie in dem Film."
Ich erzählte von meiner Arbeit in der Reha-Klinik und daß ich das Arbeiten in der Psychiatrie vermisse und gerne wieder in Kingston arbeiten will.
"Das ist so schön, gemocht zu werden", meinte ich. "Daß man wohin kommt und die Leute sagen:
'Wie schön, daß du da bist.'"
In der Reha-Klinik kann keine Teamarbeit stattfinden wie in der Psychiatrie. Die Leute verteilen sich, verstreuen sich, und es geht weniger um Reflektion als um das Abarbeiten eines Programms.
Während Rafa und ich unsere Gespräche führten, entdeckte ich Darienne, die auf dem an der Rückwand stehenden Sofa in der äußersten hinteren Ecke saß, unbeachtet von Rafa, unbeachtet auch von den anderen Leuten in der Sitzgruppe. Darienne rührte sich nicht, sagte nichts und guckte versteinert in meine Richtung.
Schließlich stand Rafa auf und ging zurück in den Tanzsaal. Wenig später stand Darienne auf und ging hinterher.
Nun erzählte ich Auraleen von meinem Online-Roman und daß ich am 30. Kapitel arbeite.
"Rafa hat sich auch beruhigt", setzte ich hinzu. "Er scheint sich nicht mehr über die Geschichte aufzuregen. Er scheint sich daran gewöhnt zu haben, daß es sie gibt. Zuerst hat er sich ja extrem darüber aufgeregt. Er hat mich gefragt, ob er mich erst umbringen muß, damit die Geschichte nicht mehr im Netz steht. Ich habe gesagt:
'Du kannst mich gerne umbringen, wenn du das willst.'
Da hat er gemeint, das habe ja eh keinen Zweck, denn wenn er mich umbringen würde, wäre die Geschichte immer noch online, also könnte er es auch gleich lassen. Ich habe gemeint:
'Ja, da hast du allerdings recht.'
Er hat mich gefragt, ob ich denn wenigstens aus Liebe zu ihm die Geschichte offline stellen könnte. Ich habe gesagt, daß ich mich bestimmt nicht selbst löschen würde, denn davon habe er letztlich auch nichts. Und das scheint er verstanden zu haben. Da scheint ein Schalter bei ihm umgelegt worden zu sein, denn seitdem hat er von mir nicht mehr verlangt, die Geschichte zu löschen. Er hat nur noch gesagt, daß er Angst hat vor meiner Internetseite."
"Was hat denn deine Internetseite mit Rafa zu tun?" erkundigte sich Vico.
"Das ist doch die Geschichte von Rafa und mir", erklärte ich.
"Es gibt eine Geschichte von Rafa und dir?" gluckste Vico.
"Ja, die gibt es seit zwölf Jahren", erzählte ich. "Deshalb ist die ja auch schon 3500 Seiten lang. Dialoge sind echte Seitenfresser, und wenn man einen mehrstündigen Dialog aufschreibt, hat man schnell sechzig Seiten zusammen. Ich habe so ziemlich alles aufgeschrieben, was Rafa und ich miteinander gesprochen und erlebt haben, und zwar seit wir uns kennen - natürlich mit veränderten Namen. Ich habe das nicht aufgeschrieben, weil ich es mir vorgenommen habe, sondern einfach deshalb, weil mir das wichtig war und ich nichts davon jemals vergessen will."
"Ist das nicht auch etwas manisch?" fragte Vico.
"Warum?" fragte Auraleen.
"Es geht im Grunde nur darum, daß ich etwas tun wollte und es auch getan habe", erklärte ich. "Weiter ist das nichts."
"Du hast es also nur für dich, für dein Ego gemacht", deutete Vico.
"Ja."
"Ja, dann ist dagegen ja nichts zu sagen."
"Dann dürfte auch Rafa nichts dagegen sagen können", meinte Auraleen.
"Ich würde mich aber ärgern, wenn jemand alles über mich aufschreiben würde", sagte Vico.
"Na ja, es gibt ein paar kleine Kleinigkeiten, die ich weggelassen habe", erzählte ich. "Da dachte ich mir, das geht ein bißchen zu weit, das muß wirklich nicht 'rein, oder es ist einfach zu banal, um 'reinzugehören. Gekürzt habe ich die Geschichte natürlich. Es sollte ja kein kein langweiliges Diarium werden, sondern ein literarisches Werk."
Weil Vico und Auraleen neugierig wurden, holte ich für sie Visitenkarten mit der URL meiner Website. Auf dem Weg zu meinen Sachen sah ich zwei Schritt vom DJ-Pult entfernt Rafa stehen und mit einigen Leuten plaudern. Ich kraulte ihm den für mich greifbar nahen Arm mit dem weißen Hemdsärmel. Dann suchte ich in Ruhe die Visitenkarten hervor und sah aus dem Augenwinkel Darienne unterhalb des DJ-Pults in der Ecke kauern, einen Schritt von mir entfernt. Sie starrte mich immer noch an, reagierte aber nicht darauf, daß ich ihren Freund gekrault hatte. Sie rührte sich nicht und zeigte eine erstarrte Miene.
Wieder bei Auraleen und Vico auf dem Sofa, reichte ich den beiden die Visitenkarten. Einige Leute, die vorhin mit Rafa in der Nische gesessen hatten, kamen heran, um sich zu verabschieden. Sie wollten noch zu "McGlutamat". Armageddon, den ich aus dem "Radiostern" kenne - er trug heute weiße Clownsschminke, schwarzen Kajal und einen schwarzen Zylinder - umarmte mich und fragte mich, ob ich die Kurzgeschichten von Norman noch hatte, die dieser mir vor Jahren gemailt hat.
"Aber klar habe ich die noch!" konnte ich berichten. "Sie stehen Wort für Wort mit Nennung des Autors im 29. Kapitel von 'Im Netz'. Da kannst du sie dir herunterladen. Am liebsten hätte ich noch einen Link gesetzt auf die Homepage, wo die Geschichten zu finden sind, dann wäre eindeutig gewesen, wer der Verfasser ist."
"Die Homepage gibt es ja leider nicht mehr."
"Ja, leider! Die mußt du mal wieder online stellen."
"Ja, dafür brauche ich ja die Geschichten."
"Die habe ich alle im 29. Kapitel. Es gibt nur eine Ausnahme, das ist ein Steckbrief, den Norman über einen seiner Bekannten geschrieben hat. Den habe ich so gekürzt, daß nicht mehr erkennbar ist, wer gemeint ist, damit der sich nicht verletzt fühlt, wenn er das liest. Den Steckbrief kannst du bekommen, wenn du mir eine Mail schreibst."
Ich holte auch für Armageddon eine Visitenkarte. Inzwischen stand Rafa wieder am DJ-Pult. Darienne hielt auf einem Barhocker Wache.
Als Rafa "Being boiled" von Human League spielte, ging ich auf die Tanzfläche, und während ich tanzte, betrachtete ich Rafa und stellte fest, daß Darienne mich auch weiterhin anstarrte.
In der Sitznische baute Auraleen ihren Kleiderständer ab. Ich sagte zu den Jungs, die dabeistanden, Auraleen habe so schöne Sachen, aber oft Sachen, die nur bei Jungs gut aussehen würden, wie etwa die schweren langen Röcke mit dem angenähten Hängetaschen und die schweren Stiefel mit dem komplizierten Schnallenwerk.
Vico erzählte begeistert von einem Buch namens "A long way down", das von vier Leuten handelt, die alle unabhängig voneinander beschließen, zur selben Zeit von demselben Turm zu springen. Sie begegnen sich dort oben, überdenken ihre Entscheidung und verabreden ein neues Treffen auf dem Turm; dann soll endgültig der gemeinsame Selbstmord stattfinden. Das Ende wollte Vico nicht verraten. Über den Autor - Nick Hornby - sagte Vico, das sei ein bemerkenswerter Mann voller Liebe zur makabren Kultur und zu den Frauen.
"Wenn er dauernd eine andere im Bett hat, ist das keine echte Liebe", meinte ich. "Das ist eher eine Sucht."
"Er sucht ja immer nach der einzigen wahren Liebe", erklärte Vico.
"Wenn er wirkliche Liebe erfahren will, muß er aufhören mit der Promiskuität", hielt ich dagegen. "Er muß innehalten und sich auf sich selbst besinnen. Wenn er sich selbst nicht spürt, kann er auch die wahre Liebe nicht spüren. Und wenn er immer mit fremden Frauen im Bett liegt, kommt er nie dazu, sich selbst zu spüren. Er verhindert dadurch ja den Kontakt mit sich selbst. Promiskuität geht fast immer auf ein gestörtes Selbstwertgefühl zurück. Die Männer wollen mit möglichst vielen Frauen schlafen, weil sie dann das scheinbare Gefühl bekommen, ein ganz toller Kerl zu sein. Und weil das Gefühl so schnell wieder verfliegt, müssen sie immer weitermachen, und sie kommen nie zu sich selbst. Ein Bekannter von mir hat mir das auch so geschildert. Er wollte immer wieder andere Frauen 'rumkriegen, um sich selbst wertvoller zu fühlen."
"Für Frauen gilt das aber auch."
"Ja, das ist richtig, für die gilt das genauso. Ich denke, wer mit sich selbst im Reinen ist, hat Promiskuität nicht nötig und kann nach der wahren Liebe suchen."
"Aber dafür muß man ja viele gehabt haben, sonst findet man die wahre Liebe ja nicht."
"Man muß nicht viele im Bett gehabt haben, um herauszufinden, wen man wirklich liebt.", meinte ich. "Das findet auf einer anderen Ebene statt. Ich denke, es geht vor allem um das Verhältnis, das man zu sich selbst hat."
"Es gibt den Weg, daß man sich selbst findet und daß man nur das tut, was man selbst für richtig hält, egal was die anderen über einen denken."
"Ja."
"Aber so ein Weg lohnt sich in dieser Welt nicht."
"Auf die Mißstände in der Welt kommt es hierbei nicht an", meinte ich. "Es ist immer wichtig, zu sich zu stehen und das zu tun, was man wirklich will."
"Aber guck' dir die Welt doch mal an, in der wir leben", gab Vico zu bedenken. "Das lohnt sich doch wirklich nicht, um etwas zu kämpfen."
"Ich denke, es kommt vor allem darauf an, vor der eigenen Tür zu kehren und sich um sein Nahumfeld zu kümmern, um die Menschen, die im eigenen Leben eine wirkliche Bedeutung haben. Was die Menschen bewegt, ist nicht irgendein Irak-Krieg. Was sie bewegt, ist die Frage, ob sie gemocht oder abgelehnt werden, ob sie Ärger auf der Arbeit haben und all das. Die große Politik ist auch wichtig, aber was die Menschen berührt, ist das, was für sie greifbar ist, und das ist es auch, was sie beeinflussen können."
"Es gibt zuviel, was man nicht beeinflussen kann", sagte Vico resignierend. "Wenn ich mir zum Beispiel überlegen würde, Kinder in diese Welt zu setzen ... ich meine, für mich ist es wegen meinem Beruf unmöglich ... jedenfalls müßten die dann immer nur die reine Chemie fressen, das will ich denen nicht zumuten."
"Die fressen nicht die reine Chemie", widersprach ich. "Es gibt nichts Absolutes, auch in dieser Welt nicht. Es gibt immer andere Aspekte und andere Möglichkeiten. Ich denke, es geht hier um das Vertrauen in diese Möglichkeiten und um das Vertrauen zu sich selbst."
"Dieses Thema ist unerschöpflich", sagte Vico mit einem Blick auf seine Freundin Kitty, die aufbrechen wollte, "und wir können es noch an vielen Abenden fortsetzen."
"Gerne", nickte ich. "Es stimmt, dieses Thema ist unerschöpflich, da kann man endlos drüber reden."
Als Vico und Kitty fort waren, kam der langhaarige Junge herzu, der mir vorhin Platz gemacht hatte, und mit ihm und Auraleen plauderte ich weiter, während Auraleen ihre Kleider einpackte. Rafa hatte sein DJ-Set beendet und sein Sakko wieder übergezogen. Mit seinem CD-Koffer in der Hand kam er in den Eingang der Sitznische, Darienne folgte einen Schritt hinter ihm, eine schwarze Jacke über ihrem rosa Etuikleid. Rafa sagte "Tschüß" zu Auraleen, dann noch ein leiseres "Tschüß" in die Richtung, wo der Langhaarige und ich standen; es war nicht sicher, ob er mir überhaupt "Tschüß" sagen wollte oder nur dem Langhaarigen. Darienne war einen Schritt vor der Nische stehengeblieben und winkte, aber nicht in eine bestimmte Richtung. Es war ein schüchternes Winken; sie hob nur ihre Hand, nicht den ganzen Arm. Dann folgte sie Rafa wie ein Hündchen nach draußen.
"Wenn ich nicht wüßte, wie arrogant, haßerfüllt und oberflächlich Darienne ist, würde ich sie für ein liebes, verschüchtertes kleines Mädchen halten", dachte ich, "und das ist wohl auch das Bild, das so manche Leute von ihr haben, die sie nicht näher kennen."
Am Sonntagnachmittag kam Ted zu mir, nicht wie sonst in schwarzer Lederkluft und durchsichtigem T-Shirt, sondern brav in schwarzer Strickjacke und schwarzer Jeans und mit einem Kreuz um den Hals. Er trug dem Anlaß seines Besuchs in H. Rechnung. Morgen wollten wir Cyan auf dessen letztem Weg begleiten.
Constri und Denise waren auch bei mir. Ich servierte Kaffee und erzählte Ted von Dariennes Verhalten.
"Wenn man glücklich verliebt ist, wirkt man fröhlich und entspannt", meinte ich. "Darienne wirkte aber nur übellaunig und versteinert. Und wenn man verliebt ist, guckt man den Geliebten an und nicht die vermeintliche Rivalin. Darienne hat aber dauernd mich angestarrt. Und sie hat sich auch nicht um andere Menschen gekümmert. Rafa hat sich so gut wie gar nicht um Darienne gekümmert, er hat sich nur andauernd mit anderen Leuten amüsiert. Seltsamerweise habe ich mich auch amüsiert. Die Einzige, die sich nicht amüsiert hat, war Darienne, dabei ist doch sie die 'Auserwählte' von Rafa und müßte glücklich sein."
"Das ist keine Beziehung", meinte Ted. "Das hat doch mit Liebe nichts zu tun, was zwischen Rafa und Darienne abläuft."
Ted erinnerte sich daran, wie er mich vor zwölf Jahren kennengelernt hat. Er war mit Cyan im "Elizium". Cyan war gerade mit Catherine zusammengekommen und wollte Ted verkuppeln. Er sagte über mich zu Ted:
"Guck' mal, die da, die würde doch gut zu dir passen. Die tanzt außergewöhnlich, und du tanzt außergewöhnlich. Die ist was Besonderes, und du bist was Besonderes. Sprich' die doch mal an."
Das machte Ted, und so lernten wir uns kennen und waren uns auf Anhieb sympathisch.
Am Montag - zu Halloween - wurde Cyan beerdigt. Vorm Friedhofstor traf ich Ted. Mit ihm und vielen anderen Trauergästen nahm ich in der Kapelle Platz. Die Südtür im Altarraum ist blau verglast und läßt die Sonne auf den Sarg scheinen. Dies ist architektonisch so gestaltet, weil Beerdigungen gewöhnlich mittags stattfinden und die Trauergäste das Gefühl haben sollen, der Sarg werde nach der Trauerfeier in den Himmel gefahren.
Um den Sarg herum hingen Kränze, auf dem Boden standen Teelichte in gläsernen Haltern, und Herbstlaub war verstreut. Von seinen Söhnen Cerres und Cyro hatte Cyan je ein Blumenkissen bekommen, das am Sarg lehnte. Die Söhne sind fünf und acht Jahre alt. Cerres, der ältere, sieht dem Vater ähnlich, Cyro ähnelt mehr der Mutter. Catherine trug helle Kleidung, die Kinder trugen Jeans. Catherine erklärte, Cyan habe im Sarg ein rosa Hemd an und eine graue Hose, und dazu passe keine Trauerkleidung. Der Sarg war freilich schon verschlossen, als die Feier stattfand.
Die Gäste erschienen so zahlreich, daß die Nordtür der Kapelle offen blieb, damit diejenigen, die draußen standen, die Feier mitbekamen. Sie brauchten nicht zu frieren, denn das Wetter war so warm und sonnig wie im Spätsommer.
In den Trauerreden wurde aus Cyans Leben erzählt - daß er immer viel auf einmal machen wollte, ruhelos Sport trieb, mit seinen Kollegen herumalberte und auch im Winter leichte Kleidung trug, gerade als lebe er im Zeitraffer, mit hohem Energieumsatz in kurzer Zeit.
Das Tabu des schwulen Doppellebens von Cyan blieb in der Feier unangestastet. Ted meinte, kaum jemand wisse davon, und Catherine ahne es allenfalls.
Unter den Lieblingsliedern von Cyan, die gespielt wurden, waren "With or without you" von U2 und "Augen auf!" von Oomph!; letzteres sangen Catherine und die Kinder mit.
Viele weinten. Catherine und die Kinder blieben gefaßt. Catherine meinte, der Absturz komme noch früh genug.
Als der Sarg in die Grube hinabgelassen wurde, stand Catherine mit den Kindern am Grabesrand. Dann warfen die Gäste Erde und Blumen in das Grab. Ich fragte Ted, ob Marvin da sei. Er zeigte ihn mir. Ich hätte ihn fast nicht erkannt, weil sein Kopf kahlgeschoren war. Am Hinterkopf hatte er eine Operationsnarbe. Ich ging auf Marvin zu und umarmte ihn zur Begrüßung. Er schien sich zu freuen, mich wiederzusehen. Ich meinte, es sei an der Zeit, daß Ted und er sich wieder vertragen. Marvin entgegnete, das sei eine andere Geschichte.
Marvin hatte Ted begrüßt, nahm aber sonst keinen Kontakt zu ihm auf. Ted betonte, mit Marvin habe es keinen Sinn mehr, da sei nichts zu kitten.
Am nahegelegenen See waren in einem Bistro die Tische gedeckt. Nach alter Tradition wurden Schnittchen, Butterkuchen und Streuselkuchen gereicht. Mit Ted ging ich zu dem Tisch, wo Marvin mit zwei Bekannten saß. Ich erkundigte mich nach Marvins Beruf. Er erzählte, daß er Mechatroniker ist und vor längerer Zeit sieben Wochen in China gearbeitet hat.
Auf der Feier traf ich Jolene, die mir die Nachricht von Cyans Tod gemailt hatte, und ich traf Haldor, bei dem ich vor längerer Zeit auf einem Hoffest war. Haldor berichtete, daß er nur noch sehr selten ausgeht. Das Pärchen, das oben bei ihm im Haus wohnt, habe nach wie vor den Plan, ein Heim für schwererziehbare Jugendliche zu gründen. Sie hätten schon ein Haus im Solling erworben, doch die Renovierungsarbeiten zögen sich hin. Ich betrachte dieses Unterfangen mit Skepsis, denn das Pärchen ist alkoholabhängig und nicht trocken.
Nach dem Leichenschmaus ging Catherine mit einigen Trauergästen noch einmal zu Cyans Grab, weil sie es geschmückt anschauen wollte. Das Grab war geschlossen, auf dem Grabhügel lagen die Kränze und viele Blumensträuße. Die Kinder zupften an den Blüten und sagten:
"Da ist Papa."
Catherine nahm sich eine Lilie mit. Einer ihrer Söhne wollte die Lilie haben, sie sagte aber:
"Nein, das ist meine."
Marvin nahm Cyro auf die Schultern und trug ihn den Weg entlang.
Als sich alle, die noch da waren, auf dem Friedhofsparkplatz verabschiedeten, verabschiedete Ted sich auch von Marvin. Marvin erwiderte den Gruß freundlich und zurückhaltend.
Am Abend waren Ted und ich in einem Bistro. Ted meinte, Rafa könne gar nicht anders, er müsse meinen Online-Roman "Im Netz" lesen. Wenn jemand die Hauptrolle in einer Geschichte spiele, die im Netz steht, müsse er die lesen; die Neugierde werde die Angst besiegen.
Über Marvin sagte Ted, er liebe ihn auf gewisse Art immer noch, aber da es für sie beide keine Zukunft gebe, investiere er nur in seine Beziehung mit Cary. Der sei bisher aber nur mit Frauen zusammen, und ein Coming out sei nicht in Sicht. Seltsam sei es schon, daß Marvin seit Jahren keine Freundin mehr habe.
Am Tag nach Cyans Beerdigung, zu Allerheiligen, machte ich mit Constri, Denise und einigen Freunden den alljährlichen Friedhofsspaziergang auf einem Stadtteilfriedhof in der Nähe, der auch nachts geöffnet ist. Das Wetter war trocken und noch immer für die Jahreszeit sehr mild. Beim Griechen gab es unser traditionelles Abendessen. Das Ritual zu Allerheiligen dient dem Gedenken an alle Verstorbenen, und heute war es vor allem Cyan, über den wir sprachen.
In der Reha-Klinik, wo ich arbeite, sind die Tische in der Cafeteria spätherbstlich geschmückt mit kleinen Grablichten. Ich finde das schön schrill und zugleich schräg, denn es läßt mich an den traurigen Zustand mancher Schlaganfall-Patienten denken, die in die Reha-Klinik kommen, weil sie die neurologischen Kliniken zuviel Geld kosten. Wir versuchen dann, zu retten, was noch zu retten ist.
Wegen Cyans Beerdigung war meine Verabredung mit Artemis ausgefallen. Artemis und ich hatten am vergangenen Sonntag miteinander nach L. zum "Memento Mori" fahren wollen, wo Rafa auflegte. Artemis erzählte in einer PN von der Party im "Memento Mori":

War nen richtich richtich geiler Abend! Rafa war richtich gut drauf, Darienne nich so ... Nierenbeckenentzündung ... naja ...
Schade, dass du nich midd in L. warst ... son bissl die Parddü-mach-Person hat mir schon gefehlt ... ein andern Mal! ^^

Rafa soll sich im "Memento Mori"durchaus um Darienne gekümmert haben, anders als im "Byzanz", wo er sich kaum mit ihr befaßte. Über Dariennes Verhalten schrieb Artemis:

Darienne wirkte auf mich die ganze Zeit nur wie ein Schatten hinter / neben / um Rafa herum ... sie hat auch dann kaum noch was gesagt, je mehr die Stunden vorangeschritten waren ... einmal auch gabs wohl ne kleine Eifersuchtsszene ... *schulterzuck* Davon weiß ich selbst aber nichts, wurde mir nur erzählt ...
Wer weiß halt schon, was in Darienne vorgeht ... ich denk eh, dass das auf Dauer nich gut gehn wird, weil Darienne dran kaputt geht ...so würd ichs mal einschätzen ...

Cyris berichtete in einer PN, daß sie in OL. ihre Biologie-Doktorarbeit schreiben wird. Beruflich möchte sie ihren Schwerpunkt auf Umweltschutz legen. Sie erzählte von ihrem Besuch bei Ivco:

Bei Ivco habe ich seine beiden Kinder kennen gelernt. Dina ist richtig niedlich, und ich fand es schön, wie Ivco ihr alles erklärt und mit ihr diskutiert hat. Ich denke, das ist für Kinder sehr wichtig.

Ich schrieb:

Ja, Dina ist wirklich süß. Und ich habe auch den Eindruck, Ivco ist ein sehr liebevoller Vater, der seine Kinder ernst nimmt.

Cyris schrieb:

Das glaube ich auch, daß Ivco ein Vater ist, der seine Kinder ernst nimmt. Es freut mich!

Über Rafas Bühnen-Ich und das Ich hinter der Bühne schrieb Cyris:

Tja, Honey genießt sein Leben und steckt sich überaus hohe Ideale, und Rafa scheitert daran ...? : /
Ich hoffe aber, daß er sich bewußt ist, daß er und Dolf mit W.E ein Projekt geschaffen haben, welches viele Menschen berührt, zum Guten anregt und zumindest zeitweise glücklich macht!!!
Wie ich Dir im "Zone" erzählt habe, versuche ich immer, mich so weit wie möglich aus den Privatangelegenheiten anderer Leute heraus zu halten, es sei denn, ich wüßte, daß ich ihnen damit Gutes tun kann (was bei den Herren und Damen von W.E sicherlich nicht der Fall ist, da ich als Außenstehende niemals Zugang bekommen werde).
Allerdings muß ich sagen, daß es mich schon erschüttert hat, zu sehen, daß der Mann, welcher nahezu poetische Texte mit wunderschönen Melodien geschaffen hat und dazu aufruft, sein Glück zu genießen und das Leben zu nutzen, selbst derartig aufgewühlt und unzufrieden zu sein scheint. Aber es ist wohl so, daß nicht wenige Künstler, welche so vielen Menschen Gutes und Lebens-Energie bringen, selbst unsicher und rastlos - ja, eigentlich fertig - sind ...
Es ist so schade, daß diese Menschen ihre Träume nie zu fassen kriegen!
Ich muß zugeben, daß ich W.E nicht nur wegen der Musik, sondern mehr und mehr wegen der Gesellschaft, die sich um sie auf den Konzerten reiht, sehen will. Am Anfang hatte ich ja kurz ehrlich gehofft, daß es um W.E einen Kreis von Leuten gäbe, welche die hochgesteckten Ideale leben und darüber diskutieren, wie die Welt zu verbessern sei ... Tjaja, da hatte ich noch Träume, hehe ...
Aber dennoch kann man nicht leugnen, daß viele W.E-Hörer unglaublich faszinierende, nette und bemerkenswerte Leute sind. Ich habe auch schon viele Personen über W.E kennengelernt und habe es jedes Mal sehr genossen.
Abgesehen davon finde ich wirklich, daß Energie "in der Luft" liegt, wenn sie auftreten. Anfangs war ich richtig elektrisiert, und schon öfters haben es W.E geschafft, meine "geleerten Batterien" auf einen Schlag wieder zu laden ... keine Ahnung, wieso ...
Ist schon ein Phänomen.

Ich schrieb:

Honey und Rafa, ein Mensch aus zwei Teilen, Fassade und Hintergrund, so könnte man das betrachten. Nach außen gibt Rafa als "Honey" den Messias, der der Welt das Licht bringen will, und als Rafa tappt er selbst im Dunkeln. In meinen Augen ist der Rafa im Hintergrund noch einmal aufgeteilt: einmal ist da die Fassade, die er seinen Freundinnen und Kameraden präsentiert - oberflächlich, leutselig, herrisch, überheblich, Verliebtheit und Kameradschaft spielend, treulos, unzuverlässig, launisch - und dann ist da auch noch der Mensch dahinter, den er niemandem zeigen will. Und dieser Mensch, um den allein es mir geht, hat ganz andere Eigenschaften.

Cyris schrieb:

Zumindest ist dieser Mensch wohl sehr kreativ, überaus sensibel und verletzlich. So würde ich vermuten ... aber ich darf hier nicht urteilen, schließlich habe ich nur einen oberflächlichen Eindruck gewinnen können!
Mit "Honey" hat er ein bewundernswertes eigenes Über-Ich erschaffen, welches er wohl fast nicht erreichen kann.

Ich schrieb:

Die Außenwirkung einer Band kann weit entfernt liegen von den Eigenschaften der Musiker, eben wie jedes Kunstwerk in seiner Wirkung weit abseits liegen kann von den Eigenschaften des Künstlers. Vielleicht hat es mit der individuellen Wahrnehmung von Kunst zu tun; vielleicht liegt es auch daran, daß Künstler sich in ihren Kunstwerken entsprechend ihrem Wunsch-Ich präsentieren, dem sie nie gerecht werden können, oder auch daran, daß in Kunstwerken unwillkürlich Eigenschaften der Künstler durchschimmern, die sie im wirklichen Leben nie zeigen wollen bzw. können.
Rafa scheint nie erwachsen werden zu können oder zu wollen, und auf der Bühne tut er so, als wäre er der "Erwachsenste" von allen. Dabei hat er sich bisher keine sichere Existenzgrundlage schaffen können und wäre nicht in der Lage, z. B. eine Familie zu ernähren.
Rafa plädiert auf der Bühne dafür, das Leben zu nutzen, er selbst wirft es aber weg, z. B. indem er sich zu Tode raucht und in austauschbaren Beziehungen diverse Freundinnen betrügt und schlecht behandelt.
Rafa will sich selbst nie begegnen, das sagte er auch in einem Interview schon. Solange er sich selbst meidet, kann er die echten Gefühle in seinem Inneren nie spüren und deshalb auch seinen Träumen nie nahekommen und nie innere Erfüllung finden. Immer läuft er weg, aber wohin er will, kann er nicht formulieren.
Ja, es stimmt, ich bin immer wieder überrascht, wieviele interessante, nette und nachdenkliche Leute mir ausgerechnet in Rafas Fanclub begegnen.

Cyris schrieb:

Wenn man das Wunsch-Ich im täglichen Leben nicht erreichen kann, so ist die Kunst eine gute Möglichkeit, es auszuleben und zu verehren. In dem Moment, wenn Rafa auf der Bühne steht und singt, verschmilzt er wohl für kurze Zeit mit ihm und strahlt deswegen so vor Energie? Jedenfalls ist es Wahnsinn, ihn als Honey zu erleben! Ich schwärme keinesfalls für Rafa, aber Honey auf der Bühne zusammen mit Dolf und den Mädels ... das haut mich jedesmal um!
Diese - nennen wir es - Präsenz haben W.E bisher jedes Mal gezeigt, als ich sie erlebt habe. So wie die beiden Herren (der eine ja besonders) bei einem Konzert aufblühen, hoffe ich, daß sie es selbst genießen und daher ihr Projekt weiterführen, einfach weil sie es auch selbst brauchen!! Ich denke, es muß ein tolles Gefühl sein, vor einer Menschenmenge zu stehen, die einem selbst zujubelt und begeistert ist von dem, was man selbst darbietet!! Ich wünsche Rafa also von ganzem Herzen, daß er durch seine Konzerte Erfüllung findet.
Aber das ist natürlich zum großen Teil mein Eigennutz, das gebe ich schon zu. Daher wünsche ich ihm auch (und das noch mehr), daß er irgendwann einmal die Kraft hat, sein reales Leben auszubauen, nicht das seiner Idealfigur, vor dem er sonst noch kapitulieren könnte! : /
Auch wenn das wohl das Ende von W.E sein könnte ...
Ach ja ... W.E ist einfach faszinierend, und hinter faszinierenden Ideen stecken oftmals sehr schwierige Menschen!
Da ich mich einerseits dieser Faszination einfach nicht entziehen kann (ich muß selber aufpassen, daß mich W.E nicht zu sehr einnimmt!) und ich es andererseits genieße, besagte interessante Leute zu treffen, werde ich wohl auch demnächst wieder auf einer Party erscheinen.

Am Freitag war ich im "Mute", wo Soman und Xotox auftraten. Unmittelbar vor der Bühne fand ich genug Platz zum Tanzen. Als die Xotox-Musiker Leuchtstäbchen ins Publikum warfen, nahm ich mir ein blaues und steckte es mir in die Frisur. Die anderen Gäste befestigten die Leuchtstäbchen auch in ihren Frisuren oder an der Kleidung; einige schoben sie in die Ärmel ihrer Netzoberteile oder steckten sie in die Schlaufen, die seitlich an ihren Hosenbeinen befestigt waren.
Nach dem Konzert gab es Musik vom DJ-Pult, und es ging gleich weiter mit Industrial-Tanzbodenhits. Cory begrüßte mich.
"Dein Tanzen ist künstlerischer Ausdruck", meinte er.
Über meine Internetseite sagte Cory, er als Profi finde das Styling gut, nur sei die Seite ein wenig unübersichtlich.
"Das liegt daran, daß sie keine Leiste mit allen Menüpunkten zum Anklicken hat", meinte ich. "Darauf habe ich verzichtet, weil ich möchte, daß die Seite mehr wie ein Buch aussieht. Man findet die Links zum Weiterklicken immer am unteren Ende einer Seite."
Cory erzählte von seiner Vorliebe für C64-Rechner. Ich meinte, darüber hätte ich auf seiner Internet-Präsenz schon gelesen; er habe dort auch von seiner Vorliebe für Rafas Band W.E geschrieben. Cory erkundigte sich, ob ich Rafa persönlich kenne.
"Ich kenne ihn seit Anfang 1993", erzählte ich. "Damals hatte er noch nie auf irgendeiner Bühne gestanden. Auf meiner Internetseite steht die Geschichte von Rafa und mir."
Ich erklärte, daß die Figuren darin unter veränderten Namen auftreten.
"'Im Netz' kann man doppeldeutig sehen", meinte Cory. "Einmal 'Im Netz', also online, und einmal 'Gefangen in einem Netz' ..."
"Ja, deshalb hat der Roman ja auch Spinnweben als Hintergrundgrafik."
"... paßt."
"Rafa hat eine innige Bindung an den C64", erzählte ich. "Der C64 hat für ihn die Rolle der wichtigsten Bezugsperson."
"Ja, in seinen Texten schreibt er ja auch von 'Computerliebe'."
"Rafa verwechselt den C64 mit einem Menschen", meinte ich. "Und mich verwechselt er mit einem Rechner. Er traut mir keine Gefühle zu. Er hat mir nie geglaubt, daß ich ihn liebe. Er erwartet von mir nur, daß ich ihn enttäusche."
Ich erzählte, wie Rafa sich über meine Internetseite aufgeregt hat.
"Er will sich nie begegnen", meinte ich. "Er will sich nie ins Gesicht sehen."
"Und du hältst ihm immer einen Spiegel vor."
"Ja, genau. Und deshalb will er mit mir nichts zu tun haben."
"Vielleicht deshalb auch seine Spiegelbrille."
"Ja, genau. Niemand soll seine Augen sehen können."
"Yin und Yang", sagte Cory.
"Ja, damit könnte man uns vergleichen", bestätigte ich. "Wir sind wie zwei Seiten einer Münze, wie das Positiv und Negativ desselben Fotos."
Rafa war nicht im "Mute", auch Darienne und Herr Lehmann waren nicht da. Kappa und Edaín sah ich nur vor dem Konzert von Xotox am DJ-Pult, danach sah ich sie nicht mehr.
Am Samstag war ich abends im Bunker bei Lucas, wo er gemeinsam mit seinen Geschwistern die diesjährige Halloween-Party gab. Doro war stundenlang im Bad, weil sie als Freiheitsstatue ging und noch ihr Kostüm färben mußte. Ihre bläuliche Schminke, ihre hinreißende bläuliche Frisur und den silber-bläulichen Styropor-Strahlenkranz konnte ich schon bewundern.
Ein Mädchen hatte sich mit blauer Körperfarbe angemalt und ihr Oberteil gleich mit. Sie ging als Schlumpf. Lucas hatte sich überall Knicklichter an die Kleider gesteckt. Er gab mir einige ab, weil ich nur eines hatte. Ich ging als Knicklicht, weil sich dieses Kostüm am besten mit meiner Tanzflächen-Garderobe vereinbaren ließ.
Am Kaminfeuer saß Lucas' Vater. Er erzählte, daß er Jahrgang 1931 ist und vom Krieg viel miterlebt hat. Als er nach H. kam, um dort das Gymnasium zu besuchen, fand er eine zertrümmerte Stadt. Der Bunker, in den er mit seiner Frau Anfang der siebziger Jahre gezogen ist, war nach dem Krieg gesprengt worden, so daß große Fensteröffnungen entstanden. Es gab viel zu renovieren. Weil der Bunker durch die Sprengung nicht mehr als Bunker verwendet werden konnte, war es möglich, ihn zu mieten, und die Miete ist niedrig. Den Kamin im Obergeschoß gab es ursprünglich nicht. Das Obergeschoß war durch viele Zwischenwände unterteilt gewesen, von denen einige der Sprengung zum Opfer fielen. So entstand der große Raum, der der Familie als Wohnzimmer dient und wo die Parties gefeiert werden. Ein Sammelsurium von Möbeln unterschiedlichen Alters und seltsamen Antiquitäten findet sich dort, mehr oder weniger verstaubt, und die Ergebnisse vieler Bastelstunden sind in der Stube verteilt. Das Wohnzimmer erinnert an einem geräumigen Dachboden, auf dem gestöbert werden kann. Im Unterschied zu einem Dachboden jedoch gibt es Tische und Sitzgelegenheiten. Für die Party waren viele Kerzen angezündet worden.
Als ich von meiner Arbeit in der Reha-Klinik erzählte, erzählte Lucas' Vater von seinem Schlaganfall, den er ohne schwere Folgeschäden überstanden hat. Er habe früher nie auf seinen Blutdruck geachtet. Seit dem Schlaganfall achte er darauf und kümmere sich um seine Gesundheit. Der Schlaganfall habe ihm die Augen geöffnet.
Lucas' Vater hat hörbares Asthma und erzählte, daß Lucas ebenfalls an Asthma leidet, aber nicht auf das Rauchen verzichten will. Lucas wolle nicht einsehen, wie schädlich das sei.
Lucas kam ebenfalls ans Kaminfeuer und erzählte, daß ihn auf der Arbeit die meisten Leute gern mögen, daß es aber auch Leute gibt, die ihn nicht mögen. Er frage sich, warum ihn jemand nicht leiden könne, obwohl er zu allen Leuten nett sei.
"Wenn dich jemand nicht leiden kann, gibt es einen einzigen Grund: Neid", meinte ich. "Du bist jung und vergnügt und nett, du bist beliebt, du machst dir viele Freunde. Es gibt immer Leute, die mit sich selbst unzufrieden sind und sich Feinde machen, und die sind auf dich neidisch."
"Jetzt wird mir das klar."
"Du hattest in deiner Kindheit die Möglichkeit, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, und das haben nicht alle."
"Ja, ich habe wohl zu viele Glückshormone gekriegt", meinte Lucas.
"Es gibt ein Mädchenbuch aus den fünfziger Jahren, das heißt 'Jeder hat mich gern'", erinnerte ich mich. "Im Werbetext steht:
'Ist es möglich, daß einen jeder gern haben kann? Doch, das gibt es.'
Falsch! Denn wenn man so nett ist, daß einen eigentlich jeder mögen müßte, gibt es auch immer jemanden, der einen deswegen beneidet."
Nachts war ich bei "Stahlwerk". Dort traf ich auch Sylvain. Er hat unlängst einen Mietwagen genommen und einen Menschen ans Steuer gelassen, der unter Drogeneinfluß mit dem Wagen verunfallte.
"Das hat den Ausschlag gegeben", erzählte Sylvain. "Jetzt habe ich es eingesehen. Seit dem Unfall kiffe ich nicht mehr."
Jahrelang habe er gekifft, ohne an die Folgen zu denken. Inzwischen neige er mehr dem Alkohol zu.
"Dann kommst du ja vom Regen in die Traufe", meinte ich. "Das wäre nur Suchtverlagerung."
Diddo trug heute ein Mieder aus durchsichtiger pinkfarbener Plastikfolie und dazu ein Röckchen aus durchsichtiger pinkfarbener Plastikfolie, das sie selbst genäht hatte. Unter dem Röckchen trug sie einen "Hello Kitty"-Slip. Im Haar trug sie pinkfarbene und orangefarbene Plastikschnüre, von denen sie mir auch welche mitgebracht hatte. Sirio machte Fotos.
Mal traf ich und Dedis mit beiden Schwestern, Sofie und Nana, die aus Hessen zu Besuch gekommen war und heute mit allen gemeinsam zu "Stahlwerk" gehen wollte.
Mal erzählte, daß er durch seine Selbständigkeit als Künstler eine finanzielle Berg-und-Tal-Fahrt in Kauf nimmt. Ein festes Einkommen habe nur Dedis, als Friseurin. Er hingegen müsse zusehen, daß er Multimedia-Installationen bei Ausstellungen zeigen könne, womit er hauptsächlich sein Geld verdiene. Mal stellt weltweit aus.
Gegen Morgen stand ich mit Darien unten im Foyer. Eine Gruppe von Leuten marschierte an uns vorbei zum Ausgang.
"Tschüß!" rief mir eines der Mädchen zu. "Du tanzt echt so niedich!"
"He, du hast da ja einen richtigen Fanclub", bemerkte Darien.
Am Mittwoch war ich mit Beatrice und Tagor beim Griechen. Beatrice erzählte, daß ihr getrennt lebender Ehemann Miles ihr nach Jahren endlich die Unterlagen zugeschickt hat, die sie für die Scheidung braucht. Es zeichnet sich ab, daß der Weg bis zum nächsten Frühjahr frei wird für die Hochzeit von Beatrice und Tagor.
Zu Alienne hat Beatrice keinen Kontakt mehr. Zu Lessa hat Beatrice wieder Kontakt, allerdings selten. Lessa hat zwei Kinder, wie Aimée. Aimées zweites Kind stammt vom jetzigen Freund. Mit diesem ist sie seit fünf Jahren zusammen.
Lessa kämpft wie früher mit Geldsorgen. Im Domina-Bordell von Eliette kann sie nicht mehr arbeiten, weil es dieses Bordell nicht mehr gibt. Beatrice erzählte, Eliette sei vor neun Jahren eine der angesagtesten Dominas in H. gewesen. Schon vor längerer Zeit jedoch habe sie aus der ehemaligen Fabrikhalle ausziehen müssen, wo sich das Bordell befand. Danach soll sie ein Wohnungsbordell betrieben haben. Was inzwischen aus Eliette geworden sei, wisse sie nicht.
Mitte November war ich mit Claudius im "Radiostern". Tana erzählte, daß sie sich von Syre getrennt hat, eine Art Ermüdungsbruch. Sie wolle weiterhin mit Syre befreundet sein. Er aber mache ein Drama daraus und erkläre, er könne nach dieser Enttäuschung keinen Kontakt mehr zu ihr haben.
Tana war mit ihren Begleitern Crissella und Sanjay im "Radiostern". Sanjay erzählte, daß er im "Byzanz", wo wir uns zuletzt begegnet waren, viel mehr getrunken habe, als er eigentlich vorgehabt hatte. Früher habe er sich dauernd Trinkexzesse geleistet, mit drei Zehnerträgern am Tag.
"Ich war sogar in der Psychiatrie", setzte er hinzu.
"Ach, zur Suchtentwöhnung?" erkundigte ich mich.
"Nein, ich habe einen Polizisten zusammengeschlagen und danach versucht, mir die Pulsadern aufzuschneiden."
"Was hat der Polizist denn mit dir gemacht, als du ihn zusammengehauen hast?"
"Er hat mich mit dem Kopf gegen die Wand geknallt. Aber das war schon zuviel aus meinem Leben."
"Also, ich würde das unter 'Jugendsünden' verbuchen."
"Ich war fünfzehn, das kommt schon hin."
Als Claudius und ich nach Hause fuhren, fragte Claudius, ob nicht die Wissenschaft ein Mittel wüßte gegen Rafas Verirrungen.
"Rafas Verhalten hat eine Suchtstruktur", meinte ich, "und gegen die Sucht ist die Wissenschaft noch immer machtlos."
Im W.E-Forum gibt es einen Thread namens "Wieviel raucht ihr am Tag?". Ich schrieb dazu:

Sucht hat oft mit Selbstbetrug zu tun. Es gibt viele, die wissen, daß sie süchtig sind, und sie rauchen trotzdem. Ich frage mich, ob die sich selbst gegenüber wirklich vollkommen ehrlich sind oder sich doch auch in irgendeiner Form etwas vormachen.
Stimmt es, daß Sucht nur mit irgendeiner Form von Selbstbetrug möglich ist?
Wenn ja, ist dann die Wahrheit der ärgste Feind der Sucht?

Icons Freundin Mayjana reagierte ungehalten und wollte das Thema nicht vertiefen. Ich eröffnete einen Thread zu der Frage, was jemanden dazu bewegt, das Rauchen aufzugeben. Barbwire schrieb:

Die richtige Frage lautet doch: Was veranlasst einen Menschen dazu, zu rauchen?
Geistreiche Überlegungen können wohl nicht der Grund sein. Bleibt noch die Fremdbeeinflussung (durch Werbung, Eltern, Freunde etc.).
Die Tabakindustrie und ihre Schergen haben es doch tatsächlich geschafft, dass ansonsten völlig normale Menschen freiwillig einen tödlichen Chemikaliencocktail inhalieren. Und das regelmässig, mehrmals am Tag!
"Sinn" macht das nur für die daran Verdienenden, also die Tabak-Lobby, aber auch Pharma-Industrie, Ärzte, Krankenhäuser etc. Und natürlich die "Herrscher", denn kranke Menschen lassen sich bekanntlich leichter schubsen, und das Rauchen fördert die "durchschnittliche Krankheitsrate" wunderbar.

Die Forummitglieder erzählten, warum und wann sie rauchen oder nicht. Ein Forummitglied schrieb:

Wenn man irgendwo rumsteht und auf irgendwas wartet ... nie ohne Kippe!

Jemand anders schrieb:

Ich z.B. rauche viel zu gerne, um es einzustellen ...

Ich schrieb:

Eigentlich hatte ich einfach nur Glück - Zigaretten haben mir nie geschmeckt. Manche rauchen ja auch, obwohl es ihnen nicht schmeckt.
Es muß schwer sein für diejenigen, die vor allem aus Unsicherheit rauchen, auf Zigaretten zu verzichten.

BeeBee schrieb:

Ich bin Raucher, und ich muss sagen, mir schmecken die Dinger auch nicht, wenn man hier überhaupt von Schmecken reden kann.

Icon schrieb:

Also, ich hab nie angefangen zu rauchen, weil ... öhm ... ja, ich hab einfach keinen Sinn darin gesehen.

BeeBee schrieb:

Für mich gibt es auch keinen Sinn.
(warum rauch ich dann???)
keine Ahnung

Ein Nichtraucher schrieb:

Glücklicherweise hab ich mich auf andere Suchtformen (W.E ...) beschränkt. Bin allerdings dabei, meiner Freundin das Rauchen abzugewöhnen.

Daneben stellte er einen Smiley mit mahnendem Zeigefinger.
Ich schrieb:

Ein Kettenraucher, der seit 20 Jahren täglich bis zu 80 Zigaretten niedermacht und sich hektisch, mit zittrigen Fingern an seine Zigarette klammert, der auf Nachfrage jedoch behauptet:
"Ich genieße nur mein Leben, und gerne achtzigmal am Tag!"
... ist dem noch zu helfen?
Nehmen wir an, er genießt dieses Dasein wirklich, was muß dann passieren, damit ein Umdenken einsetzt? So manch einer raucht nach dem Schlaganfall immer noch weiter, viele werfen mit vollen Händen ihr Leben weg:
"Ach, wenn der Krebs kommt, isses eh egal! Dann rauche ich noch mal so richtig und bringe mich dann um."
Gibt es überhaupt einen Grund, der so jemanden dazu bringt, mit dem Rauchen aufzuhören?

Tron zeigte sich ungehalten:

Leute wie Du mögen für einige Leute wohl eher ein Grund sein, mit dem Rauchen anzufangen ... Du tust gerade so, als wenn das Leben der Person, von der Du sprichst, Dir gehören würde.

Ich schrieb:

Stimmt nicht. Ich habe nur eine theoretische Frage gestellt. Nur darum geht es mir, nicht um persönliche Bezüge.
Also Tron - nicht ablenken vom Thema ...!

Tron schrieb:

Nun gut. Der Hang zum Rauchen ist bei jedem unterschiedlich stark ausgeprägt. Es gibt Leute, die neigen zu Freßsucht und werden fetter und fetter und fetter, und dann gibt es starke Raucher. Ebenso schwer, einem Nichtraucher zu erklären, warum man nicht einfach mit dem Rauchen aufhört, ist es wohl für so eine 120-Kilo-Person, einem Normalgewichtigen klar zu machen, warum man nicht einfach auf 70 Kilo abspeckt.

Mayjana schrieb:

Wer mit dem Rauchen aufhört, wenn sich die ersten Anzeichen einer Krankheit abzeichnen ... der hört zu spät auf. Wenn da schon was war, dann ist woanders auch was.
Nu ja, und deshalb ist mein Dad dann auch an seinen Kippen verreckt.

Einige Forummitglieder schrieben, daß Schwangerschaft ein Grund sein könne, das Rauchen aufzugeben, und auch die Liebe zu einem anderen Menschen könne vielleicht dabei helfen.
Ich schrieb:

Ja, das freut mich, wenn Schwangere es schaffen, mit dem Rauchen aufzuhören. Leider schaffen es nicht alle.
Und schön - zu schön, um wahr zu sein? - wäre es, wenn die Liebe Wunder bewirken könnte.
Ein Bruder meiner Urgroßmutter ist im Alter von etwa 62 Jahren an Lungenkrebs gestorben. Er war starker Raucher. Wenn er nicht geraucht hätte, hätte ich ihn noch kennengelernt.

Tron schrieb:

Vieleicht hättest Du ihn ja nicht gemocht. So hast Du ihn in guter Erinnerung!

Ich schrieb:

Oh, er soll nett gewesen sein. Er konnte übrigens gut malen, einige Bilder haben wir noch. Seine Frau war früh Witwe, weil er sich unbedingt zu Tode rauchen wollte. Nun, damals wußten noch nicht alle, wie schädlich das Rauchen ist; umso trauriger ist es, daß in einer Zeit, in der das allgemein bekannt ist, immer noch so viele Leute rauchen.

Rafa baut immer noch an der Webpräsenz ("Präsents") für sein Nebenprojekt H.F., das nach seinem Wunsch etwas ganz Neues und Besonderes sein soll, aber nicht so recht vorwärtskommt. Im Online-Gästebuch von H.F. vermeldete Rafa stolz:

⟨b⟩Von "Nichts" kommt nichts.⟨/b⟩

Ich korrigierte:

Die Formatierungen macht man nicht mit spitzen, sondern mit eckigen Klammern:
Von nichts kommt nichts.

Rafa nahm den Rat an, offenbar nicht ohne Zähneknirschen. Er löschte meinen Beitrag und berichtigte den seinigen:

Von "Nichts" kommt nichts.

Daß ich Rafa auch noch darauf hinwies, daß es "Präsenz" und nicht "Präsents" heißt, schien ihm endgültig zuviel zu sein. Er schrieb:

Wir bedanken uns bei Ihnen für Ihre Korrekturhinweise.
Wir haben alles dementsprechend berichtigt und somit Ihre Einträge verständlicherweise gelöscht.
Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie in einem gewissen Turnus auf unsere Seite schauen könnten und diese auch weiterhin zur Korrektur lesen.
Da uns eine fehlerfreie "Homepage" sehr am Herzen liegt, ist uns dann Ihre Arbeit jährlich auch mal einen Tonträger für Sie wert.
post scriptum: "hier schon mal ein Kleiner Anfang führ ihre Arbait ..."

Rafa hatte sich mit diesem Eintrag so viel Mühe gegeben, daß er - abgesehen von der letzten Zeile - keine Rechtschreibfehler enthielt.
Eines Abends war ich bei Constri und teilte mit ihr ein Lebkuchenpäckchen aus N. Constri servierte Tee und zeigte mir den Ausschnitt ihres Dokumentarfilms über ihre Schwangerschaft mit Denise, an dem sie gerade arbeitet. Endlich hat sie die Aufnahme in den Film eingebaut, wo man sie im Licht der Abendsonne vor einer Holztreppe am Strand sieht, mit aufgesteckten Haaren, in einem grauen Trägerrock. Mir gefällt diese Aufnahme am besten von allen, weil sie so melancholisch und romantisch wirkt. Constri war damals im sechsten Monat.
In der Schlußsequenz des Films sieht man Constri mit der zweieinhalbjährigen Denise an der Hand im letzten Licht des Tages aufs graublau schimmernde Meer zulaufen.
Constri und ich teilen die Faszination für die schlichte Kulisse von Strand und Meer, wie man sie auf den Nordseeinseln findet.
Während Constri beruflich vorwärts strebt, wird Derek immer launischer. Kürzlich scheint Derek etwas mit einer Arbeitskollegin im Altenheim angefangen zu haben. Durch sein schlechtes Gewissen schien seine Laune noch schlechter zu werden. Was aus der vermuteten Liaison geworden ist, wissen wir noch nicht.
Als Constri mir ihre Filmausschnitte zeigte, kam Derek in ihr Zimmer und klagte, daß ihm ein DVD-Recorder nicht so geliefert worden sei, wie er gehofft hatte, und er erreiche denjenigen nicht, der ihm den Recorder verkaufen wollte.
"Das ist mal wieder typisch", seufzte Constri, als Derek wieder in sein Zimmer gegangen war. "Er kann nicht abwarten, ob er den Typen nicht doch noch erreicht. Der macht sich sein Pech immer selber. Und sowas muß ich mir jeden Tag anhören, und dabei muß ich mich doch auf mein Diplom konzentrieren."
Constri berichtete, sie mache sich Vorwürfe, weil sie manchmal mit Denise zankt, wenn das Kind ihr zu arg querläuft. Ich meinte, es sei wichtig, Grenzen zu setzen.
"Wenn ich nicht mehr kann und weine, tröstet Denise mich immer so süß", erzählte Constri. "'Nit weinen, it bin ja da. It wieder gut.'"
Gart rief an und erzählte, daß er zur Zeit keine Arbeit hat, sich aber als DJ im "Vanity" in OS. etablieren konnte und dort ein knappes Einkommen erwirtschaftet. Eine Freundin habe er nicht, erzählte Gart, aber eine "O", eine SM-Gespielin. Eine "O" unterscheide sich dadurch von einer Sklavin, daß sie selbst entscheide, welche Dienste sie verrichte; auch ihr "Stop-Wort" suche sie selbst aus. "Mayday" sei übrigens kein "Stop-Wort", sondern ein "Not-Wort".
Der persönlichkeitsgestörte, deshalb frühberentete Roman soll sich - so fällt mir ein - in der SM-Szene unbeliebt gemacht haben, weil er sich nicht an die Regeln hielt, die dort gelten; auch das "Not-Wort" "Mayday" soll er ignoriert haben. Im Rahmen seiner Persönlichkeitsstörung nimmt Roman nur die eigenen Bedürfnisse wahr, nicht die anderer Menschen. Das führt zu Einsamkeit, und er leidet darunter.
In einer E-Mail vermutete Ivco, Darienne habe sich die blauen Flecken an ihren Handgelenken im Rahmen von selbstverletzendem Verhalten zugefügt. Ich antwortete, ein solches Verletzungsmuster sei für selbstverletzendes Verhalten untypisch. Bei Rafa hingegen sei Gewalttätigkeit aus mehreren unabhängigen Quellen berichtet worden.
Zu Rafas Gewalttätigkeit schrieb Ivco nichts, hingegen zu Rafas Verhalten gegenüber seinen Freundinnen in der Öffentlichkeit:

Dass Rafa sich in der Öffentlichkeit nicht um seine Freundinnen kümmert, ist bekannt. Da überrascht es mich auch nicht, dass er mit Darienne ebenso verfährt. Das ist auch das zentrale Thema, was ich nicht verstehe: dass Rafa seine Freundinnen praktisch ignoriert, wenn andere dabei sind. Tessa, Sanna und Berenice sagten mir, darauf angesprochen, dass er aber so auch nur in der Öffentlichkeit sei. Allein würde er alles für sie tun, wäre völlig anders und lege ihnen die Welt zu Füßen.

Was Tyras Weggang von W.E betrifft, schrieb Ivco:

Bei Tyra habe ich stark den Eindruck, dass sie einfach von Rafa die Nase voll hat und nicht mehr auf sich herumtrampeln lässt. Das wäre dann sicherlich die richtige Entscheidung.

Berenice schrieb über ihre Zeit bei W.E:

Für uns Mädels war es sicher auf die eine oder andere Weise eine interessante Erfahrung, aber zumindest Kitty und ich wollen dies alles nie wieder erleben müssen. Es war die bei weitem beste Entscheidung, Rafa und W.E zu verlassen! Ich habe innerhalb eines Jahres eine enorme Entwicklung vollzogen, auch wenn die Jahre vorher für mich auch wichtig waren! Aber nun passiert so viel auf anderen Ebenen, wofür ich sehr dankbar bin!!!

Ivco geht davon aus, daß Rafa es stets ablehnt, von mir gestreichelt zu werden. Wenn Rafa es hinnehme, dann nur, weil er keine Lust habe, dazu noch etwas zu sagen. Ich mailte:

Das Streicheln im Vorbeigehen hat Rafa selbst angefangen, er hat es schon 1993 bei mir gemacht. Ich habe es von ihm übernommen.

Das ist mir eben erst wieder eingefallen: Rafa war es, der mich auf diese Idee gebracht hat.
Ivco meinte, es sei bedrohlich, sich über andere Menschen Gedanken zu machen oder sie gar ändern zu wollen. Man könne dadurch manipulierbar werden und ein Ziel für Intrigen.
Zu den Berichten über Rafas Gewalttätigkeit mailte Ivco:

Du hast Recht, wenn du sagst, Rafa kümmere sich nur zum Teil um seine Freundinnen. Streits habe ich zumindest bei Berenice mitbekommen. Trotzdem scheint er sich dann aber so intensiv um seine Freundinnen zu kümmern, dass sie alles mitmachen. Was körperliche Gewalt angeht, kann ich mir nicht vorstellen, dass Rafa Frauen schlägt; was aber nicht heißen soll, dass er es nicht macht. Doch solange ich das nicht mit eigenen Augen sehe, glaube ich es nicht.

Mitte November war ich mit Constri und Denise bei Ivcos Familie, wo Dinas dritter Geburtstag gefeiert wurde. Wir lernten den kleinen Lucian kennen, den Carole auf dem Arm trug. Viele Kinder waren da, und für sie war in dem geräumigen Flur ein Kindertischchen gedeckt mit Saft und Schokoladenkuchen. Die Erwachsenen saßen im Eßzimmer beim Kaffee und bekamen ebenfalls Schokoladenkuchen. Unter ihnen waren Laurence aus HD. und seine Mutter, die - wie Laurence früher - in SHG. wohnt und bei der er zu Besuch war. Sie erzählte von einer Wetterschneise auf der A2, wo sie einmal im Schneetreiben mit ihrem Auto in den Graben rutschte. Das war vor der Handy-Ära, so daß sich daheim alle Sorgen machten.
Constri saß zuerst in der Sitzecke auf einem Sofa, neben sich Denise, die eineinhalb Stunden lang schlief. Nach und nach wachte Denise auf und wandte sich den anderen Kindern zu. Sie stopfte sich mit beiden Händen Kuchen in den Mund.
In der Küche erzählte Ivco, wie er mit Carole zusammenkam. Auf einem Konzert in OS. habe er zum ersten Mal zu ihr Kontakt aufgenommen. Carole erinnerte sich belustigt:
"Ja, das sah so aus, daß er hereinkam und sagte:
'Du halt' mal meinen Fotoapparat.'"
"He, das war schon viel!" meinte Ivco. "Ich wollte nicht zu direkt sein, weil du damals noch mit deinem Freund zusammen warst. Erst als ich gehört habe, daß Schluß war, bin ich in die Vollen gegangen."
DJ Kairo sei ihm damals in die Quere gekommen. Mit dem sei Carole kurz nach der Trennung von ihrem Freund aufgetaucht.
"Da war ich echt sauer", erzählte Ivco. "Ich hatte mich an Carole angenähert, und da kommt er mir dazwischen, eine Frechheit. Ich war schließlich vorher dran. Ich meine, wenn der wenigstens gut aussehen würde ... aber der, ausgerechnet ..."
Carole war fünf Jahre lang mit ihrem Freund zusammen, als sie sich von ihm trennte und eine kurze Beziehung mit Kairo hatte.
"Wenn eine langjährige Beziehung kracht, kommt meistens etwas Kurzes, ein Lückenbüßer", meinte Ivco. "Und ich hatte das Glück, daß ich das nicht war. Das hat Kairo schon übernommen."
Über Rafas Beziehung mit Darienne sagte Ivco:
"Es bleibt dabei, für mich ist das keine Beziehung. Da findet überhaupt kein Austausch statt. Von ihr kommt einfach nichts."
Er vermutete, Darienne würde sich offener und lebendiger zeigen, wenn sie in anderer Gesellschaft wäre.
"Das ist ein Zeichen für Labilität", meinte ich. "Wenn es genügt, daß andere Leute um sie herum sind, und sie ändert ihr Verhalten völlig, müßte sie ziemlich labil sein."
Caroles Freundin Felice war auch da. Felice und Carole gingen Anfang der neunziger Jahre häufig miteinander ins "Elizium" und toupierten sich vorher gemeinsam die Haare. Rafa machte Felice den Hof. Sie übernachtete bei ihm und fing mit ihm etwas an.
"Er hat mir von seinem Vater erzählt, und das tat mir auch leid", meinte Felice. "Aber wenn wir zusammen weggegangen sind, hat er mich links liegenlassen und mich verleugnet. Da hat es mir gereicht. Ich wollte mich nicht so behandeln lassen."
Felice erkundigte sich, warum ich mit Rafa zusammensein will, obwohl ich von seinen Schandtaten weiß.
"Weil er der Mann ist, den ich liebe", erklärte ich. "Die Liebe existiert unabhängig von Gut und Böse."
"Mach' dir mit dem Typen bloß nichts vor."
"Mit dem kann ich mir nichts vormachen", meinte ich. "Ich kenne seine Schwächen, und bevor ich sie kannte, habe ich schon gespürt, welche Schwächen er hat."
Im oberen Flur machte Ivco mit den Kindern Spiele wie Wettlaufen mit Balancieren von Gegenständen auf einem Löffel. Denise fand zunehmend Gefallen daran und wollte schließlich gar nicht mehr weg. Als sie anfing, aus Spaß andere Kinder zu hauen und zu schubsen, sagte Constri ihr, daß sie das nicht dürfe. Denise grinste frech. Constri nahm sie auf den Arm, und sie guckte unschuldig wie eine Puppe.
Carole machte den Vorschlag, Denise auch einmal zu besuchen.
"Ja, gerne", antwortete Constri, "im Februar nach meinem Diplom."
Draußen sagte Denise stolz:
"It hab alle gesubst."
"Das darfst du aber nicht", wiederholte Constri. "Du darfst die Leute nicht schubsen."
Abends fuhr ich wieder zu Ivco. Mit Laurence gingen wir ins "That's Life", wo wir im März Tischfußball gespielt hatten. Dort fand sich ein "vierter Mann" fürs Doppel, der besser war als wir alle, sogar besser als Laurence, der uns im "Fallen Angel" stets überlegen gewesen war. Der "vierte Mann" war Turnier-Tischfußballspieler und meinte, er sei ein wenig aus der Übung, wovon für uns Laien aber nichts zu merken war.
Nachts war ich im "Manufactura" bei "Low Frequency". Dort traf ich viele Bekannte, auch Philipp, der im Sommer mit seiner Frau Rixa und Tochter Celina nach BI. gezogen ist.
Die Musik war sehr rhythmisch und meist atonal; ich war fast ununterbrochen auf der Tanzfläche. Zu den Highlights gehörten "Send in ... send back" von dem gleichnamigen Album von The Delta, "I = I1 + I2 + I3 + I4 + ... + In" von dem Album "5f_55 Is Reflected To 5f-X" von 5f-X und"Human garbage" von Slogun von dem Album "Chronicle of serial murder".
Inzwischen steht fest, daß Darienne für W.E singen soll. Viele bezweifeln, daß sie singen kann. Ich meinte zu dem Thema, daß es Rafa nicht darum geht, daß eine Sängerin singen kann, sondern daß sie devot und vorzeigbar ist. Alles Weitere werde über Playback und Effekte erledigt. Tron schrieb:

Schreckt mich eigentlich nicht groß, da die Texte eh nicht viel mehr an Dichtkunst und Inhalt verlieren können, da können die auch von Darienne vorgetragen werden.
Ist doch eh das meiste Voll- oder Halbplayback, stört doch eh keinen ...

Am Donnerstag war ich in der "Spieluhr", wo Les auflegte. In der "Spieluhr" traf ich Barnet, Heloise, Joujou und Gart. Gart war auf meine Empfehlung mit zwei Bekannten aus OS. hergekommen, und keiner von ihnen bereute die weite Fahrt. Gart berichtete, daß Rafa für ein DJ-Set im "Vanity" 250 Euro haben will. Gart findet das ein bißchen reichlich. Er möchte eine DJ-Geburtstagsparty im Januar im "Vanity" veranstalten und gemeinsam mit Les und Rafa dort auflegen. Alle drei haben im Januar Geburtstag.
Gart erinnerte sich an die Zeiten Anfang der neunziger Jahre, als er mit Rafa und Dolf zweistündige "Styling-Parties" veranstaltete, bevor sie gemeinsam ausgingen. Auftoupiert und wild geschminkt steuerten sie gezielt Parties an, wo sie viele Frauen anzutreffen glaubten. Seiner Freundin Luisa log Rafa vor, es handle sich um einen Herrenabend, und mit dieser Erklärung soll sie sich zufriedengegeben haben und zu Hause geblieben sein. In Wahrheit gingen die drei Herren "auf die Pirsch". Dolf und Gart wurden von Rafa beauftragt, für ihn Frauen anzusprechen und sie ihm zuzuspielen, wobei sie selbst auch nicht leer ausgingen. Die Frauen hätten sich geehrt gefühlt, von so stark gestylten Herren angesprochen zu werden. Also war es für alle drei ein Leichtes, an schnelle Abenteuer zu kommen. Rafa soll Luisa bei diesen Gelegenheiten ausgiebig betrogen haben, und die beiden anderen dürften sich auch entsprechend bedient haben.
Joujou erzählte ich, daß Rafa schon im Mai zu Berenice gesagt hat, er wolle nichts von Darienne, und daß er erst kürzlich zu ihr gesagt hat, er sei gar nicht mit Darienne zusammen. Auf meine gezielte Nachfrage habe sich herausgestellt, daß es Rafa darum ging, Berenice wieder Avancen zu machen. Joujou berichtete, Darienne habe ihr vorhin eine E-Mail geschrieben, in der sie mitteilte, sie habe eben herausbekommen, daß Rafa sie schon wieder betrogen habe. Sie vermute, daß Rafa sie am Samstag in Ld. bei S. auch wieder betrügen werde. Rafa legt dort auf. Darienne will nicht mitkommen nach Ld., um sich "das nicht anzutun". Sie will sich mit Joujou treffen, um mit ihr auf eine Party zu gehen. Joujou erzählte, sie habe zu Darienne gesagt:
"Du brauchst nur anzurufen, ich hol' dich da 'raus. Aber ob du dich von Rafa trennst, mußt du selbst entscheiden, das kann ich dir nicht abnehmen."
Darienne habe eine eigene Wohnung, fahre jedoch immer sofort zu Rafa, wenn er sie "herzitiere".
"Ich bin froh, daß sie jetzt das Praktikum macht", meinte Joujou, "dann ist sie wenigstens nicht mehr andauernd bei Rafa, sondern für einige Stunden am Tag bei sich."
Darienne soll durch einen einjährigen Amerika-Aufenthalt ein Schuljahr verloren haben, so daß sie sich in diesem Sommer erst am Ende der elften Klasse befand. Sie soll das Abitur abgebrochen haben, weil sie es ohnehin nicht wollte. Die Eltern hätten sie dazu gedrängt und ihr eingeredet, sie sei die Beste, die Tollste, die Schönste, sie müsse auch Abitur haben. Und die Eltern würden gut zahlen, so daß Darienne sich darauf zunächst eingelassen habe. Inzwischen folge sie ihrem eigentlichen Berufswunsch, Friseurin zu werden oder Visagistin, und mache ein Praktikum in einem Friseursalon, bis sie einen Ausbildungsplatz gefunden habe.
"Darienne ist so kreativ", meinte Joujou. "Sie war ja, bevor sie nach Amerika fuhr, ein richtiges Mauerblümchen. Und als sie wiederkam, ist diese Veränderung in ihrem Äußeren passiert."
Joujou erzählte, daß sie eine fünf Monate alte Tochter hat, Jeanne. Ihr Freund Marian, der Vater des Kindes, habe sich in den vergangenen Monaten zu einem liebevollen, verantwortungsbewußten Menschen entwickelt. Er habe ihr den Rücken freigehalten, als sie sich auf ihre Prüfung als Groß- und Außenhandelskauffrau vorbereitet habe, und er habe sich rührend um sie gekümmert, als sie mit einer schweren Erkältung im Bett lag.
Im Februar, als Joujou schwanger war, sei sie mit Darienne im "Keller" gewesen, um mit ihr den Abend zu verbringen. Es habe sie sehr gestört, daß Darienne sich dort kaum um sie gekümmert habe. Stattdessen setzte sich Rafa immer wieder neben Darienne und redete und redete, und Darienne hörte andächtig zu.
"Ja, daran kann ich mich auch noch erinnern", erzählte ich. "Rafa hat Darienne zugetextet, und sie hat gelauscht und nichts gesagt, höchstens 'ja'."
"Rafa hat sie kaputtgemacht", war Joujou sicher.
"Ich denke, er hat gemerkt, wo sie ihre Schwächen hat, und genau dort hat er sie angegriffen", meinte ich. "Ihre Schwächen hatte sie schon vorher, nur waren sie nicht so deutlich sichtbar. Rafa sucht sich immer Frauen aus, die ganz bestimmte Schwachstellen haben. Er hat ein sicheres Gespür dafür. Wenn Darienne ihn eines Tages doch noch verlassen würde, hätte er sofort die Nächste. Solche selbstunsicheren Mädchen gibt es wie Sand am Meer."
"Daß er aber genau immer solche findet ...", wunderte sich Joujou.
"Wer immer Rotwild jagt, findet das Rotwild", meinte ich. "Rafa hat sich auf diese Mädchen spezialisiert, deshalb findet er sie so schnell."
Nachdem Darienne Ende August im "Keller" den mehrstündigen Streit mit Rafa hatte, soll sie tags darauf heulend Joujou angerufen haben und berichtet haben, Rafa habe sich in ihren Augen nur lächerlich germacht.
"Warum gehst du dann nicht?" fragte Joujou.
Am kommenden Tag habe Darienne die blauen Flecken an den Handgelenken gehabt. Joujou hat vor einigen Tagen nachgefragt, wie diese blauen Flecken zustandengekommen seien. Darienne habe sich gewunden und eine Ausrede nach der anderen ersonnen.
Ich erzählte Joujou, daß Rafa schon mehrere von seinen Freundinnen geschlagen hat.
"Das macht er wahrscheinlich dann, wenn die Frauen anfangen, sich zu wehren", meinte Joujou.
"Das kommt hin", bestätigte ich. "1992 hat er zum Beispiel vor Luisas Augen im 'Fall' ein Mädchen abgeschleppt und das dann auch noch mitgenommen. Und als er dann auch noch mit ihr ausstieg und zu sich ins Haus gehen wollte, hat es Luisa gereicht. Sie hat sich aufgeregt, und da hat er sie ins Gesicht geschlagen."
Joujou meinte, es wäre schön, wenn man bei Rafa den Spieß einmal umdrehen könnte.
"Ja, das wäre schön", seufzte ich, "nur wie?"
"Ja, das ist die Frage."
"Was immer passiert ist bisher, es hat nie gereicht, um bei Rafa irgendeine Verhaltensänderung herbeizuführen."
Darienne soll schon das Kleid haben für ihre Auftritte mit W.E.
"Warum läßt Rafa Darienne singen?" seufzte Joujou. "Anstatt sich Sängerinnen zu suchen, die wirklich singen können!"
"Es geht ihm darum, ihre abhängige Beziehung zu ihm zu zementieren", vermutete ich.
"Er will sie vollkommen kontrollieren", deutete Joujou. "Er will immer die Möglichkeit haben, sie zu verletzen. Das gibt ihm Befriedigung."
"Nichts hat bisher bei Rafa zum Nachdenken geführt", meinte ich. "Dabei hat er genug Sorgen. Seine Altersgenossen ziehen an ihm vorbei, sie haben Arbeit, bauen Häuser, heiraten, haben Kinder, und ich denke, in seinem Inneren weiß Rafa, daß er das alles auch hätte haben können und daß er es versäumt hat, sich darum zu kümmern."
"Da hat er dann aber auch irgendwo selber schuld."
"Genau, natürlich hat er selber schuld", bestätigte ich. "Anstatt eine Umschulung zu machen, was damals das einzig Sinnvolle gewesen wäre, hat er sich in seiner Scheinwelt aus Computerspielen und Fernsehen verkrochen. Er redet immer von seiner Traumwelt, kann die aber nie konkret beschreiben und deshalb auch nie seine Träume verwirklichen. Wenn Darienne ein Praktikum in einem Frisiersalon macht und plant, eine Ausbildung in ihrem Wunschberuf zu machen, dann ist das etwas Konkretes, das sie auch verwirklichen kann. Rafa hingegen schimpft nur über die Gesellschaft, die angeblich an allem schuld ist, und lebt von der Hand in den Mund."
"Sowas füllt doch niemanden aus."
"Nein, das füllt ihn auch nicht aus. Er sagt ja selbst, manchmal will er einfach nur sterben."
"Da hat er dann aber irgendwo auch selber schuld."
"Ja, natürlich hat er da selber schuld", nickte ich. "Der Grund, warum er sich beruflich nie mehr weitergebildet hat, ist ja auch der, daß er dann zuhören müßte, wenn andere reden. Er müßte sich in Gruppen einfügen und das tun, was andere von ihm verlangen."
"Er hat von sich ein Image aufgebaut, das Image vom großen Helden, der niemanden braucht", deutete Joujou. "Und wenn er dann sagt, ich brauche jemanden zum Reden, dann paßt das nicht in sein Image."
"Ja, genau. Er blockiert sich selbst. Er meidet jeden lebendigen Austausch und wird deshalb auch nicht mehr ausreichend kreativ inspiriert."
Ich erzählte, Rafa habe viele oberflächliche Bekannte und lasse niemanden wirklich an sich heran. Es gebe viele Menschen, die sich schon von ihm abgewendet hätten und gute Gründe dafür gehabt hätten.
Joujou meinte, Rafa sei eine tragische Figur, ähnlich wie in den Tragödien von Eurypides.
Auf der Rückfahrt machte ich Rast auf einer Autobahnraststätte. Ich nahm mein schwarzes Spitzenhalsband ab und schlief eine Weile. Als ich ins Rasthaus ging und meine Tasche aus dem Auto nahm, fiel das Spitzenhalsband unbemerkt vom Beifahrersitz und ging so verloren.
Am Freitag war ich mit Isis im "Mute". Dort gab es Konzerte von Apoptygma Berzerk und Sono, danach legten Edaín und Kappa auf. Rafa war nicht da, auch Darienne und Herr Lehmann waren nicht da.
Evelyn stellte mir Kenan und Keshia vor, die beiden Fotografen. Sie regten sich auf, als ich ihnen erzählte, daß Sono schon gespielt hatten, als sie erschienen. Sie waren unpünktlich, weil Kappa die verkehrte Anfangszeit auf den Flyer geschrieben hatte. Kenan zog sein Asthmaspray hervor und nahm einen Hub.
"So, das war, weil wir Sono verpaßt haben", erklärte er.
Kappa erfüllte meinen Musikwunsch "Unit" von Logic System. Auch sonst gefiel mir das DJ-Set heute sehr.
Zara erzählte, sie sei heute ohne Ace hier, und das allein habe eine ihrer Internet-Freundinnen davon abgehalten, hier zu erscheinen. Vielleicht ging es der Internet-Freundin mehr um die Bekanntheit des ehemaligen Radiomoderators Ace als um Zara.
Nora erzählte von Elsa, mit der sie früher viel unterwegs war, vor allem im "Elizium". Im Laufe der Jahre haben sich die beiden auseinanderentwickelt. Nora hat eine dreijährige Tochter. Elsa lebt mit ihrem Freund zusammen, arbeitet nicht, bildet sich nicht weiter und hat keine Kinder. Soziale Kontakte hat Elsa außer ihrem Freund kaum noch.
Henriette traf ich heute auch. Wie Nora und Elsa kenne ich sie aus dem "Elizium". Henriette wurde früher in dem Blumenladen, wo sie arbeitete, sehr ausgenutzt. Inzwischen hat sie einen anderen Arbeitgeber und menschlichere Arbeitszeiten.
Sanina erzählte, daß sie beim diesjährigen Sommerfestival im "Read Only Memory" ihren jetzigen Freund kennengelernt hat.
Als ich mit Tricky über Rafas gewalttätiges Verhalten sprach, bat Tricky, ihm bescheidzusagen, wenn Rafa auf mich losgehe. Er, Tricky, werde Rafa dann fürchterlich verprügeln.
Trickys alkoholkranker Vater hat Trickys Mutter bedroht, mißhandelt und mißbraucht, und Tricky mußte als Fünfjähriger zusehen. Der coabhängigen Mutter gelang es nicht, den gewalttätigen Ehemann zu verlassen.
Am Samstag war ich im "Keller". Anwar erblickte mich und machte im Vorübergehen eine Geste, die vermutlich soviel aussagen sollte wie:
"Mit Sondermüll rede ich nicht."
Minette erzählte von ihren Erlebnissen mit Anwar:
"Den habe ich mal hier im 'Keller' getroffen, und wir haben uns lange und gut unterhalten. Und dann hat er gemeint, wir müßten unbedingt mal miteinander einen trinken. Ich habe ihm mehrere SMS geschickt, und es kam nie Antwort. Als ich ihn nach einigen Monaten hier wiedergetroffen habe, tat er zuerst so, als wenn er mich nicht kennt. Als ich ihn darauf angesprochen habe, daß wir doch zusammen einen trinken wollten, wurde er galant und machte Annäherungsversuche. Ich habe ihm gesagt, daß ich körperlich von ihm nichts will und daß es nur darum geht, daß wir miteinander saufen. Da hat er gesagt:
'Dann bist du für mich nicht interessant.'
Und er ist weggegangen und hat mich von da an mit dem A... nicht mehr angeguckt."
"Dem geht es ja wirklich nur ums Abenteuer, du als Mensch bist ihm völlig egal."
"Ja, und man bedenke, der hat ein Kind und seit vielen Jahren eine Freundin oder Frau."
"Kein Wunder, daß der sich so gut mit Rafa versteht."
Highscore meinte, Rafa sei ihm zu anstrengend:
"Wenn der hierher kommt, gehe ich meistens."
"Auf welche Art ist er hier denn anstrengend?" erkundigte ich mich.
"Er macht immer solche Spielchen", erzählte Highscore, "Würfelspiele, da muß man bei einer bestimmten Augenzahl ein Kleidungsstück ablegen. Und ich will die Leute nicht in Unterhose dasitzen sehen."
"Sitzen die denn wirklich in Unterhose da?"
"Das weiß ich nicht."
"Hast du mal jemanden gefragt?"
"Nein, das wollte ich nicht wissen."
Luna und Xenon erzählten, daß es vor etwa drei Wochen im W.E-Chatroom Konflikte zwischen Tron und Icons Freundin Mayjana gegeben hat. Icon schloß Tron aus dem Chatroom aus. Inzwischen ist Tron wieder da, unter anderem Namen.
"Wir sind alle eine Familie", meinten Luna und Xenon. "Im ganzen Forum geht's irgendwie zu wie in einer Familie."
Mit Luna unterhielt ich mich über das Rauchen. Luna erzählte, wie leicht es ihr fiel, das Rauchen während der Schwangerschaft sein zu lassen. Kurz danach griff sie aber wieder zur Zigarette.
"Und da reicht ja eine einzige", meinte sie, "und man hängt schon wieder fest."
"So ist es ja mit der Sucht."
"Der Wille muß stark genug sein, dann kann man es schaffen."
Ohne Zigaretten habe sie sich wohler gefühlt und sich selbst und ihre Umwelt intensiver wahrgenommen. Die Sucht habe jedoch die Oberhand behalten.
"Rafa will sich selbst und seine Umwelt gar nicht spüren", meinte ich. "Der will nur möglichst weit weg. Der kann ja gar kein Interesse daran haben, mit dem Rauchen aufzuhören."
Das DJ-Set im "Keller" gefiel mir recht gut, unter anderem liefen "Los niños del parque" von Liaisons dangereuses und "Heat" von Soft Cell.
Der "Keller" soll der älteste Gewölbekeller in SHG. sein und im Jahre 1588 gebaut woren sein.
Minette schilderte, wie die Inhaberin des "Keller" - Bibian - einmal einen unangenehmen Gast aus ihrer Kneipe vertrieben hat. Von diesem Gast sei bekannt, daß er schon mehrere Frauen vergewaltigt hat. Als er hereinkam, sagte Bibian zu ihm, hier seien nur Satanisten. Da soll er es mit der Angst bekommen und das Weite gesucht haben.
"Der dachte wohl, er wird hier geopfert", meinte ich. "Bibian scheint sich gut durchsetzen zu können."
Minette bestätigte das und meinte, das sei auch nötig; nur so gelinge es Bibian, sich gegenüber den anderen, durchweg männlichen Kneipenbesitzern in SHG. zu behaupten.
Als Minette sich Lumumba holte, wollte ich auch welchen haben. Der Amaretto war alle, deshalb bekam ich welchen mit Bailey's. Ich fand auch dieses sehr lecker. Ein Junge im schwarzen Lacoste-Hemd bewunderte meine Satinhandschuhe und fragte, ob die aus echter Seide gemacht seien.
"Die gibt's nicht aus Seide", erklärte ich, "höchstens in speziellen Brautmode-Geschäften oder direkt bei Designern im Versand. Und dann sind die nicht bezahlbar. Normale Abendhandschuhe sind aus Kunstfaser, die sind dann auch robuster und maschinenwaschbar."
Der Junge - der Ares heißt - erzählte, daß er fürs Bergsteigen unter seinen Handschuhen seidene Handschuhe trägt.
"Das ist Funktionsgarderobe", meinte ich, "die ist dann auch aus besonderen Materialien."
Ich zog Ares ein wenig mit seinem Lacoste-Hemd auf. Er meinte, auch nach vielen Wäschen sehe das noch aus wie neu, der Markenkauf lohne sich also. Demnächst müsse er sich wieder einen Maßanzug für tausend Euro schneidern lassen. Ich empfahl ihm, vorher zu einem Herrenmode-Geschäft zu gehen, dann könne er vielleicht viel Geld sparen. Man ändere dort auch, wenn etwas nicht passe.
"Am liebsten mag ich Anzüge, die nicht wie normale Anzüge aussehen", erzählte ich. "Da habe ich mal einen gesehen, ganz leger, mit halsfernem Stehkragen, aus so einem Knitter-Material ... hinreißend! Wenn ich ein Mann wäre, hätte ich den gekauft. Normale Anzüge sind mir zu steif, zu langweilig."
Ares ist Gebirgsjäger bei der Bundeswehr. Ich erkundigte mich, ob die seidenen Handschuhe dort zur Truppenausrüstung gehören.
"Manche Sachen muß man sich selber kaufen", erklärte Ares.
Er wollte wissen, was für einen Beruf ich habe. Ich antwortete, im Krankenhaus gebe es die "Anzugfuzzis" und die "Kittelträger", und ich würde zu den letzteren gehören. Meine Berufskleidung sei nicht teuer; viele Sachen - den Kittel ausgenommen - gebe es sogar bei Tchibo. Dort gibt es auch sonst fast alles. Ich stelle mir einen Elektrischen Stuhl vor, ein einziges Modell, das in großer Stückzahl hergestellt wird und damit günstig ist, und auf der Lehne steht das Tchibo-Logo: "TCM". Oder ein Galgen aus hellem Holz, auf dem ist eingefräst: "TCM". Oder ein Grabstein, Einheitsmodell aus Granit, und unten drauf ist eingraviert: "TCM". Oder ein Sarg ... oder ... Alles wird teurer, und die Leute suchen nach preiswerten Alternativen.
An der Theke kam das Gespräch auf die Männer, die jagen gehen, während die Frauen die Brut aufziehen. Die Männer seien bestrebt, ihren Radius zu erweitern und ihre Gene zu verteilen. Bibians Freundin Maylin sagte, das solle ihr Kiran mal versuchen, dann hätte er bald nichts mehr, womit er seine Gene verteilen könne.
Maylins Lebensgefährte Kiran hat rechtsradikale Ansichten. Zwischendurch erzählte er voller Stolz von seiner zehn Monate alten Tochter. Ich vermute, Kiran macht sich nicht bewußt, daß die grausige Ideologie, der er huldigt, im Widerspruch zu elterlicher Liebe steht.
Am Sonntag rief Ivco mich an und entschuldigte sich, weil er entgegen unserer Verabredung nicht im "Keller" gewesen war. Er habe sich dem Wunsch seiner Familie gebeugt und sei daheimgeblieben.
"Das ist ja nichts Schlimmes", meinte ich, "aber du hättest dich wenigstens melden müssen, anrufen oder eine SMS schicken."
Ich erzählte von Anwars Verhalten Minette gegenüber und meinte, Anwar wäre vielleicht auch gerne so ein schillernder Casanova wie Rafa.
"Klar, wer wäre das nicht gerne?" fragte Ivco.
"Oh, da kenne ich genug, die mit Rafa nicht tauschen möchten", entgegnete ich. "Barnet zum Beispiel, der ist seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet und hat keinen Bedarf an Abenteuern. Der braucht keine Frauen abzuschleppen, er hat bereits eine Frau, und mit der ist er glücklich. Solche Abenteuer sind doch ganz oberflächlich, die füllen einen doch niemals aus. Außerdem - hat Anwar nicht sogar eine feste Lebensgefährtin?"
"Ja, der hat auch ein Kind."
"Siehst du, und dann zieht er los und geht auf die Jagd und ist gekränkt, wenn er keine Frau findet, mit der er seine Lebensgefährtin betrügen kann."
Berenice schrieb zu Tyras Kündigung bei W.E, auch sie habe davon gehört, daß Rafa Tyra schlecht behandelt hat:

Kann ich mir auch gut vorstellen, vielleicht hätte ich sie doch mal kennen lernen sollen - aber wir wurden nicht vorgestellt bei der einzigen Gelegenheit, die wir hatten.

Über ihr eigenes Verhältnis zu Rafa schrieb Berenice:

Meine damalige Mitbewohnerin Yvessa hat Rafa nicht leiden können, sie sagte immer, er braucht mich nur als Vorzeigepuppe. Vielleicht ist was dran ... Ich habe die Zeit mit Rafa sehr gebraucht in all den Jahren - ich brauchte jemanden anfangs, hinter dem ich mich verstecken konnte, und da war er der Richtige. Später entwickelte ich mich weiter, und trotz aller Bemühungen gab es lange, lange Zeit mehr keinen gemeinsamen Weg für uns. Und doch blieben wir zusammen ... ich glaube, wir klammerten uns aus unterschiedlichen Gründen aneinander bzw. an das, was einmal unser Traum war. Dies aufzugeben war nicht leicht, aber gerade jetzt mit einigem Abstand die einzig richtige Entscheidung :)

Vermutlich handelt es sich bei Yvessa um das blondgelockte Mädchen, mit dem Berenice Ende der neunziger Jahre häufig unterwegs war.
Über Rafas Verhalten in Gruppen mailte ich:

Die (wahrscheinlich) einzige Kontaktebene, auf der Rafa sich sicher fühlt, ist das Führen - ob Verführen, Vorführen oder Anführen (auch im doppelten Sinn), spielt eine untergeordnete Rolle. Wenn Rafa nicht führen kann oder darf, wird er unsicher. Er kann sich nicht in eine Gruppe einfügen, nicht Teil eines Ganzen sein, nicht mit anderen Leuten auf derselben Ebene kommunizieren. Soll er in einer Gruppe mitmachen, muß er sich entweder in die Führungsposition bringen oder die Gruppenstruktur zerstören oder einfach davonlaufen.

Berenice mailte:

Ja, stimmt, eine komische Angewohnheit, für die ich mich immer schämte. Also, ich schämte mich für ihn und sein Verhalten, habe auch immer meine Freunde von ihm ferngehalten.

Zu Rafas Annäherungsversuchen bei Darius' Freundin Dessie im Sommer 2004 mailte Berenice:

Dessie fand ich sehr nett :))) Wer weiß, ob das stimmt, vielleicht schon, aber das ist für mich unwichtig, auch wenn es ansonsten wichtig wäre, denn im Sommer 2004 kannte ich schon meinen jetzigen Freund, und mein Interesse galt schon damals kaum noch Rafa und seinem Leben. Allerdings unabhängig von Baryn (meinem Freund), denn ich hatte hier unten in ER. ein neues Leben begonnen und sah Rafa nur noch alle 4 Wochen ca. Eine Verbindung, geschweige denn eine Beziehung war das in meinen Augen schon lange nicht mehr :) Umso größer mein Erstaunen, als ich Schluss machte, dass Rafa das so ganz anders sah. Ich dachte, er würde einfach sagen, ja, Du hast recht, lass uns Schluss machen. Aber nein ...

Zu meinem Bericht über Rafas Seitensprung mit Yori im Jahre 1998 mailte Berenice, sie habe sich wider Erwarten nicht darüber aufgeregt. Das betrachte sie als Beweis, daß es ihr gelungen ist, mit Rafa abzuschließen.
Berenice glaubte während ihrer Beziehung mit Rafa nicht, daß er ihr treu war.
Rafa soll unlängst Berenice gegenüber versichert haben, er habe weder mit Tyra noch mit Darienne ein Verhältnis. Das würde mindestens bedeuten, daß er seine Beziehung mit Darienne verleugnet.
Über Rafas Verhältnis mit Lara im Jahre 1996 schrieb ich:

Rafa machte Lara große Versprechungen:
"Wenn du ein paar Kilo abnimmst, darfst du für W.E singen!"

Berenice mailte:

Dieser Satz sagt so viel aus über Rafa. Er hat es immer als Ehre angesehen, dass die Mädels dabei sein durften. Dementsprechend sauer war er immer, wenn ihm das nicht gedankt wurde. Es fing bei mir an - ich habe mich weder über W.E identifiziert noch sehe ich es als so toll an, da oben gestanden zu haben. Na und??? Was ist daran schon so toll? Natürlich habe ich dadurch Vorteile gehabt, viele Menschen meinten, mich unbedingt kennenlernen zu wollen. Ist ja auch alles schön und gut - aber es war nie meine Leistung. Nie. Natürlich habe ich gesungen, aber nur das, was mir aufgetragen wurde. Ich fühlte mich immer als Puppe, auswechselbar, ohne Innenleben. Und das wusste Rafa immer, wir haben so oft darüber gesprochen, wenn er mal wieder seine Sprüche runterleierte, dass ich doch glücklich sein muss, bei W.E zu sein ...
Und dann Kitty. Es war unfassbar für ihn, dass sie geht. Unbegreiflich. Schlichtweg nicht nachvollziehbar. Natürlich war alles ihre Schuld - W.E ist ja viel zu toll, um Schuld zu haben ...
Dann ging ich. Kurz darauf auch Lucy. Und sogar die Neue, die ja noch gar nicht lange dabei ist, verlässt ihn gleich doppelt. Das muss ein Schlag für sein Ego sein, den man nicht nachempfinden kann wahrscheinlich.

Berenice erzählte, ihre jetzigen musikalischen Projekte seien wirklich erfüllend, wirklich ihr Werk, und sie sei viel glücklicher mit einem unbekannteren eigenen Projekt als bei Rafa mit W.E.
Mit "Salix"-Organisator Zen unterhielt ich mich über Rafas Fassade. Ich mailte:

Rafa lügt gern und viel, und das ist es auch, was mich immer wieder wütend macht. Die Lügen haben eine Funktion. Man kann sich dahinter verstecken. Und ich denke, darum geht es Rafa. Er will nicht gesehen werden. Und ich denke, das sagt er nicht nur so daher, das hat einen Hintergrund. Es hängt wahrscheinlich mit seinem gestörten Selbstwertgefühl zusammen.

Zen mailte:

Das sieht man auch immer, wenn er seine dunkle Brille aufhat, wenn er sie doch mal abnimmt, weiß er gar nicht, wo er hinsehen soll, das ist mir jetzt schon öfters aufgefallen.

Zen mailte zu Berenices Trennung von Rafa:

Rafa hat ein sehr einnehmendes Wesen, ich kann mir gut vorstellen, dass es ihr bestimmt nicht leicht gefallen ist, sich von ihm zu trennen.

Zen und ich unterhielten uns über unsere Berufe. Er ist Elektriker im Maschinenbau. Ich erzählte:

Meine literarische Arbeit ist mir wichtiger als mein Beruf, und meinen Beruf habe ich im Dienste meiner literarischen Arbeit gewählt. Ich wollte schon immer das Mysterium "Medizin" sprengen. Arztserien gucke ich nie. Und seit ich Arzt bin, kann ich mir auch Kitschfilme wie "Dr. Holl", die ich früher wegen ihres schrillen Charmes mochte, nicht mehr ansehen. Ich ertrage es nicht, wie die begnadete Schauspielerin Maria Schell in dem Film einen hysterischen Anfall hinlegt und das Ganze als lebensgefährliche Krankheit verkauft wird. Die "Patientin" ist durch und durch vital, sprüht vor Kraft und Ausdauer, hat keinerlei Zeichen einer kardialen oder respiratorischen Insuffizienz ... sowas behandele ich in der Psychiatrie durch eine Tablette Tavor expidet, und dann frage ich sie, ob sie vielleicht schon öfter mal Tavor genommen hat.
Psychiatrie ist mein Wahlfach, weil ich mich unendlich für andere Menschen interessiere. Ich will immer wissen, was sich hinter den Fassaden der Leute versteckt und wie sie funktionieren. Im Grunde habe ich mit Psychiatrie meine Neigung zum Beruf gemacht.

Ivco mailte zu Rafas Untreue:

Irgendwie war es ja immer so, dass Rafas Freundinnen die unangenehmen Sachen entweder ignoriert haben oder dass sie sich damit abgefunden haben. Sie glauben halt das, was Rafa sagt, unabhängig davon, ob andere oder die Realität das Gegenteil aufzeigen. Das finde ich ja schon seit jeher so faszinierend an Rafa: Er versteht es immer, andere zu überzeugen. Bei mir hat das ja auch lange Zeit funktioniert. Und wenn die jeweils anderen das Spiel mitmachen oder mit sich spielen lassen, ist das deren freier Wille. Vorwürfe kann man daraus nicht konstruieren. Beschweren dürfen sich die anderen dann allerdings auch nicht.

Icon erzählte von der Party in Ld., wo Rafa am letzten Samstag aufgelegt hat. Es soll viel los gewesen sein. Über Darienne mailte Icon:

Darienne war auch dabei, aber naja ... sie saß oft einfach nur da und hat zugesehen. Ich verstehe es nicht. Ab und an hab ich mich mit ihr unterhalten, aber von ihr kam wirklich kaum etwas zurück. Mayjana war auch dabei, und sie hat auch ein paarmal versucht, sich mit Darienne zu unterhalten. Auch Mayjana hat es irgendwann aufgegeben, man hat einfach keine gemeinsamen Themen mit Darienne. Ich frag mich, über was sie sich überhaupt unterhalten kann.

Darienne wollte laut Joujou zu der Party nicht mitkommen, hat sich anscheinend aber doch überreden lassen ... vielleicht wollte sie auch Rafa "bewachen".
Online gibt es Fotos von der Party in Ld. zu sehen. Rafa zeigt sich meistens als leutseliger Star oder eifriger Computerspieler. Darienne ist nur manchmal in seiner Nähe, wenig von ihm beachtet. Auf einigen Bildern sitzt sie mit unbewegter Miene im Hintergrund, während Rafa konzentriert in den Monitor schaut.
Mit "Salix"-Organisator Marius unterhielt ich mich über Weihnachten, weihnachtliche Katastrophen und Katastrophen-Kekse. Marius mailte:

Auf die Idee mit den Katastrophen-Keksen muss man erst mal kommen. Obwohl es ja eigentlich naheliegend ist, denn Weihnachten ist bekanntlich das Fest der Katastrophen, da kann auch ich ein Lied von singen. Nicht umsonst gehen Weihnachten die meisten Ehen oder Beziehungen in die Brüche.

Die Eltern von Marius haben sich vor drei Jahren getrennt und sind inzwischen geschieden. In den letzten Jahren ihrer Ehe hielten sie zu Weihnachten den schönen Schein einer "heilen" Familie aufrecht. Marius hat ungute Erinnerungen daran und mittlerweile eine Weihnachts-Phobie.
Im W.E-Forum ging der Thread über Adventskalender weiter, den ich im vergangenen Jahr begonnen hatte. Einige Mitglieder legen großen Wert auf den alljährlichen Adventskalender, andere betrachten ihn als Kinderei. Es wurden auch kreative Ideen gepostet wie die folgende (von HAL 9000):

Man fängt am 1. an mit einem absolut billigen Komawasser (Billigwodka, z.B. Fürst Uranoff, Weinbrand Goldkrone), arbeitet sich dann langsam hoch. Der erste Höhepunkt sollte dann der Nikolaustag sein, den man denn z.B. mit einer Flasche Absolut oder einer schönen Flasche Havanna Club begeht. Dann geht es weiter mit mit Johnny Walker (erst Red, dann Black Label), Cognac (vom Aldi) und so weiter, man sollte nur darauf achten, daß der Sprit von Tag zu Tag hochwertiger wird. Nachdem man sich so nach und nach zum anspruchsvollen Alkoholiker konditioniert hat, sollte man das Ganze am Heiligabend mit einen richtig teuren Single Malt abschliessen ...
Ist nur ein Vorschlag.

Beebee schrieb:

Soweit ich weiß, gibt es Bier-Weihnachtskalender ... genau weiß ich es nicht, von welcher Marke, doch gesehen hab ich das schon mal mit 0,5 l Dosen.

Blade schrieb:

Dosenbier ist in Deutschland out! Wegen dem Dosenpfand!
Mit der Kiste zum Selberbasteln kann man natürlich jede Sorte nehmen. Es fehlen leider 4 Flaschen.
Mit dem belgischen Bierkasten wäre es besser, denn da sind auch 24 Flaschen drin. Nur so schnell komme ich nicht mehr nach Belgien.

Ich schrieb:

Es soll ja so einen Kalender geben, wo man hinter jedem Türchen einen anderen Flachmann findet. Für unsere Raucher könnte man einen Zigarettenkalender erfinden, mit drei Schachteln hinter jedem Türchen, und hinterm 24. Türchen ist eine Broschüre mit Werbung für Grabpflegeversicherungen. Na, es gibt sicher noch andere seltsame Kalender, mit allem Möglichen, der Phantasie sind ja keine Grenzen gesetzt.

Darunter setzte ich einen Link zu meinem diesjährigen Online-Adventskalender und schrieb:

"... und 2005 gibt's auch wieder einen!"

Ende November waren Constri, Denise und ich bei Merle und Elaine. Elaine bekam ihren Advents-Päckchenkalender. Sie sagte für uns das Gedicht "Knecht Ruprecht" auf, das sie für die Schule auswendig gelernt hat. Weil Elaine immer mehr und mehr Barbiepuppen haben will, seufzte Merle:
"Die liegen doch eh alle nachher nackt in den Ecken."
Elaine erzählte, in ihrer Klasse gebe es ein Mädchen, das mobbt. Die Jungen seien harmlos, die würden in den Pausen miteinander Kickboxen spielen. Man dürfe nur nicht zu dicht an den sich prügelnden Jungs vorbeigehen.
Tags darauf machte ich auf der Rückfahrt von der Arbeit eine Pause auf der Raststätte, und auf dem Parkplatz fand ich mein schwarzes Spitzenhalsband wieder, das immer noch dort lag, unversehrt - es war wie ein Wunder.
Abends traf ich mich mit Highscore in der Gastwirtschaft "Ausspann" in der Altstadt von SHG. Das "Ausspann" befindet sich in einem jahrhundertealten Fachwerkgebäude. Es hat eine historische Einrichtung aus Holz und schmiedeeisernen Gittern und auf dem Fußboden Blaubasalt-Pflaster. Zum Abendessen hatte ich grüne Bandnudeln mit Lachs, Spinat und gerösteten Pinienkernen.
Highscore erzählte, daß er allein in einer Wohnung lebt und als Single tun und lassen kann, was er will, was er auch genießt. Seit zwanzig Jahren arbeitet er in derselben Firma und ist mit der Herstellung von Autositzen beschäftigt. Highscore hat zwei Brüder, einer hat drei Söhne. Highscore ist nicht sicher, ob er selbst eine Familie haben will.
Im Laufe des Abends gesellten sich zwei Herren zu uns, Sam und Ceno. Sam ist groß, kräftig und kahlgeschoren, Ceno sieht ein bißchen wie ein kleiner Punker aus.
"Glatzen schaffen Kontakte", meinte Sam. "Man lernt dann zwar manchmal die falschen Leute kennen, aber immerhin wird man angesprochen."
Über Maylins Lebensgefährten Kiran sagte Sam, der wähle die NPD und trage Embleme, ansonsten beschäftige er sich vorwiegend mit seiner Familie.
"Ich denke, Maylin wird schon mit ihm über seine zweifelhafte Einstellung diskutiert haben", vermutete ich.
"Das hat die bestimmt", war Sam sicher.
Sam ist Tischler und hat keine Arbeit. Sam und Ceno sind beide geschieden. Sam ist in Bibian verliebt, aber liiert mit einem Mädchen namens Magdalena. Er könne sich nicht entscheiden, wenn er beide haben könnte. Da Bibian mit einem seiner Freunde zusammen sei, sei sie für ihn tabu, da er es sich nicht mit dem Freund verderben wolle.
Sam erzählte von einem Erlebnis in einer Gay-Discothek im Ruhrgebiet. Er sei als Sechzehnjähriger dorthin mitgelockt worden, ohne zu wissen, um was es sich handelte. In der Toilette seien ihm zwei Herren begegnet, die hätten ihn gefragt:
"Na du?"
Er sei in die Kabine gegangen, und als er fertig gewesen sei, habe er sich nicht mehr hinausgetraut. Die beiden hätten nämlich auf ihn gewartet.
"Ihr braucht nicht auf mich zu warten", habe er durch die Tür gerufen. "Da draußen gibt es genug tolle Typen."
"Wir wollen aber dich", hätten die Herren geantwortet.
Sam sei schließlich aus der Kabine getreten und habe zu den beiden gesagt:
"Ich mag's nur, wenn ihr eure Mützen abnehmt."
Als sie die Köpfe neigten und nach ihren Mützen faßten, habe er sich zwischen ihnen hindurchgeschoben und so entfliehen können.
Im "Zone" hingegen sei er nicht Gejagter, sondern Jäger, prahlte Sam. Er habe dort schon einem Kumpel zu einem Mädchen für eine Nacht verholfen.
Sam freute sich, weil er Rafa vor fünf Jahren eine Bitte abschlagen konnte. Damals habe Rafa ihn gebeten, die Security für ein W.E-Konzert zu übernehmen.
"Wozu braucht ihr denn Security? fragte Sam von oben herab. "Ich meine, wer nimmt euch denn ernst? - Ach nee, wer nimmt dich denn ernst? Entschuldige, Dolf."
Rafa verhandelte:
"Wenn es am Geld liegt - du kannst dafür eine W.E-Sonderedition kriegen mit T-Shirt und Autogrammen ..."
Sam antwortete:
"Also - wenn ich mich umbringen will, springe ich von einer Autobahnbrücke, dann kann ich noch ein bißchen durch die Luft fliegen und über die Welt nachdenken."
Rafa fragte:
"Bist du krank, oder was?"
Sam antwortete:
"Ja, weil ich mich mit dir unterhalte!"
Über Rafas Musik sagte Sam:
"Jimi Hendrix ist früh gestorben, weil er Drogen genommen hat, aber er hinterläßt geile Musik. Und was hinterläßt Rafa?"
Einmal soll Rafa im "Keller" vorgeschlagen haben, "Flaschendrehen" zu spielen.
"Und wer ist die Flasche?" fragte Sam. "Du?"
Einmal rührte Sam ein künstliches Saftgetränk an, und Rafa guckte in sein Glas und fragte:
"Wo ist denn die Kohlensäure?"
"Die liegt in Kristallen auf dem Boden", behauptete Sam. "Du mußt umrühren, damit die sich auflöst."
Der naturwissenschaftlich offenbar nicht gerade beschlagene Rafa rührte um und wunderte sich, weil es im Glas nicht sprudeln wollte.
"Du mußt richtig kratzen", forderte Sam ihn auf, "die Kristalle sind noch gefroren, die mußt du loskratzen."
Rafa tat das, doch statt daß es im Glas zu sprudeln begann, fingen die Umstehenden an zu lachen, daß ihnen die Tränen herunterliefen. Tief beleidigt soll Rafa sich die Ponysträhnen aus dem Gesicht geschleudert und das Weite gesucht haben.
Als ich mich erkundigte, wer im Armdrücken der Überlegene sei, druckste Sam:
"Ich habe nachgegeben. Nach dreizehn Minuten, wo sich nichts mehr bewegte und die Leute alle die rechte Augenbraue hochzogen."
Bibian soll Rafa deshalb als DJ so gern mögen, weil:
"Wenn die Leute einen alten, zerrupften Teddybären haben, wo nur noch ein Auge drin ist, und sie kriegen einen ganz neuen Teddy, bevorzugen sie doch den alten."
Sam hält von Darienne nicht viel. Einmal habe er Rafa und Darienne von hinten im Supermarkt gesehen. Er rief betont laut:
"Hallo, Rafa, na, hast du ein neues Groupie?"
Als Darienne sich konsterniert umdrehte, rief Sam betont laut:
"Ach, Darienne, du bist es. Entschuldigung!"
Vor Tyra habe Darienne Angst. Einmal habe Tyra im "Keller" bedient, und Rafa sei hereingekommen, Darienne sei jedoch draußen vor der Tür stehengeblieben, die ganze Zeit, weil Tyra da war. Niemand habe sie hereinlocken können.
Tyra soll immer noch unter ihren Erfahrungen mit Rafa leiden. Solange sie von Rafa nichts sehe oder höre, gehe es ihr einigermaßen gut, doch sobald sie sein Haus sehe oder durch irgendetwas anderes an ihn erinnert werde, fühle sie sich sehr niedergeschlagen.
"Tyra ist blond", meinte Sam, "in jeder Hinsicht. Sie ist gefühlsbetont, sie richtet sich nicht nach ihrem Verstand. Wenigstens hat sie ihr W.E-Button abgemacht."
Sam schwärmte, wie schön es sei, im "Keller" die Nacht durchzusaufen. Schon öfters sei er auf einer der Bänke eingeschlafen und habe beim Aufwachen den Kronleuchter gesehen und sich erst einmal fragen müssen, wo er eigentlich sei.
In Monaco sei er auch einmal aufgewacht, ohne zu wissen, wo er war.
"Sie war blond", erzählte er, "und ich wußte partout nicht, wie ich in ihr Bett gekommen bin."
Sam buhlte, es sei eine neue Erfahrung für ihn, mit einer hübschen Frau an einem Tisch zu sitzen, ohne gleich gewisse Hintergedanken zu haben. Man müsse ja nicht immer gleich an etwas Bestimmtes denken, wenn man einer hübschen Frau gegenübersitze.
Ceno erzählte, er fühle sich als Mann nicht ernst genommen. Schon als er im Teenageralter mit seiner Freundin Arm in Arm gegangen sei, habe jemand ihnen beiden hinterhergepfiffen. Es liege vielleicht daran, daß er damals lange blonde Haare getragen habe.
Ceno meinte, seine Lage sei aussichtslos, manchmal wolle er lieber sterben.
"Du hast es leichter, die Spreu vom Weizen zu trennen", meinte ich. "Stelle dir lauter Spielfiguren aus 'Mensch ärgere dich nicht!' vor. Eine ist umhüllt mit glamourösen Kostümen, eine ist schlicht, ohne Schmuck. Bei der schlichten Figur erkennt man viel schneller, woran man ist. Zu der geschmückten Figur mögen mehr Leute hinlaufen, viele fallen aber auch auf die Fassade herein und sind als Partner nicht zu gebrauchen, weil sie die Fassade wollen und nicht den Menschen dahinter. Zu der schlichten Figur laufen vor allem diejenigen hin, die wirkliches Interesse haben. So hast du es leichter als mancher aufgemotzte Gockel."
Sam pflichtete dem bei. Er bat Ceno, nicht den Mut zu verlieren. Er meinte, Ceno müsse nicht den großen Helden spielen, um die richtige Frau zu finden.
Am nächsten Abend rief Sam mich an und bat mich, nach SHG. zu kommen, da er sich ein "Couch-Gespräch" wünsche. Ich hatte noch etwas Zeit, also traf ich mich mit Sam und Ceno wieder im "Ausspann".
"Ich soll dich von Maylin grüßen", erzählte Sam. "Du heißt Elektro-Betty, nicht?"
Ich bestätigte das.
"Den Namen 'Elektro-Betty' haben sich 1993 irgendwelche Leute für mich ausgedacht", erzählte ich, "aber wer genau, das habe ich nie herausgefunden."
Wir unterhielten uns über die Frage, woran man die große Liebe seines Lebens erkennen könne.
Am nächsten Abend meldete sich Sam wieder und wollte mit mir zur "Spieluhr" fahren. Ich erklärte ihm, daß ich sehr viel Lust dazu hatte, aber seit Tagen kaum Schlaf gehabt hatte, so daß ich zu erschöpft war und mich ausruhen mußte.
Am kommenden Abend, dem Freitag, kam ich zu Ceno in das Haus, in dem er geblieben ist, nachdem seine Frau ihn verlassen und den fünfjährigen Sohn mitgenommen hat. Die beiden wohnen jetzt in CE. Geblieben ist Ceno die Hündin Pixie, eine reinrassige Gelbbacken-Hütehündin. Ceno läßt außerdem Sam bei sich wohnen.
Das Haus wird Ceno nicht halten können, er renoviert daran nichts mehr. Beheizbar ist es mit Kohleofen, den hatten Ceno und Sam aber nicht angemacht, da wir gleich weiterfahren wollten zum "Mute". Vorher bekam ich frischen Salat serviert, mediterran, mit Oliven. Sam hatte eine rote Chilischote daruntergemischt, um mich zu necken. Im "Ausspann" hatte er aus Versehen auf eine solche Schote gebissen und jämmerlich geklagt, weil er sich an der Schärfe so sehr verbrannte. Nun wollte er herausfinden, ob ich die Schote rechtzeitig entdeckte. Ich endeckte sie rechtzeitig.
Geheizt war in dem Haus nur das Bad. Die Kälte zog durch die Ritzen. Es war draußen bitter kalt und windig.
Sam und Ceno erzählten, es habe ihnen am Vortag in der "Spieluhr" gefallen, jedoch habe Sam Streit mit Magdalena gehabt. Daher seien Sam und Ceno nicht mit Magdalena, sondern mit einem Taxi nach Hause gefahren.
Im "Mute" gab es heute ein Festival mit The Eternal Afflict, Invincible Spirit und Das Ich. The Eternal Afflict hatten eine Sängerin auf der Bühne und spielten viele alte Hits. Außerdem gab es Duette von dem Sänger und Sarah Nox als Gastsängerin zu hören. Die beiden zelebrierten eine Showeinlage, einen gesungenen Dialog, in dem sie sich aufeinander zubewegten, bis Sarah Nox sich über den am Boden liegenden Sänger neigte.
Invincible Spirit trugen einige legendäre Stücke des früheren Projekts Invisible Limits vor, darunter "Devil Dance" und "Love is a kind of mystery".
Das Ich boten ein Programm mit vielen alten Clubhits und einem rot angemalten Stefan A. Er hat wieder Haare, er läßt sie nachwachsen. Bruno trug seine pinkfarbenen Teufelshörner. Die Keyboards waren an schrägstehenden Stahlpfosten angebracht, die in der Mitte auf einer drehbaren Konstruktion saßen, und unter den Keyboards waren Rollen. Bruno und der zweite Keyboarder liefen mit den Keyboards im Halbkreis hin und her, während Stefan sich vorne an den Stahlpfosten hängte, der das Mikrophon trug, und so tat, als wäre er Jesus am Kreuz.
Tyra begrüßte mich im Foyer. Sie trug ein zweiteiliges schwarzes Kleid mit kurzem weitem Röckchen, das mit drei Reihen weißer Spitze besetzt war. Ich fand das bezaubernd und sagte ihr das auch.
"Ich habe nachgedacht", erzählte Tyra. "Narzißtische Persönlichkeitsstörung."
Ich wußte gleich, von wem die Rede war und sagte ihr, daß ich diese Diagnose bei Rafa schon vor etlichen Jahren gestellt habe.
"Ich habe alles zusammengetragen, ich habe gelesen und alle möglichen Leute gefragt ...", schilderte Tyra ihre Suche nach der Diagnose. "Ich bin alle Persönlichkeitsstörungen der Reihe nach durchgegangen. Die konnte es nicht sein und die auch nicht, und am Ende blieb nur noch die eine übrig."
"Genau!"
"Ich würde dir gerne so viel erzählen ... wenn es nur nicht im Internet erscheinen würde."
"Es gibt einen Journalisten, der soll einmal zu seinen Bekannten gesagt haben:
'Erzählt mir nichts, was ihr nicht gedruckt sehen wollt.'
Ganz so schlimm bin ich nicht, ich kann das eine oder andere weglassen oder indirekt beschreiben, aber es gibt wichtige Ereignisse, auf die ich in der Story nicht verzichten kann, weil sie entscheidende Eckpunkte bilden."
"Na, ich komme sowieso längst drin vor ... aber die Leute sollen nicht so viel über mich wissen. Ich will nicht so durchsichtig sein."
Tyra und ich setzten uns im oberen Flur in einer Nische auf eine niedrige Fensterbank. Während wir uns unterhielten, kamen immer wieder Leute vorbei, die uns begrüßten oder uns baten, endlich mal wieder nach unten zu kommen. Wir vertrösteten sie.
Tyra erzählte, Rafa betone, er könne mich nicht leiden, und er verhalte sich mir gegenüber ja auch sehr abweisend und richtig böse.
"Wie er dir den Stahlrahmen gegen den Kopf geknallt hat", erinnerte sich Tyra. "Da habe ich genau gesehen, daß er sich eigentlich entschuldigen wollte. Aber - nein -"
"Als wir einen Tag später in der Runde im 'Zone' saßen, hat Rafa ja allen einen ausgegeben, und er wollte gerade auch mich fragen, was ich haben will, und da hat er sich auch selbst zurückgepfiffen", schilderte ich meine Beobachtung. "Der weiß eigentlich, was sich gehört. Ich glaube, der hat einen Zensor in seinem Kopf installiert, der ihm Gefühle verbietet."
"Verletzt dich das nicht, wie der sich benimmt?"
"Daß er mich als Gegner sehen muß, war für mich klar", erzählte ich. "Er will mit sich selbst nichts zu tun haben, und mir geht es genau um ihn, also den Menschen, mit dem er nichts zu tun haben will. Und weil er mit sich selbst nichts zu tun haben will, will er auch mit mir nichts zu tun haben. Ich habe diesen Zusammenhang in einer Geschichte beschrieben, an der ich besonders viel gerarbeitet habe, 'Wirklichkeit'. Da unterhält sich ein Mensch mit einem Roboter. Er sagt, daß er so gerne ein Roboter sein würde, denn dann wäre er unverletzbar. Der Roboter erklärt, daß er nur deshalb unverletzbar ist, weil er kein Ich besitzt und deshalb auch kein Ich zu verteidigen hat.
'Ein eigener Wille macht verletzbar', ist die Erkenntnis. 'Allein die Tatsache, daß man eine Persönlichkeit und einen Willen hat, macht verletzbar. Man kann also nur dann nicht verletzt werden, wenn man keine Persönlichkeit hat.'"
Tyra erzählte, Rafa habe zu ihr gesagt, daß er als Allerletztes damit gerechnet habe, daß ich ihn an seinem Geburtstag besuchen würde. Er wisse nicht, wie ich dazu käme.
"Anfang Januar habe ich im 'Mute' Kappa gebeten, Rafa von mir zu gratulieren, da er mich ja nicht zu seinem Geburtstag eingeladen habe", erzählte ich. "Dann hat Kappa mir eine E-Mail geschickt, des Inhalts, daß Rafa gesagt habe, er lade nie zu Geburtstagen ein; wer kommt, der kommt. Mehr habe er dazu nicht gesagt. Das muß also so gewesen sein, daß Kappa dem Rafa gesagt hat, daß ich nicht zu seinem Geburtstag kommen könne, weil er mich ja nicht eingeladen habe, und daraufhin kam von Rafa:
'Wer kommt, der kommt.'"
"Ach, so war das!"
"Und als ich Kappas E-Mail meiner Freundin Merle vorgelesen habe, hat die gesagt:
'Na, das fährst du doch hin!'
Und da habe ich gedacht:
'Warum eigentlich nicht? Nehme ich ihn beim Wort. Ist ja selber schuld, wenn er sagt, wer kommt, der kommt.'"
"Na, das ist ja dann schon sowas wie eine Einladung."
"Eben."
"Kommst du nächstes Mal wieder zu seiner Geburtstagsparty?"
"Das geht nur, wenn er keine Freundin hat", erklärte ich. "Ich habe ihm ja verboten, mit mir Kontakt zu haben, wenn er eine Freundin hat. Und bei seinem letzten Geburtstag war ja zumindest nach außen hin überhaupt nichts klar."
"Damals hat das schon mit Darienne angefangen. Aber er hat sie immer wieder verleugnet."
"Er hat sie zugetextet. Er hat ihr vorgeprahlt, wieviele Frauen er hatte."
"Woher weißt du das?"
"Ich saß daneben. Darienne hat sich seine Bettgeschichten wortlos angehört, ohne Gefühlsregung. Die schien kein Stück eifersüchtig zu sein."
"Ich glaube nicht, daß Darienne in Rafa verliebt ist."
"Nein, ist sie auch nicht", war ich sicher. "Sie himmelt ihn nur an."
"Jetzt gehört sie wohl zu W.E ..."
"Ja, die singt für W.E, das steht schon fest. Und die kann nicht singen."
"Die hat null Ausstrahlung."
"Die ist leer."
"Ja, genau - leer", nickte Tyra. "Und Rafa sieht nur das Äußere und nicht das Talent. Er glaubt, Hauptsache, die ist hübsch, das reicht schon für die Bühne."
"Der Grund, warum er Leute mit wenig Talent bevorzugt, ist der, daß die ihm nie künstlerisch überlegen sind."
"Wenn die anderen zuviel können, macht ihm das Angst."
"Ja, er will immer der Beste sein und immer allein alles bestimmen können", deutete ich. "So blockiert er sich aber auch für gegenseitige künstlerische Inspiration."
Tyra erzählte, Rafa wirke auf der Bühne und bei den Proben häufig kalt und kurz angebunden.
Tyras Schilderung ihres Verhältnisses zu Rafa war detailreich, aber auch verwickelt. Sie erzählte, eine Bekannte von ihr habe im letzten Sommer zu Darienne gesagt:
"Gestern habe ich mit deinem Freund gepoppt, und es war voll geil."
Darienne habe dem Mädchen jedoch nicht geglaubt.
Wir unterhielten uns über den Streit von Rafa und Darienne im "Keller" Ende August. Tyra erzählte, bevor ich an jenem Abend in den "Keller" kam, habe Rafa mit Darienne geknutscht. Wegen Tyra habe Darienne später mit Rafa gestritten. Den genauen Auslöser nannte sie nicht.
Tyra berichtete, als sie Rafa im letzten Winter auf seine Untreue angesprochen habe, habe er nur abgewehrt:
"Ja, was die Leute so reden."
Rafa soll überall Böses argwöhnen. Ich meinte, diese paranoide Weltsicht sei mir auch schon bei ihm aufgefallen. Rafa traue den Menschen nicht viel Gutes zu und isoliere sich deshalb mehr und mehr.
Das "Stalin-Syndrom" beschreibt die paranoide Sichtweise eines Menschen, der anderen viel Böses tut und deshalb davon ausgeht, daß ihm die Mitmenschen auch viel Böses antun wollen. Er kann sich keine Sicherheit auf der Welt mehr vorstellen und ist immer damit beschäftigt, sich abzuschotten.
Tyra und ich unterhielten uns darüber, daß Rafa seine kreative Weiterentwicklung auch dadurch blockiert, daß er sich selbst nicht spüren will und seine Gefühle nicht an sich heranläßt. Ich erzählte, daß Rafa und sein Bruder von den Eltern geschlagen wurden, auch mit Gegenständen, und daß die Mutter nach dem Motto lebte:
"Was einen nicht umbringt, macht einen nur noch härter."
"Das ist so lieblos", sagte Tyra betroffen.
"Rafa weiß nicht, was Liebe ist", meinte ich. "Er hat sie als Kind nicht kennengelernt, deshalb kann er sie nicht einordnen und benennen. Er kann mit dem Gefühl nichts anfangen, es ist ihm unheimlich, er will es loswerden. Und er kann mir auch nicht glauben, daß ich ihm die bedingungslose Liebe entgegenbringe, die er vorher nie erfahren hat. Er kann nicht vertrauen. Er sucht nach der Liebe mit ungeeigneten Mitteln. Deshalb sind alle seine Beziehungen desaströs, sowohl für ihn als auch für die jeweiligen Freundinnen. Er findet in ihnen niemals Erfüllung."
Tyra fragte mich, ob ich für immer einer Illusion folgen wolle.
"Meine Gefühle sind ja echt", entgegnete ich. "Die sind keine Illusion."
Tyra fragte mich, ob das denn nicht schlimm für mich sei, immer ohne Rafa leben zu müssen. Sie sei durch die Erlebnisse mit ihm zerrissen worden, so daß sie gedacht habe, sterben zu müssen. Sie habe eine Panikstörung seither.
"Daß ich gedacht habe, ich muß sterben, das hatte ich, als ich dreizehn war", erinnerte ich mich. "Da hatte ich einen Traum, der handelte von einem jungen Paar, die saßen in einem leeren Klassenraum. Das Mädchen - Marianna - fragt ihren Freund:
'Was meinst du, wo ich mich in meinem Leben befinde?'
Ihr Freund antwortet:
'Nun, ich denke, am Anfang.'
Marianna sagt:
'Nein, an der Grenze.'
Da geht die Tür auf, ein eifersüchtiges Mädchen - Anna Florence - kommt herein und erschießt Marianna.
Das habe ich gesehen wie in einem Film. In der nächsten Szene saß ich in einem Klassenraum. Mariannas Freund kommt zu spät. Der Lehrer maßregelt ihn und fragt ihn, wo Marianna ist. Der Junge antwortet:
'Nichts ist mehr. Tot.'
Der Lehrer sagt dazu nur sowas wie:
'Die wußte eh nicht, was sie will. Soll sie sich nicht wundern, wenn sie mal jemand ermordet.'
Dann ist er zur Tagesordnung übergegangen.
Ich mußte von da an immer an die Worte von Mariannas Freund denken:
'Nichts ist mehr. Tot.'
Es waren nicht nur die Worte selbst, es war auch der Tonfall. Daran habe ich gemerkt, daß Männer imstande sind, zu lieben."
"Wegen der Trauer."
"Ja, weil diese Worte so tieftraurig klangen", bestätigte ich. "Das ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Und dieses Gefühl, das sie ausgelöst haben, ist infernalisch, auch im negativen Sinn. Damals hat es mich überfallen, und ich dachte, ich müßte sterben. Aber im Laufe der Jahre habe ich gelernt, damit zu leben."
Ich erzählte, wie ich über dreizehn Jahre lang nach dem Menschen suchte, auf den sich das Gefühl bezieht, und wie ich ihn in Rafa schließlich fand.
Als ich schilderte, wie Rafa vor Freude in sich hineinlächelte, als ich im Februar 1993 den letzten Zug verpaßte und bei ihm übernachten mußte, sagte Tyra:
"Ja, er freut sich immer so versteckt, er lächelte dann so, daß man es gar nicht richtig sehen kann."
Ich erzählte von dem Traum, den ich damals bei Rafa hatte und in dem mir klar wurde, daß ich Rafa liebe. Mir war bewußt, daß eine anscheinend unlösbare Aufgabe vor mir lag - aber wenigstens hatte ich den Menschen gefunden, den ich gesucht hatte.
"Es ging mir viel schlechter, als ich dreizehn war", faßte ich zusammen.
"Weil du nicht wußtest, wer es war", ergänzte Tyra.
Ich erzählte von dem Traum im Jahre 1977, in dem ich mir durch das Schreiben selbst geholfen habe und mich befreit habe von dem Dasein einer lebenden Toten. Tyra erzählte, daß sie ab und zu Gedichte geschrieben hat, aber wieder damit aufgehört hat, weil ihr die zu kitschig waren.
"Seit dem dreizehnten Lebensjahr führe ich einen Kampf gegen den Kitsch", erzählte ich, "und ich glaube, inzwischen habe ich ihn gewonnen."
Tyra malt lieber, als zu schreiben.
"Wenn ich gemalt habe, ging es mir nachher besser", erzählte sie. "Ich habe zuerst nicht gedacht, daß es daran liegen könnte. Ich habe es erst auf etwas anderes geschoben. Aber als ich dann einfach nur gemalt habe, ohne daß irgendetwas anderes passiert ist, und es ging mir auch besser danach, da habe ich doch gemerkt, daß es daran liegen muß."
Schon öfter habe sie sterben wollen, aber sich nicht getraut, sich umzubringen.
"Ich denke, du hattest gute Gründe, dich nicht umzubringen", meinte ich. "Ich glaube nicht, daß du sterben willst. Ich glaube, du willst etwas ganz anderes."
Tyra erzählte, sie habe sich allein und ungeliebt gefühlt, da habe sie gehofft, im Tode werde es ihr besser gehen.
"Du willst nicht den Tod", meinte ich, "du willst geliebt werden, du willst Geborgenheit."
Ich erzählte, daß ich Selbstmord niemals als Ausweg betrachtet habe, nur in einem Traum sei es vorgekommen, daß ich mich umgebracht habe, und dies nur, weil ich zu Rafa wollte:
"Ich habe schon mehrmals geträumt, Rafa sei tot. Und einmal, da war er auch gerade mal wieder tot, da bin ich mit einem Bekannten einen Berghang hinaufgegangen und habe mich mit ihm auf eine Bank gesetzt. Ich habe überlegt, was ich im Jenseits noch können würde ... laufen, reden ... Ich wollte nicht sterben, ich wollte nur zu Rafa und deshalb ins Jenseits. Ich habe gesagt:
'Rafa ist da jetzt. Und ich will ihn so gerne sehen.'
Ich hatte ein Glas mit etwas drin, das sah aus wie Wodka Black Sun und schmeckte auch so ... und das war aber Gift. Und als ich das ausgetrunken hatte, da bin ich aufgewacht und war nun wieder in der Sphäre, wo Rafa sich befand. Denn er lebt ja noch."
"Das erinnert mich voll an den Film, den Rafa mit Sten gedreht hat!"
Den Film kenne ich noch nicht. Tyra beschrieb die Handlung. 2003 haben Rafa und Sten einen Kurzfilm gedreht, in dem spielt Rafa einen Menschen, der durchs Leben hastet und nie innere Ruhe findet. Er läuft in ein Reisebüro - im wirklichen Leben der Arbeitsplatz seiner Mutter - und ruft, er brauche Urlaub. Die Dame, die ihn berät, wird gespielt von Berenice. Sie zeigt Rafa Prospekte und macht ihm Vorschläge für Fernreisen, er aber will immer noch weiter weg - in den "totalen Urlaub". Da schließlich dreht Berenice den Globus, immer schneller, und Rafa gerät in eine andere Sphäre, in der er am Boden liegt, und um ihn herum gibt es nur eine Wüste. Rafa hat Durst und findet einen Krug, in dem ist aber Sand statt Wasser. Rafa ist verzweifelt. Er findet eine Pistole und hält sie sich an den Kopf, kann sich nicht aber nicht erschießen. Da wird ihm klar, daß er im Jenseits ist. Auf der Erde ist sein toter Körper zurückgeblieben.
"Rafa merkt nicht, daß er sich in dem Film selbst spielt", sagte Tyra. "Er glaubt, daß das nur eine Geschichte ist, die er sich ausgedacht hat."
Tyra möchte Rafa retten.
"Was soll etwas verändern?" fragte ich. "Wodurch sollte sich in Rafa etwas in Bewegung setzen? Er wird bald an den Folgen seines Nikotinkonsums sterben, an Herzinfarkt, Schlaganfall oder Lungenkrebs ... oder AIDS, was freilich andere Gründe hat als das Rauchen.
Rafa ist auf mehrfache Art süchtig. Er ist süchtig nach Nikotin und nach Zerstörung ... er zerstört Beziehungen, er zerstört Vertrauen, er zerstört seinen Körper. Die Sucht ist wie ein Motor, der läuft und läuft. Rein physikalisch ist jeder Motor zu stoppen ... und weil wir ja auch alle nur stofflich sind, müßte das doch auch in bezug auf die Psyche möglich sein."
"Ja, in der Biologie verändert sich ja auch alles immer wieder."
"Rafas Bruder hat gesagt, wenn man Rafa in den Griff bekommen will, muß man ihn auspeitschen", erzählte ich. "Ich habe entgegnet, daß ich das bestimmt nicht tun werde, weil das nicht meiner Art entspricht. Außerdem ist Rafa in seiner Kindheit genug verprügelt worden, und es hat zu nichts Gutem geführt, das kann man ja sehen."
"Eben."
"Rafa ist ja schon immer so lieblos mit seinen Freundinnen umgegangen, er hat ja auch schon Luisa betrogen und geschlagen. Der war ja nie anders."
"Nur hinter der Fassade ist dieser traurige Mensch."
"Ja", nickte ich. "Und er liebt mich. Aber weil er sich selbst ablehnt, kann er sich nicht vorstellen, daß ihn jemand lieben könnte."
Ich erzählte von den Begegnungen zwischen Rafa und mir, in denen er die Tür in seiner Mauer ein Stück weit öffnete und dann gleich wieder zufallen ließ.
"Es geht mir darum, Rafa mit seinen Gefühlen zusammenstoßen zu lassen, und zwar so, daß er ihnen nicht mehr entfliehen kann", erklärte ich. "Wie das genau gehen kann, weiß ich nicht, aber ich habe eine Arbeitshypothese, die ich zur Zeit überprüfe:
Die Sucht gedeiht nur in Gemeinschaft mit der Lüge. Man betrügt sich selbst, indem man sich wider besseres Wissen einredet, Nikotin sei nicht schädlich und dergleichen ... eine Ehefrau belügt die Außenwelt durch weiße Gardinen und einen ordentlichen Vorgarten, und drinnen schlägt der betrunkene Vater die ganze Familie ..."
"Ist das Coabhängigkeit? Ich meine, wenn die Ehefrau den Kühlschrank mit Bier füllt, und der Vater betrinkt sich ..."
"Ja, die Ehefrau hat auch ein Suchtproblem, sie ist coabhängig, also beziehungsabhängig."
"Dann müßten Darienne und Rafa doch gut zusammenpassen."
"Ja, genauso gut wie ein Alkoholiker und die coabhängige Ehefrau. Das ist ein abhängiges System, eine kollusive Beziehung, wo einer den anderen nur benutzt. Keiner ist in einer solchen Beziehung glücklich. Und wenn die Ehefrau mal die Tür aufmachen würde und allen zeigen würde, wie es drinnen zugeht, könnte der Süchtige seine Sucht nicht mehr verstecken. Das Problem ist, daß die Ehefrau sich für ihren Mann schämt, obwohl der sich selber schämen müßte. Ich decke Rafas Schandtaten überhaupt nicht. Ich sage wie die anderen:
'Der da ... ha ...'"
"Die meisten sagen, mit Rafa und Darienne hält das nicht lange, aber ich glaube, das hält noch lange."
"Das kann ewig halten", meinte ich. "Und wenn es doch in die Brüche geht, hat Rafa gleich wieder die Nächste."
"Ich glaube, eines Tages ist der einsam."
"Der ist immer einsam gewesen. Der war in jeder seiner Beziehungen einsam."
"Das merkt man schon an den Texten, daß der einsam ist", bestätigte Tyra. "Er singt doch dauernd von Einsamkeit."
"Der ist einsam, weil er nur um sich selber kreist. Er will nur Beziehungen, in denen er allein alles kontrollieren kann."
"Ich glaube, eines Tages findet der keine Neunzehnjährigen mehr."
"Ich glaube, der findet immer Neunzehnjährige", war ich sicher. "Der Süchtige findet sein Suchtmittel immer. Und Rafa ist Profi, der macht das seit Jahrzehnten. Das Ziel kann jedenfalls nicht sein, Rafa und Darienne auseinanderzubringen, weil sich an Rafas Verhalten dadurch nichs ändert. Das Ziel kann nur sein, daß sich in Rafas Kopf etwas verändert, so daß er mit diesem Verhalten nicht mehr weitermachen kann. Und die Frage ist, wie das gehen soll. Nach meiner Arbeitshypothese gedeiht ja die Sucht nur in Verbindung mit der Lüge. Und wenn die Wahrheit gegen die Lüge hilft, müßte die Wahrheit auch gegen die Sucht helfen. Es geht um die Verbreitung der Wahrheit, so weit wie möglich. Es geht um die unentrinnbare Wahrheit, die Rafa von allen Seiten anschaut und der er nicht entfliehen kann. Es geht darum, daß er irgendwann - ich weiß nicht, wann - die Geschichte 'Im Netz' doch noch liest. Immerhin ist die schon jetzt etwa 3500 Seiten lang und wird immer noch länger. Und in dieser Geschichte begegnet Rafa sich unentwegt selbst ... Er weiß, daß sich etwas in ihm bewegen würde, wenn er sie liest. Er sagt ja, er hat Angst vor meiner Internetseite."
Tyra erzählte, daß Rafa sein Privatleben niemandem preisgeben wolle. Wenn sich doch jemand dafür interessiere, falle er rasch in Ungnade. Dies steht in einem seltsamen Widerspruch zu der Bereitwilligkeit, mit der sich Rafa wildfremden Mädchen für One-Night-Stands anbietet. Seinen Körper scheint Rafa nicht seiner Privatsphäre zuzurechnen. Er scheint seinen Körper in gewisser Weise nicht als Teil von sich selbst zu betrachten.
Tyra erzählte, daß sie unsicher war, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollte, wenn Rafa anwesend war. Sie befürchtete, sich Ärger mit ihm einzuhandeln, wenn sie ihr freundschaftliches Verhältnis zu mir allzu deutlich zeigte. Gewissermaßen habe Rafa sie manipuliert. Sie habe sich davor gefürchtet, seine Gunst zu verlieren, weil sie beobachtet habe, wie er andere Menschen fallenließ, weil sie sich nicht seinen Erwartungen entsprechend verhielten.
"Rafa hat nur eine Möglichkeit zur Verfügung, Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen", meinte ich, "und das ist das Führen. Ob es sich um Vorführen, Verführen oder Anführen handelt, ist dabei egal. Sowie Rafa nicht mehr führen kann, wird er unsicher und versucht, die Beziehungen um ihn herum zu zerstören, oder er läuft weg. Er will die Menschen manipulieren können."
Ich erzählte, Rafa könne so oft versuchen, wie er wolle, mich durch Zurückweisung abzuschrecken:
"Wenn er sagen würde:
'Ich hasse dich!'
- würde ich antworten:
'Ich liebe dich.'
Ich fürchte mich nicht davor, daß er mich ablehnt. Ich bin mir sicher, daß er mich liebt. Er kann daran nichts ändern, er kann es nur wegschieben. Und damit schiebt er auch sich selbst weg."
Tyra fragte mich, was man gegen Angst tun könne.
"Angst ist wichtig, wenn sie einen vor Gefahren warnt", meinte ich. "Auf der Beziehungsebene jedoch ist sie oft nur ein Stein im Weg und hindert einen, das zu tun, was man will. Und ich will mich nicht daran hindern lassen. Also tue ich, was ich will."
"Du ignorierst die Angst."
"Genau. Sie wird nicht gebraucht, also wird sie ignoriert. Ich bin offen und trage mein Herz auf der Zunge, und das Erstaunliche ist, daß es mir nicht schadet, sondern nützt. Offenheit öffnet Türen ..."
Wieder kam jemand vorbei, der mich kannte; ich grüßte und umarmte ihn und setzte mich dann wieder zu Tyra.
"Ja, das sieht man, daß das nützt", stellte Tyra fest.
Ich erzählte, da ich auf Rafa nicht bauen könne, müsse ich an etwas festhalten, das nichts mit ihm zu tun hat. Es gebe eine Quelle, aus der ich schöpfe, für die ich keinen Namen habe.
"Es hat etwas zu tun mit Glaube, Liebe und Hoffnung", versuchte ich zu erklären. "Glaube, Liebe und Hoffnung müssen alle gemeinsam vorhanden sein. Eines kommt ohne die anderen nicht aus."
"Das steht schon in der Bibel ..."
Über das Beten sagte ich, daß ich nicht daran glaube, daß durch Gebete Wünsche erfüllt werden. Sie seien vielmehr dazu da, um belastende Gedanken und Gefühle abzulegen:
"Beten heißt nicht Bitten, sondern Delegieren. Es bedeutet, daß man sich um das, was einen belastet, nicht mehr zu kümmern braucht, weil man die Verantwortung abgegeben hat. Man wird handlungsfähig, wenn man Gedanken und Gefühle, die einen bedrängen, beiseitelegen kann."
Als wir wieder hinuntergingen in den Tanzsaal, erzählte Tyra, sie habe von mir geträumt; wir hätten im "Always" in MI. miteinander Kaffee getrunken.
"Dann hilft's nichts, wir müssen das machen", meinte ich.
Saaras Schwester Danielle erzählte, ihr Mike habe sich seit der Hochzeit verändert. Er sei verantwortungsbewußter geworden. Was Rafa und mich betreffe, so glaube sie, daß es mit uns eines Tages klappen werde; begründen könne sie dies aber nicht, es sei mehr eine Sache der Intuition.
Im Foyer unterhielt ich mich mit Tyra und Ivon. Ivon ist einer von den Leuten aus dem Raum SHG., in dem (beinahe) jeder jeden kennt. Als das Gespräch auf Rafa kam, fragte Ivon:
"Wer ist Rafa?"
"Ach, den brauchst du nicht unbedingt zu kennen", meinte ich.
"Sagt mal, ihr habt euch eben nicht die ganze Zeit über Rafa unterhalten?" fragte Ivon.
"Doch", antworteten wir.
"Wie kann man sich zwei Stunden lang nur über Rafa unterhalten?" staunte Ivon.
Dies läßt wieder einmal Rückschlüsse zu auf Rafas Beliebtheit in seiner Heimatregion.
Das letzte Stück, das Kappa heute nacht spielte, war "Firestarter" von Prodigy, ein Wunsch von Stefan A. Stefan hüpfte wie eine aufgezogene Spielzeugfigur auf der Tanzfläche herum. Weil das Lied auch zu meinen Lieblingsstücken gehört und eines der tanzbarsten war, die heute liefen, fegte ich ebenfalls über die Tanzfläche, vorwiegend in Pirouetten. Nach dem Stück umarmte mich Stefan und rief:
"Vielen Dank!"
"Ja, das war cool", rief ich, "bis zum nächsten Mal, dann machen wir wieder Party."
Kappa erzählte mir, daß Edaín inzwischen wieder in Vollzeit arbeitet, als Chefsekretärin. Ich erkundigte mich, ob er an seinem Buch weiterschreibt, mit dem er 2003 begonnen hat. Kappa bejahte.
"Dann bin ich ja gespannt", sagte ich. "Hoffentlich kann man bald online was lesen."
Kappa entgegnete, das Buch gebe es nicht einfach so, das wolle er sich bezahlen lassen. Ich schlug ihm vor, es bei dem Label zu veröffentlichen, wo er schon Musik veröffentlicht hat und Rafa auch veröffentlicht.
"Keine schlechte Idee", meinte Kappa. "Dann schließt sich der Kreis."
Morgens nahm ich Ceno und Ferry mit ins "Nachtbarhaus" zum Frühstücken. Weil bei ihnen eine Betrunkene stand, die sich mit ihnen unterhielt, nahm ich die auch noch mit. Sie stellte sich vor als "Runi", aber um Himmels Willen sollten wir sie nicht fragen, ob sie Gudrun heiße. Sie rede nie, sei stumm und nicht unterhaltsam, betonte sie und redete ununterbrochen und bestellte im "Nachtbarhaus" ein Bier nach dem anderen. Ich war nahe am Einschlafen und machte nach dem Essen ein Nickerchen auf der Bank an unserem Tisch. Runi erzählte, sie gehe nicht arbeiten und könne es auch nicht. Eigentlich sei sie eine bedeutende Künstlerin und male nur Strichmännchen. Ich überlegte, welche psychiatrischen Diagnosen auf sie zutreffen konnten. Als sie auf der Toilette war, vermutete Ferry, daß Runi auch im nüchternen Zustand so war wie jetzt.
Runi erklärte, sie habe keine Lust, nach Hause zu fahren. Sie wolle Ceno begleiten, bis nach CE., wohin er heute früh noch fahren mußte, um seiner geschiedenen Frau den Unterhalt zu bringen. Als Runi wieder auf der Toilette war, versprach ich Ceno, ihn von ihr zu befreien. Runi hatte sich gerade Bier nachbestellt, und ich bat Ferry und Ceno, ihr eigenes Bier auszutrinken, dann würde ich sie hinauslotsen, und Runi müsse zurückbleiben. Als Runi von der Toilette wiederkam, zahlten wir gerade. Sie maulte, das sei furchbar nett von uns, daß wir ihr so gerne Gesellschaft geleistet hätten, und nun müsse sie halt den Taxifahrern auf die Nerven gehen.
"Siehst du, hier sind auch schon ganz viele Taxifahrer", ermunterte ich sie und zeigte auf etwa zehn Taxifahrer, die sich an der Bar versammelt hatten.
Mit Ceno und Ferry ging ich hinaus.
Meine Cousine Lisa berichtete am Telefon, daß am 30. November ihre Tochter Lilia zur Welt gekommen ist, das dritte Kind nach Ida und Amaryllis. Die dreijährige Amaryllis wünscht sich, endlich Taufpaten zu bekommen. Auch die kleine Lilia soll Paten haben. Leider ist der Zwist von Lisas Vater Irmin und Lisas Lebensgefährten Chandra nicht aus der Welt zu schaffen, und dies steht einem Familienfest im Wege. Allerdings sollen die Kinder nicht unter den Auseinandersetzungen zwischen Vater und Großvater leiden.
Clara mailte mir Hochzeitsfotos. Seward und sie haben wie geplant im November standesamtlich geheiratet, die große Feier wollen sie im Frühjahr geben. Bei der standesamtlichen Trauung konnte ich nicht dabei sein, weil ich arbeiten mußte. Clara trug bei der Hochzeit ihr Traumkleid mit Spitzenblüschen und langem Rock.
Als ich Sylvain die URL meines Online-Adventskalenders mailte, schrieb er:

Hinter Kalendertürchen Nr. 7 verbarg sich ein Bild, welches Jahre zurück in einem meiner Träume vorkam, etwa zwischen 1992 und 1998. Es sieht fast haargenau so aus. Im Traum war es nur Nacht und es lag kein Schnee. Aber die Form des Sees, die Bäume und das steile Ufer sind sehr bzw. total mit dem hängen gebliebenen Traumbild identisch. Ich war im Traum durch den See geschwommen, weil am anderen Ufer eine Fabrik für 2D-RPG-Videospiele lag. Das Gebäude auf deinem Bild könnte man fast damit vergleichen :) Einfach nur schön ...








Das 7. Bild im Adventskalender zeigt eine Talsperre im Harz.
Am Sonntag gab es bei mir ein Adventskränzchen mit neuen Katastrophen-Keks-Kreationen. Außer den "Klassikern" gab es Strahlende Engel, Atomkraftwerkchen und Globale Verdunklungskekse. Strahlende Engel haben die Umrisse eines Engels und sind verziert mit einem Radioaktivitäts-Symbol. Atomkraftwerkchen bestehen aus einem weißen Mini-Schaumkuß, der auf einem Butterkeks steht, und als Schornstein daneben steht eine Schoko-Keks-Stange. (Diese Idee stammt nicht von mir.) Der Globale Verdunklungskeks ist rund wie die Sonne, und die Zuckerglasur ist mit Kakao bestäubt, was die Luftverschmutzung symbolisiert.

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