Netvel: "Im Netz" - 13. Kapitel































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Am Abend nach Rafas Besuch nahm ich das Dictaphon mit ins Bett und begann ihm zu erzählen, was ich noch wußte. Dabei schlief ich ein. Ich hatte es nicht geschafft, das Licht auszumachen, und so schlief ich bei Licht. Gegen Morgen wachte ich auf. Anstatt das Licht zu löschen, erzählte ich dem Dictaphon noch mehr von meiner Begegnung mit Rafa. Und wieder schlief ich bei Licht ein.
Talis und Ellen berichteten mir, an jenem Abend sei die Musik im "Nachtlicht" nicht besonders gut gewesen. Rafa soll viele ältere, zu oft wiederholte Stücke gespielt haben. Die Sängerin war nicht anwesend. Rafa stand durchgehend hinterm DJ-Pult. Jeweils nach drei Stücken verloste er Vinylplatten. Diese Platten stammten aus dem Lager eines Musikvertriebs in H. Die Gäste rissen sich nicht eben darum. Dolf war im "Nachtlicht" und sprach mit Daria.
Am nächsten Abend legte DJ Z aus dem "Fall" im "Elizium" auf. Ich war viel auf der Tanzfläche und hatte kaum Zeit, meine Bekannten zu begrüßen. Mir fiel auf, daß auch Daria den Weg ins "Elizium" gefunden hatte. Ivo Fechtner begleitete sie. Ich sprach nicht mit ihr und vermied es auch, sie anzusehen.
Als ich hinaufging zu DJ Z und ihn nach einem Titel fragte, sah ich bei ihm Rafas MaxiCD liegen.
"Ach - W.E spielst du auch?" fragte ich.
"Ja ...", antwortete DJ Z. "Vielleicht ..."
"Das Einzige, was ich von denen gut finde - was ich von dem gut finde -, ist 'Ganz in Weiß'. Der Rest -"
"Ahh, 'Ganz in Weiß' finde ich auch nicht so besonders."
"Oh, 'Ganz in Weiß' finde ich sehr gut. Aber der Rest "
Rafa kam ins "Elizium", als es dort sehr voll war. Er strich hinter mir vorbei, während ich tanzte. Er berührte mich fast. Ich kraulte ihn im Genick und wühlte in seinen Haaren.
Als ich mich im Bad kurz nachgeschminkt hatte und zurück in den Tanzraum kam, begegnete ich Rafa im Seitengang. Er stand da mit einem Bierglas in der Hand und blickte mich freundlich an. Eine Brille hatte er nicht auf.
"Na?" grüßte er mich. "Alles klar?"
"Ja. Wie geht's?"
"Oh, gut!"
"Das ist fein", sagte ich. "Darf ich denn eigentlich jetzt mit dir reden? Und darfst du mit mir reden?"
"Ja. Warum nicht?"
"O.k. Dann komme ich gleich her, ich bringe nur meine Tasche weg. Ich komme gleich wieder."
Als ich wiederkomme, ist mir Rafa schon ein Stück gefolgt. Er steht weiter hinten im Seitengang, in der Nähe des Podests.
"Ja", sage ich zu ihm. "Also."
"Nein, nein - laß' uns hierhin gehen."
Rafa geht mit mir in die dunkle Ecke vor der Treppe. Er scheint nicht zu wollen, daß die Sängerin uns miteinander sprechen sieht.
"Entweder will er es sich nicht mit ihr verderben, oder er möchte ihr die Hoffnung auf ihn erhalten", denke ich. "Er wird wohl noch etwas mit ihr vorhaben."
"Und? Wie war es gestern im 'Nachtlicht'?" frage ich Rafa.
"Oh - gut!" antwortet er, und ich glaube, daß er nicht ganz ehrlich ist. "Und was hast du gemacht?"
"Ich war doch krank. Ich konnte ja gar nicht weggehen. Ich habe auch voll den Schnupfen. Ich brauche alle zwei Minuten ein Taschentuch."
"Siehst aber nett aus heute", meint Rafa.
"Ja? Findest du?"
"Ja", bestätigt Rafa.
"Also sehe ich nicht aus wie ein Totenschädel?" versichere ich mich.
"Nein!"
"Ach, das ist ja schön."
Wir lächeln uns ein wenig an. Rafa steht ganz steif da. Ich fühle, daß er sich nicht berühren lassen möchte.
"Was 's' los?" fragt er.
"Erzähl' mal was", bitte ich ihn.
"Ich muß gleich wieder ins 'Nachtlicht' zurück", entschuldigt sich Rafa. "Kommst du nachher auch ins 'Nachtlicht'?"
"Möchtest du denn, daß ich komme?"
"Ja, warum nicht? Dann komme ich 'runter, und dann trinken wir einen Sekt zusammen."
"Wie lange macht ihr denn? Wie lange habt ihr denn offen?"
"Also, mindestens bis vier."
"Wenn ich so ... gegen vier, halb fünf komme, ist das in Ordnung?"
"Ja."
"Ja, gut, dann komme ich dann."
"O.k., bis nachher."
Ich nehme seine Hand und drücke sie mit beiden Händen. Er strebt fort. Etwas später treffe ich Laura im Seitengang und erzähle ihr von meiner Verabredung mit Rafa. Währenddessen sitzt Rafa an der Bar, und neben ihm sitzt die Sängerin. Die beiden unterhalten sich einige Zeit. Laura geht mit Fedor ebenfalls zur Bar. Später berichtet mir Laura, die Sängerin habe unglücklich ausgesehen; es könnte sogar sein, daß sie Tränen in den Augen hatte.
Ich sehe Rafa, Saverio und Carl an der Bar miteinander sprechen. Später berichtet Carl, daß Rafa ihn und Saverio grüßte, mit "Hallo allerseits". Rafa hat auch Derek angesehen. Der sagte ihm "Hallo", und Rafa erwiderte den Gruß.
Bald sind Rafa und die Sängerin verschwunden. In der Toilette erzähle ich Ellen, daß ich die Verabredung mit Rafa einhalten möchte.
"Ich nehme, was kommt", sage ich gelassen, "und was nicht kommt, kommt vielleicht ein andermal."
Kurz nach vier wird es im "Elizium" leerer. Ich mache mich auf den Weg. Zu früh will ich auf keinen Fall im "Nachtlicht" sein, zu spät aber auch nicht. Ich bin zu der ausgemachten Zeit da. Rafa steht hinterm DJ-Pult. Von meinen Leuten sehe ich niemanden; ich finde nur flüchtige Bekannte wie Dorgath, Toro und Henriette. Außerdem ist Saverio im "Nachtlicht" mit seinen tonnenförmigen Begleiterinnen. Und meine "Feinde" sind da - die Sängerin, Dolf und Ivo Fechtner mit Daria. Daria sehe ich wieder nicht mit der Sängerin reden. Die Sängerin hält sich in der Ecke beim Rondell auf, wo wir am Donnerstag gesessen haben. Sonst hatte sie ihren Platz vorm DJ-Pult.
"Ich bleibe hier nicht lange", beschließe ich im Stillen. "Wenn Rafa es nicht schafft, nach drei Liedern herunterzukommen, gehe ich - es sei denn, die Musik ist so gut, daß er mich damit festhalten kann."
Ich finde die Musik aber nur mittelmäßig. Ein Lied tanze ich mit, danach muß ich mich langweilen. Die Leute sehen nicht so aus, als wenn sie mit mir reden wollen. Und ich mag sie nicht ansprechen und mich an sie hängen.
"Das mache ich nicht", denke ich bei mir, "daß ich hier alleine stehe, und niemand ist da, und Rafa legt oben auf und legt auf und legt auf. Und ich weiß doch, daß er nicht herunterkommen kann, bevor die Sängerin und Ivo Fechtner weg sind. Und die sind zäh. Die bleiben lange." Rafa scheint nach wie vor verwunden und verstrickt mit Dolf und der Sängerin. Von diesen läßt er sich den Weg zu mir versperren.
Ich stütze meine Arme auf das Türchen vom DJ-Pult und warte. Es dauert ein Weilchen, ehe Rafa sich zu mir umdreht. Ich winke ihn heran. Zögernd nähert er sich.
"Und?" sage ich.
"Ich kann jetzt nicht", entschuldigt Rafa sich rasch. "Ich muß noch auflegen."
Er strebt zurück ans Pult. Ich bleibe am Türchen stehen und winke ihn noch einmal her. Eindringlich sage ich zu ihm:
"Ich fühle mich hier überhaupt nicht wohl. Die Musik ist nicht besonders ..."
"Die ist hundertprozentig!" widerspricht Rafa.
"... und außerdem ist keiner von meinen Leuten hier", fahre ich fort. "Aber es sind viele von meinen Feinden hier."
"Danach darf man nicht gehen."
"Ich gehe aber danach."
"Aber ich kann jetzt echt nicht", beteuert Rafa. "Ich muß auflegen."
"Ist gut. Dann sehen wir uns in ungefähr vierzehn Tagen."
"Tschüß. Viel Spaß und gute Reise."
"Danke. Tschüß."
Ich umgreife seine Hand mit beiden Händen. Dann hole ich meine Sachen und gehe.
Rafa spielt "Heimat" von Weltklang. Ich tanze gerne zu diesem Stück. Aber ich gehe schon die Treppe hoch, als es anfängt, und deshalb kehre ich nicht mehr um.
Rafas Verhalten ist mir vertraut - er zeigt, daß er mir nahe sein will, und wenn Verbindlichkeiten entstehen, nimmt er Reißaus.
Mir fällt dazu ein, daß Derek einmal zu Constri gesagt hat, er habe Angst, daß Schluß sei, wenn Constri ihn erst richtig kenne. Eben dasselbe hat Rafa im Juli des vergangenen Jahres auch zu mir gesagt.
Rafa scheint noch immer auf die Sängerin zu setzen und sich an ihr festhalten zu wollen. Ich habe den Verdacht, daß er in ihr gezielt Hoffnungen weckt. Es könnte sein, daß er sich immer wieder erweichen läßt und mit ihr zusammengeht. Durch diese Unentschlossenheit schadet er nicht nur sich, sondern auch der Sängerin. Er wirft sie in ein Wechselbad. Die Sängerin hat die Aussicht, Rafa immer wiederzubekommen. Das kann sie davon abhalten, nach jemandem zu suchen, der besser zu ihr paßt.

In einem Traum war ich mit Rafa verabredet zwischen zwei Bahngleisen, oben auf einem Hügel, abends um zweiundzwanzig Uhr. Ich beeilte mich, um pünktlich zu sein. Als ich oben ankam, fuhr dort ein Zug ab, und einer kam an; jener letztere war ein Zug nach SHG. Ich wurde durch den abfahrenden Zug von der Stelle getrennt, an der Rafa und ich uns treffen wollten. Ich wartete, bis der Zug vorbeigefahren war, doch er war sehr lang. Ich stand dicht an einem Abgrund. Wenn der Zug nicht bald zuende war, mußte ich abstürzen. Der Zug bestand aus lauter leeren Kohlewaggons. Immer mehr der stählernen Waggons kamen den Hügel herauf. Sie ratterten. Ich erwachte, ehe der Zug endete.

Es gibt nach wie vor etwas, das mich gefährdet und von Rafa trennt. Rafa hat sich auf eine Verabredung mit mir eingelassen, doch führt sie mich in zwei Gefahren - links die Gefahr, überrollt zu werden, rechts die Gefahr, abzustürzen. Dazwischen liegt ein schmaler Grat, auf dem ich mich nur für begrenzte Zeit halten kann.

In einem anderen Traum war ich damit beschäftigt, Betonbordsteine aus einem Einkaufswagen auszuladen. Es war Winter und alles verschneit. Ich lehnte die Bordsteine gegen eine Mauer. Eine Frau mit einem Hund kam vorbei. Sie hatte eine dieser Leinen, die sich die Hunde selber langziehen können. Ich wollte, daß der Hund mir nicht näher kam, und sagte abwehrend:
"Ja, ja, ja, ja."

Es ist merkwürdig, daß ich die schweren Bordsteine heben konnte. Ein Bordstein wiegt an die zwei Zentner.

In einem Traum lag Rafa auf einem Bett, und Daria saß bei ihm.
"Wo is' sie?" fragte Rafa im Halbschlaf. "Wo is' sie?"
"Wieso, ich bin doch hier", entgegnete Daria.
"Nein, ich meine Hetty", sagte Rafa.

In einem Traum telefonierte Constri mit Rafa. Sie stellte ihm einige Fragen, unter anderem zum Aussehen seiner Wunschfrau. Er antwortete:
"Das Aussehen ist für mich gar nicht so entscheidend. Wichtig ist mir nur, daß es eine üppige Blonde ist."

Daran kann nicht viel Wahres sein, denn Rafa hatte bereits eine üppige Blonde, Sanna nämlich. Und die hat er schon lange nicht mehr.

In einem weiteren Traum stand ich mitten im Hauptbahnhof. Da kam ein Mann, der redete wirres Zeug und war recht aufdringlich. Er langte nach einer Pistole und hielt sie mir in den Rücken. Ich zögerte nicht. Mit der Faust schlug ich die Pistole weg, entwand sie dem Mann und schoß ihm in die Brust. Er brach zusammen. Ich lief zur Wache der Bahnpolizei. Die Polizisten holten den Mann. Er war nicht tot. Er wurde in Gewahrsam genommen und durfte zur Strafe für seine Untat nicht mit den anderen Häftlingen fernsehen. Es war einer, der seinen Hafturlaub mißbraucht hatte.

In einem weiteren Traum war ich in Paris - und vergnügte mich nicht, nein - ich war immer auf der Suche nach einem Zug nach Hause und zu Rafa. Schließlich wollte ich mich doch noch ein wenig vergnügen und Riesenrad fahren. Ich traf andere Leute, mit denen ging ich in einen Laden. Dort war ein Mann, der verpackte Geschenke gegen Geld, und das wurden ganz besondere Kunstwerke. Der Mann spielte mit mir ein Gesellschaftsspiel. Er breitete einen weißen Bogen auf einem Tisch aus, und darauf standen aus Süßigkeiten gemachte kleine Gebäude in Paris. Er räumt einige ab und sagte mir, nun sollte ich anfangen, sie wieder richtig aufzustellen. Meine Gefährten spielten mit. Der Mann lobte jeden, wenn er etwas richtig gemacht hatte. Ich entdeckte, daß ich ein neues Nachthemd trug, in Schwarz und Weiß. Es war aus Samt und Chiffon. Ich wußte nicht, ob ich Rafa in dieser "Verpackung" gefallen könnte. Noch innerhalb des Traums zog Rafa mich fast völlig aus und legte sich in Kleidern neben mich. Hat ihm das Nachthemd nun gefallen?

In einem Traum hielt in H. ein Zug, der nach SHG. weiterfahren sollte. Ich stieg aus. Ein Bekannter von mir fuhr weiter. Er hatte eine Tüte, auf die war das Wort "SHG. " gedruckt. Er bekam Gesellschaft von Rafa, der zustieg. Ich war in Versuchung, mit den beiden weiter nach SHG. zu fahren, tat dies aber nicht, weil ich Rafa Grenzen setzen wollte und nicht den Eindruck erwecken wollte, ihm hinterherzulaufen. Mein Bekannter und ich wollten uns im "Nachtlicht" wiedertreffen. Ich rief ihn später an.

Während Constri, Sadia und ich auf der Insel waren, regnete es meistens. Die ersten Tage verbrachte ich mit Fieber und Husten im Bett, hinter zugezogenen Gardinen. Die Antibiotika brauchten einige Zeit, bis sie wirkten. Daß Constri und Sadia da waren und sich in der Wohnung um alles kümmerten, war für mich sehr entlastend. Sie brachten mir das Essen und Schokoladenstückchen zur Aufmunterung. Dann schließlich konnte ich mit ihnen an den betonierten Uferbefestigungen entlanglaufen. Wir stellten uns mit unseren Regenschirmen unter die Strandduschen und fotografierten uns so in dem Nieselwetter.
Als ich zum Einkaufen ging, sah ich vor dem Rathaus der Insel ein Brautpaar, umringt von Hunderten von Menschen. Das Paar war traditionell gekleidet. Eine militärisch wirkende Kapelle spielte und bewarf das Paar im Takt mit Konfetti. Dazu wurde ein Lied gesungen mit unzähligen Strophen. Etwas abseits vom Tumult stand ein Lastwagen mit einem lila bezogenen Ehebett aus Kiefernholz, über das weißer Tüll gehängt war. Ich fühlte mich unwohl, als ich das sah und hörte und ging schnell weiter. Wäre ich die Braut gewesen, ich hätte das Gefühl gehabt, daß mein Privatleben der Volksbelustigung dient. Meine Hochzeit würde ich nicht feiern wollen wie einen Erfolg, denn sie wäre nur ein Meilenstein auf einem langen schweren Weg.
Als wir nach Hause kamen, fragte ich Carl gleich, ob er am Wochenende Rafa gesehen hatte. Das hatte er. Am Freitag waren Rikka, Seth, Malda, Eta und Wilco abends zu Carl gekommen, um mit ihm um Mitternacht auf seinen Geburtstag anzustoßen. Sadia, Constri und ich riefen Carl von der Insel aus an und gratulierten ihm. Später ging Carl alleine ins "Nachtlicht" und blieb dort bis zum Schluß. Dolf, die Sängerin und Ivo Fechtner waren nicht zugegen, jedoch Daria.
"Bist du alleine hier?" fragte sie Carl.
Das hörte sich für ihn so an, als wenn sie fragen wollte:
"Ist Hetty auch da?"
Rafa legte in seinem Priestergewand am DJ-Pult auf, dem schwarzen Kleidchen, das er mit einem langen weißen Hemd kombiniert. Dazu trug er weiße Kniestrümpfe und Schnallenschuhe. Das Haar trug er zu einem Zopf gebunden.
Rafa übergab das Pult später an Sazar und lief quer durchs "Nachtlicht", um mit vielen verschiedenen Leuten zu reden. Schließlich näherte Rafa sich auch Carl. Er gab Carl die Hand und sagte zu ihm:
"Du bist Carl."
"Ja", antwortete Carl.
Rafa ging weiter.
Sazar sagte durchs Mikrophon, wer wisse, wer Bela Lugosi gewesen sei, könne eine CD mit "Bela Lugosi's dead" von Bauhaus gewinnen.
Als Carl oben vor der Außentür stand, war dort auch Rafa. Er führte ein Gespräch mit einem auffällig geschminkten Jungen mit Zopf. Der Junge meinte, wenn er auf die Straße ginge, komme innerhalb von fünf Minuten jemand, der einen Spruch über ihn mache.
"Hahaha, das glaub' ich nicht!" entgegnete Rafa.
Die beiden wetteten um einen Sauren. Der Junge mit dem Zopf stellte sich auf die Straße und wartete fünf Minuten; es kam aber keiner, der einen Spruch über ihn machte. So hatte Rafa gewonnen.
Rafa schien recht angetrunken zu sein und ganz in seinem Element. Er diskutierte wild und gestenreich mit dem Zopfjungen. Wenn Carl versuchte, Rafa in die Augen zu sehen, gelang es ihm nicht. Rafa sah durch Carl hindurch oder an ihm vorbei, war ihm aber ganz nahe. Rafa schien sich mit Carl unterhalten zu wollen, sich aber nicht zu trauen, und so redete er stellvertretend mit dem Zopfjungen.
Unter anderem fragte Rafa den Zopfjungen, ob er wisse, wer Bela Lugosi gewesen sei.
"Das war doch der mit diesem Dracula ...", erinnerte sich dieser.
Rafa schien es sehr wichtig zu sein, daß bekannt ist, wer Bela Lugosi war.
Carl betrachtete Rafa in seinem Priesterkleidchen und überlegte:
"Kleidchen tragen Schwule, aber Rafa wirkt gar nicht wie ein Schwuler. Der scheint wirklich eine große Ausnahme zu sein. Der ist wirklich abgefahren."
Nach dem Gespräch mußte Rafa seinen Sauren bekommen, und er ging mit dem Zopfjungen nach unten zur Bar.
Am Samstag war Siddra bei Carl zu Gast. Sie entdeckte Rafas Bild über meinem Spiegel und staunte:
"Da hängt Rafa ja wirklich!"
Malda hatte ihr wohl davon erzählt.
"Ohhh ... Rafa", stöhnte Siddra. "Aber in den letzten zwei Jahren hat er sich ja echt gebessert. Der war früher viel arroganter."
Carl war nachts im "Elizium". Ivo Fechnter soll aggressiv gewirkt haben. Die Sängerin und Dolf sollen erst spät ins "Elizium" gekommen sein, als wären sie vorher noch im "Nachtlicht" gewesen.
Brinkus hat erzählt, er sei am Freitag bei Daria gewesen. Sie habe von Ivo Fechtner erzählt, er sei nach wie vor viel mit dem Auto unterwegs, vor allem zu Konzerten. Mit Valeria soll Ivo sich nicht mehr verstehen.
Carl hat eine Ausbildung zum Kinderpfleger begonnen, mit Saverio an derselben Schule. Saverio soll häufig auf freche Art die Nähe von Carl suchen. Er hat sich von Carl Essen abgeben lassen, sich von ihm eine Mark fünfzig geborgt, ihn am Zopf gezogen und in den Hintern getreten, und er lief durch den Raum, in dem Carl Unterricht hatte. Einige sollen die beiden sogar für ein Pärchen halten.

In einem Traum stand ich mit Rafa an seinen Geräten - Synthesizern und Computern - , und wir stellten Klänge her. Zwischendurch hörte ich den Wecker und machte ihn immer wieder aus. Das geschah auch in Wirklichkeit, ich wachte dabei aber nicht auf.
"Das ist legitim in einer guten Ehe", sagte ich zu Rafa.
"Ja, das ist legitim in einer guten Ehe", bestätigte er.
Und wir bastelten weiter an unseren Klängen. Wir nahmen uns das Recht, den Wecker immer wieder auszustellen.

In einem anderen Traum ging ich mit Gerrit Al-Kher zu einer Party. Auch Saverios Freundin Edna war eingeladen. Carl fand das furchtbar.
"Edna ist ein Falke", sagte ich zu Carl. "Dafür braucht man einen Falkenhandschuh, dann hat man sie im Griff."

Laura erzählte am Telefon, daß sie das letzte Wochenende bei Fedor in HH. verbracht hat. Am Freitag waren sie im "Zentrum für Musik und Kommunikation". Laura ist inzwischen Fedors Freundin und darf die Vorteile genießen, die er als DJ hat. Allerdings soll es für Fedor im "ZMK" nicht mehr so rosig aussehen. Er soll sich mit seinem Chef angelegt haben, indem er ihm vorwarf, die IndependentSzene in Deutschland zu monopolisieren. In dessen Clubs soll nämlich fast nur Musik von Labels gespielt werden, mit denen die Firma Verträge hat. Das Ergebnis des Streits war, daß Fedor im "ZMK" nur noch donnerstags und sonntags auflegen darf.
Fedor ist neunzehn und behauptet, er sei zwanzig, weil er findet, daß sich das besser anhört. An seinem Wochenende mit Laura hauste Fedor ohne seine Mutter in der Wohnung. Das hatte zur Folge, daß dort ein entsetzliches Chaos ausbrach. Lila Haarfarbe kam auf den Badboden, und Fedor wischte sie nicht auf. Er hatte Gäste am Samstagabend, und die verteilten die Haarfarbe mit ihren Schuhen auf dem Teppich. Unter den Gästen waren auch Project Pitchfork. Laura fand es wahrscheinlich recht aufregend, mit denen Bier zu trinken.
Fedor hat Laura erzählt, daß er sich vor einiger Zeit mit Rafa über Nachwuchsbands unterhalten hat. Damals wußte Fedor noch nicht, daß Rafa W.E macht. Er sagte ganz unbefangen:
"Da gibt es doch ... wie heißen die noch? W.E ... die sind auch voll blöd."
Rafa sagte nichts dazu. Als Fedor später herausbekam, wer Rafa ist, wurde ihm klar, warum er nichts gesagt hatte, und es war ihm unangenehm.
Fedor hat Rafa einmal danach gefragt, was er im "Nachtlicht" verdient. Rafa wollte es ihm nicht sagen, wie er es auch mir nicht hat sagen wollen. Rafa soll sogar zu Fedor gesagt haben, es sei ihm egal, wieviel er verdiene; es gehe ihm nur ums Auflegen. Im Zweifelsfall würde er das auch umsonst machen. Daraus schließe ich, daß Rafa im "Nachtlicht" fast umsonst arbeitet.
Mit Ivo Fechtner will Fedor nicht näher zu tun haben. Weil Fedor ihn einmal nicht grüßte, soll er schon recht gereizt gewesen sein.
Daria hält sich Laura gegenüber bedeckt, was Dolf angeht und was ihren beruflichen Werdegang angeht. Laura hat auf dem Schulhof ihrer Berufsschule "etwas Kleines Schwarzes" gesehen, das war Daria. Daria erzählte, ihre Ausbildung im Hotelfach sei beendet, das sei nur für ein Jahr gewesen, und sie mache jetzt eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. Wie es zu diesem Wechsel gekommen war, erzählte sie nicht.
Laura ruft viel bei mir an, als wenn ihr der Tag sonst zu lang wird.
"Laura weiß nicht, was sie machen soll, und du weißt nicht, was du zuerst machen sollst", meinte Carl dazu.

In einem Traum war ich auf einer Party in einem Gespräch. Wir standen in einem recht engen Flur. Da schob sich mit einem Mal der Sockenschuß an den Leuten vorbei und baute sich dicht vor mir auf. Ich konnte nicht fort; ich war eingekeilt.
"Hilfe!" rief ich.
"So", sagte der Sockenschuß siegesgewiß.
Er warf mir irgendwelche Zettel hin, die er wohl als Beweismaterial für seine Wahnideen betrachtete. Dann versuchte er, mich wegzutragen. Ich war zuerst wie gelähmt vor Abscheu und vor Furcht um mein Leben. Dann aber fing ich mich und sagte in einem ganz geschäftigen Tonfall:
"So, ich gehe jetzt wieder nach oben."
Diese Gelassenheit verwirrte den Sockenschuß wohl. Ich konnte mich ihm entwinden und drängelte mich an den Leuten vorbei durch den Flur. Ein Schritt zur Flucht war getan. Doch erfuhr ich nicht mehr, ob ich den Sockenschuß endgültig abhängen konnte, denn ich wachte auf.

Vor mehreren Jahren hatte ich einen ähnlich furchterregenden Traum vom Sockenschuß, da stand ich vor einem Haus, und der Sockenschuß schaute aus dem Fenster und rief:
"Ich komm' jetzt 'raus aus meinem Haus! Ich komm' jetzt 'raus aus meinem Haus!"

Inzwischen fühle ich mich dem Sockenschuß nicht mehr so ausgeliefert wie damals, und das hat vor allem mit Rafa zu tun.
"Weshalb willst du Rafa eigentlich heiraten?" hat Ellen mich gefragt.
"An und für sich bin ich gegen das Heiraten", antwortete ich, "doch ich habe festgestellt, daß ich Rafa heiraten möchte."
Ich erzählte, daß ich das Heiraten in der Form, wie es im Gesetzbuch beschrieben ist, als ethisch zweifelhaften Vertrag über den wechselseitigen Gebrauch von menschlichen Körpern ansehe. Doch ich meine, daß man dem Heiraten auch noch eine andere Bedeutung geben kann.
"Ich denke, daß das Heiraten nur genau zwei Menschen etwas angeht, nämlich die, die heiraten", sagte ich. "Für mich ist das Heiraten ein Versprechen, zusammenzubleiben und sich immer treu zu sein, ein Versprechen, sich zu binden - und weiter nichts! Außerdem denke ich, daß es für Rafa, der solche Schwierigkeiten damit hat, sich für einen Menschen zu entscheiden, eine Möglichkeit ist, sich zu mir zu bekennen."



Ellen, Talis und ich gingen am Freitag ins "Nachtlicht". Ich sah sogleich die Sängerin, tanzend auf ihrem üblichen Platz vorm DJ-Pult. Sie hatte sich die Haare sehr stark toupiert. Ihre Kleidung war nicht mehr als Unterwäsche; sie bestand aus einer Strumpfhose, einem Body und einem bauchfreien Hemdchen. Daria entdeckte ich auch gleich, Ivo Fechtner und Dolf aber nicht.
Rafa hatte sich die Haare hochgestellt, ein wenig im Irokesenstil, und er ging in Schwarz. Was er genau anhatte, konnte ich nicht erkennen, denn er blieb hinterm DJ-Pult. Die Sängerin sah ich übrigens nicht mit ihm sprechen, auch nicht Meta. Meta trug diesmal Rot, obwohl im "Nachtlicht"Freitagsprogramm "Black dress only" steht. Sie tanzte neben der Sängerin, als könnte es gar keine Rivalitäten zwischen den beiden geben.
Daria übersah mich wieder einmal. Adi begrüßte mich, ein ungewohnter Gast in der Szene. Er war etwas schüchtern, aber sonst ganz locker und nett. Ich glaube, er hat immer noch keine Freundin. Von Ivo Fechtner will er übrigens nichts mehr wissen.
"Der da vorne hat sich die Haare hochgestellt", sagte ich zu ihm über Rafa. "Das sieht so süß aus."
"Wer? Kappa?"
"Nein!"
"Ach -"
Adi verstand.
"Genau der", bestätigte ich. "Manchmal kann ich ihn ja mitnehmen. Da kommt er dann so gegen vier an und will mit. Ich kann ihn nur selten mitnehmen, aber ich kann es. - Guck' dir mal diese Tussi mit den roten Haaren an. Von der ist er jetzt schon zum achten Mal getrennt. Er kann nämlich nur mit mir reden, wenn er von ihr getrennt ist, und er will oft mit mir reden, also muß er sich oft von ihr trennen. Ich frage mich, ob er jetzt zum neunten Mal mit ihr zusammen ist. Ich habe kürzlich schon am Frühstückstisch zu ihm gesagt, daß mit der wohl bald das neunte und das zehnte Mal Schluß ist. Und da hat er ganz zerknirscht geschwiegen."
"Ihr spielt ein Spiel miteinander."
"Ja!"
Adi war mit Valeria gekommen. Sie trug lange, schwarz gefärbte Haare und ein Ringelshirt. Sie begrüßte mich mit Winken und begann auch gleich eine Unterhaltung mit mir. Sie redete nicht über Ivo Fechtner, nur über Till. Mit Till scheint sie sich immer noch zu verstehen.
Talis verabschiedete sich nach kurzer Zeit. Ellen hatte Bauchweh, und er ging mit ihr heim. Das erinnerte mich an das "Ausgeh-Syndrom" bei manchen Pärchen. Es kommt öfter vor, daß einer der beiden glaubt, wenn man gemeinsam ausgeht, wird einem der Partner weggefangen. Also bleibt man auf der Couch sitzen und klammert sich aneinander. Das kann mit einem verminderten Selbstwertgefühl zu tun haben - "alle anderen sind hübscher als ich, also muß ich verhindern, daß er die anderen zu sehen kriegt" -, und die Beziehung führt meistens in eine Sackgasse aus Streit und Langeweile.
Adi und Valeria waren inzwischen auch fort. Die Musik war nicht so, daß ich durchgehend tanzen konnte, und im "Nachtlicht" waren keine Leute mehr, mit denen ich hätte reden können. Es waren viele Gothics da, doch ich kannte sie alle nicht, und ich spreche in der Regel keine fremden Leute an.
Wenn die Sängerin nicht tanzte, hielt sie sich bei dem Treppchen zum DJ-Pult auf. Es wirkte so, als wollte sie Rafa bewachen. Noch immer erfindet die Sängerin andauernd neue Kostümierungen; die Haarfarbe wechselt zwischen verschiedenen Rot-, Lila- und Rosatönen, mal werden die Haare gekreppt, mal geflochten, mal bleiben sie glatt; die Leggins und Oberteile sind in unterschiedlicher Weise durchsichtig und erlauben unterschiedlich tiefe Einblicke. Ich bin mir sicher, daß dieser Aufwand Rafa gilt. Und ich hatte keine Lust, mich mit der Sängerin zu messen. Ich wollte nicht im "Nachtlicht" stehen und darauf warten, daß Rafa sich meiner erbarmte. Ich beschloß, noch ein Lied abzuwarten und zu gehen, wenn es mir nicht gefiel. Rafa sagte durchs Mikrophon:
"So, und wer mir sagen kann, von wem das nächste Stück ist, kann sich hier eine MaxiCD abholen."
Ich wußte nicht, von wem das Stück war, und ich mochte es auch nicht. Also nahm ich meinen Mantel und ging ins "Elizium". Es war gut besucht, um Einiges besser als das "Nachtlicht". Ich fand gleich viele Leute, die mich begrüßten, und es gab viel Musik zum Tanzen. Besonders schöne Stücke waren "Slave Sex" von Die Form und "Power of Passion" von Dive. Als ich zu "Adrenalin Rush" von Leæther Strip tanzte, kam einer und fotografierte mich mehrmals. Ich frage mich, ob ich die Bilder je zu sehen bekomme.
Xentrix hatte oben die CD "Domina" von Call. Luie gab mir den Kopfhörer, damit ich auf der CD meinen Lieblingstitel suchen konnte - den, den auch Rafa gespielt hat. Ich stand eine Weile hinterm DJ-Pult und lauschte. Da entdeckte ich auf einmal die Sängerin hinter der Trennschnur, die den DJBereich von der übrigen Galerie abgrenzt. Die Sängerin unterhielt sich laut mit verschiedenen Leuten. Sie stand in einer Engstelle und mir mitten im Weg, so, wie mir der Sockenschuß im Traum mitten im Weg stand. Es kam mir vor, als wenn es der Sängerin gar nicht gefiel, mich hinterm DJ-Pult zu sehen. Da mußte sie nach oben kommen und stören.
Ich sprach noch kurz mit Luie. Dann wand ich mich ganz geschäftig an der Sängerin vorbei, und sie ließ mich durch. So hat mich auch der Sockenschuß im Traum durchgelassen.
Die Sängerin verschwand bald wieder. Ich fragte mich, wohin sie gegangen war. Wenn sie ohne Rafa unterwegs ist, ist sie meistens nicht mit ihm zusammen. Es konnte aber sein, daß sie im Laufe der Nacht wieder etwas mit ihm anfing.
Das Stück von Call, nach dem ich suchte, heißt "Whips & Kisses", und es wurde auch noch gespielt. Ebenso lief "Maximizing the Audience" von Wim Mertens. Carl, Xentrix und ich tanzten dazu. Das Stück ist lang, fast einschläfernd, aber wir hielten durch.
Gegen Morgen sprach mich ein Junge an, der mich auch schon im "ZMK" angesprochen hat. Er heißt Ryan und erinnert mich in seinem Wesen und Gehabe sehr an den Verehrer Damon. Ryan trägt den Schwarze-Jeans-und-Lederjacken-Stil und sieht ganz nett und brav aus. Seine Gestik und Mimik waren die eines Verliebten. Er suchte dauernd nach Berührungsmöglichkeiten und Blickkontakt. Gleichzeitig schien er herausfinden zu wollen, inwieweit ich für ihn verwendbar war.
"Hast du Feuer?" fragte er mich.
Ich hatte keins, und da wollte er, daß ich Carl um Feuer bat.
"Du hast einen Mund zum Reden, also frag' ihn selber", entgegnete ich.
Kurz darauf verlangte Ryan:
"Nimm' doch mal die Hände von den Hüften; das sieht blöd aus."
"Ich habe meine Hände da, wo ich sie haben will", erwiderte ich. "Wo ich meine Hände habe, ist meine Sache."
Ich vermute, daß Ryan einer von den netten, aber verzogenen Jungs ist, denen es die stets nette Mutti allzu leicht gemacht hat. Ryan glaubt vermutlich, daß Frauen dazu da sind, den Männern zu dienen und zu gefallen.
Ryan wollte wissen, wie lange das "Elizium" noch geöffnet sei.
"Bis sechs etwa", gab ich Auskunft.
"Und das 'Nachtlicht'?"
"Auch etwa bis sechs."
"Ah, ja."
"Willst du denn noch ins 'Nachtlicht'?" fragte ich lauernd.
Hier kündigte sich eine Möglichkeit an, Ryan für meine Zwecke zu nutzen. Er konnte mir als Garde dienen. Und tatsächlich - Ryan und sein Freund Junan wollten ins "Nachtlicht". Auch Carl und Dorgath kamen mit. Zum Abschied boxte ich Xentrix kräftig, und er boxte zurück.
Im "Nachtlicht" war kaum noch jemand. Sazar stand hinterm DJ-Pult. Die Musik war matt und gemäßigt. Ich sah die Sängerin, Meta und Kappa. Rafa schien sich aufgelöst zu haben. Eigentlich hatte er Dienst, aber er war doch schon fort. War er geflüchtet? Gab es schon eine neue Freundin, bei der er nun schlief?
Wie immer hatte ich nur vor Einem wirklich Angst: davor, daß Rafa etwas zugestoßen war. Ich zerbrach mir den Kopf und kam zu dem Schluß, daß ich Rafa nicht helfen konnte, indem ich ihn überwachte. Wenn ich ihn überwachte, so diente das nur dazu, meine eigene Furcht um sein Leben zu lindern. Ihm selbst nützte es gar nichts, im Gegenteil; er konnte sich bedrängt fühlen. Ich entschied mich also dafür, mich nicht nach meiner Furcht zu richten, sondern nach den Bedürfnissen von Rafa. Das Schicksal brauchte mir nicht zu helfen; es sollte mir nur dabei helfen, Rafa zu helfen. So hatte es seine Richtigkeit. So fühlte ich mich besser.
Die Sängerin redete für kurze Zeit auf einer Polsterbank mit Kappa.
Niemand, schon gar nicht Kappa und die Sängerin, sollten den Verdacht haben, daß zwischen mir und Ryan ein Verhältnis bestünde. Das machte den Besuch im "Nachtlicht" für mich zu einem Balanceakt. Ryan wollte mich mit zur runden Bar nehmen, und in der Regel gehen nur Pärchen gemeinsam zur Bar. Ich folgte Ryan schließlich, allerdings achtete ich sehr auf einen Sicherheitsabstand. Ryan paßte das begreiflicherweise nicht. Doch er versäumte es, zu fragen, ob ich denn überhaupt noch zu haben sei.
Nun ging es an die Bestellung der Getränke.
"Meinst du, es gibt jetzt noch was?" fragte Ryan.
"Sicher, das gibt immer noch was", sagte ich.
Ryan wollte mich vorschicken:
"Jetzt, bestell'!"
"Das ist deine Aufgabe", meinte ich.
"Wieso, wir sind doch emanzipiert."
"Ich bin nicht emanzipiert."
"Ach, komm'!" drängelte Ryan. "Du als Frau kriegst eher noch was!"
So etwas hat auch schon Rafa zu der Sängerin gesagt, als er sich mit ihr streiten wollte. Ich ließ mich auf einen solchen Streit nicht ein und machte Miene, mich zu entfernen. Da bestellte Ryan rasch.
Ich achtete sehr darauf, wer mit wem sprach und wer sich wo aufhielt. Kappa war viel an der runden Bar. Seine Freundin war bei ihm. Ich fand keinen Hinweis darauf, wo Rafa war und wann und mit wem er gegangen war.
Ich setzte mich zu Carl und Dorgath. Ryan brachte mir ein ein halbes Glas Sekt, setzte sich neben mich und schob sein Bein an meines. Ich suchte Abstand, und das mißbilligte Ryan.
"He, was soll'n das?" kam es von ihm.
Mehrfach bat er mich, mir für ihn ein Lied zu wünschen.
"Du hast Beine zum Gehen und einen Mund zum Reden, also wünsch' dir selber was", sagte ich. "Außerdem will ich nicht an dieser ekligen Tussi da vorbei."
Die Sängerin stand wie meist vorm DJ-Pult.
"Ach, die steht da doch nur so", meinte Ryan.
Ich verließ das "Nachtlicht" mit Carl und Dorgath. Ryan und Junan blieben noch. Ryan war nörgelig, weil ich fort wollte. Doch es half ihm nichts.
Am Mittag rief mich Constri an.
"Ja", meldete sie sich; so meldet sie sich immer, wenn sie mich anruft.
Und sie berichtete:
"Derek versteckt sich gerade hinter einer Säule."
"Und, warum versteckt er sich hinter einer Säule?"
"Das weiß ich nicht. So, jetzt guckt er hinter der Säule hervor."
"Wo seid ihr eigentlich?"
"Am CITICEN."
"Ah, ja. Und Derek versteckt sich hinter einer Säule."
Constri erzählte, daß Velvet neuerdings in Dereks Firma als Praktikantin arbeitet. Sie soll ihn belästigen und zu ihm gesagt haben:
"Wenn ich dich schon nicht kriegen kann, haue ich wenigstens deiner Freundin eine 'rein."
Noch so ein Sockenschuß ...
Constri versuchte, Derek ans Telefon zu holen, damit er mit mir etwas besprechen konnte.
"Derek! Komm' ans Telefon!" rief sie im Tonfall einer Kindergartentante. "Komm'! Komm'! Telefon, komm'!"
"Er will nicht", erzählte sie mir schließlich. "Jetzt steht er gerade zwischen zwei Säulen."
Am Nachmittag hatte ich folgenden Traum:

Rafa arbeitete bei meiner Schneiderin, als Auszubildender oder Praktikant. Von der gehenüberliegenden Straßenseite aus sah ich ihn im Laden an einem Schneiderbalg herumstecken. Er hatte ein weißes Rüschenhemd an.
"Er ist allein im Laden", freute ich mich. "Ich ... allein mit ihm ..."
Ich konnte den Laden nur über einen Umweg erreichen, denn die Ampel lag ein Stück entfernt. Als ich endlich die Glastür öffnete, lief Rafa eilig in die Werkstatt hinüber. Er war mir im letzten Augenblick entwischt. Die Schneiderin kam in den Verkaufsraum mit einem Stapel spitzenbesetzter Wäsche aus Leinen. Das waren Sachen, die sie für mich anfertigte oder änderte. Ich hätte viel zu schauen gehabt, doch meine Blicke wanderten immer wieder zu der Türöffnung, hinter der sich die Werkstatt befindet.
"Es ist so schön, daß ich Rafa nun bei der Schneiderin begegnen kann", dachte ich. "Nur - jetzt, wo er hier ist, weiß er immer schon vorher, was ich mir für Kleidungsstücke ausdenke. Ich kann ihn gar nicht mehr überraschen."
Die Schneiderin nahm Platz auf einem Bänkchen, das es in Wirklichkeit nicht gibt. Über Eck stand ein niedriger Polstersessel, den es ebensowenig gibt.
"Nun, ist's fertig?" fragte ich erwartungsvoll.
"Frag' bloß nicht, ob's fertig ist", seufzte die Schneiderin. "Da draußen vor der Scheibe stehen schon die Kinder und warten darauf."
Die Kinder wollten mich unbedingt im Nachthemd sehen. Da ließ ich meinen langen Seidenrock einfach an und zog eins von den Nachthemden darüber. Dieses Hemd war das weiße Baumwollnachthemd, das ich von meiner Urgroßmutter geerbt habe.
Eine südländisch aussehende Familie kam in den Laden. Sie warteten vor dem großen Tisch beim Spiegel. Ich wunderte mich sehr, als Rafa vor mir Aufstellung nahm und mir mein Portemonnaie reichte, das ich achtlos auf dem Tisch hatte liegen lassen.
"Ich will Ihnen nur sagen, Sie sollen Ihr Portemonnaie wieder einstecken", empfahl mir Rafa mit gespieltem Akzent.
Er ahmte die Aussprache der fremden Familie nach.
"Rafa ... also", raunte ich tadelnd, während er schon wieder das Weite suchte.
Bei der Schneiderin lief Musik. Die Familie war eben gegangen, da begann ein Stück von ECO. Rafa stellte sich vor den Spiegel und tanzte. Ich tanzte neben Rafa und schaffte es kaum, meinen Gesichtsausdruck zu beherrschen. Das Lächeln und Lachen überkam mich mit einer Gewalt, wie sie das Wasser hat, das an einem Wehr in die Tiefe stürzt.
Meine seltsame Kleidung war an sich zum Tanzen gar nicht geeignet. Ich trug außerdem meine Alltagsschuhe. Dennoch ging das Tanzen recht gut, zumal das Stück vom Rhythmus her nicht besonders anspruchsvoll war.
Mir gegenüber tanzte ein Mädchen, das konnte nicht richtig die Bahn halten und stieß dauernd gegen mich. So mußte ich nach hinten ausweichen, fast bis an die Glastür. Das Mädchen ging nach dem Stück aber fort. Rafa setzte sich auf den Polstersessel. Die Schneiderin saß noch immer auf dem Bänkchen und konnte die Ereignisse verfolgen.
Ich strahlte Rafa an, und er warf mir bedeutungsschwere Blicke zu. Es war ganz er, wie ich ihn kenne, dieses Mal mit Pferdeschwanz und ohne Schminke.
"Hey - hey!" rief ich und zupfte an dem Widerstrebenden.
Schließlich nahm ich mir sein schweres Bein und zog daran.
"Wenn du jetzt zutrittst, fliege ich da hinten in die Ecke", sagte ich zu Rafa und zeigte nach hinten oben.
Das war ein Hinweis darauf, daß er mich loswerden konnte, wenn er nur wollte. Doch anscheinend wollte er nicht. Ich zog immer weiter an dem Bein, bis Rafa vom Sessel fiel und auf dem Teppichboden landete. Nun winkelte ich sein Bein an und drehte es über das andere, so daß Rafa auf die Seite zu liegen kam. Ich hatte nämlich vor, mich auf ihn zu setzen, und das geht am besten, wenn der Betreffende auf der Seite liegt.
"Balgen kann ich; das habe ich mit meiner Schwester geübt", erzählte ich Rafa.
In diesem Augenblick griff er nach meinen Achseln, um mich durchzukitzeln. Ich quiekte, denn ich sah kommen, daß das ein ungleicher Kampf wurde. Und ich wachte auf.

So ermutigend meine Träume sind, sie entfernen sich doch nie vom Boden der Tatsachen. Rafa flieht vor mir, und das kommt in den Träumen deutlich zum Ausdruck.
Abends hatte ich außer Laura, Malda und Brinkus auch Violet mit ihrer dreieinhalbjährigen Tochter Sheena zu Gast. Sheena ist im Fragealter, sie sucht nach Lernstoff und lernt dabei auch zweifelhafte Begriffe. Einmal hat sie ihre Mutter in der U-Bahn als "Kadaver" bezeichnet.
Brinkus aß Sheena ihr letztes Ferrero-Rocher weg. Als Sheena bemerkte, daß die Schokoladenkugel fehlte, war sie entsetzt. Brinkus winkte mit Geld und wurde von Violet gerügt:
"Komm' bloß nicht an mit Geld! Willst du das Kind verderben?"
Als Violet mit Sheena heimgefahren war, kamen noch Rikka, Seth, Constri und Derek. Ich fragte Derek, weshalb er am Mittag nicht ans Telefon gekommen sei.
"Darum", sagte er und grinste verlegen.
"'Darum' ist keine Antwort", tadelte ich. "Warum bist du denn nun nicht ans Telefon gekommen?"
"Der Wind war so stark! Da wäre mir der Hörer weggeweht!"
"Aber Constri konnte den Hörer ja auch halten. Warum konntest du den denn nicht halten?"
"Weiß ich nicht!"
Dieses kindliche Trotzen kommt bei Derek öfter vor. Ich habe Constri Gelassenheit empfohlen, und das hat Erfolg. Neulich etwa ging Constri mit Derek von "Elizium" nach Hause, da setzte sich Derek einfach auf eine Bank und wollte nicht mehr aufstehen.
"Wenn dir die Bank so gut gefällt, dann mußt du wohl sitzen bleiben", meinte Constri.
Es kostete sie reichlich Mühe und Nerven, Derek zum Weitergehen zu bewegen. Constri kam sich vor wie "eine Mischung aus Mutter, Irrenwärter und Behindertenpfleger".
"Seltsamerweise ist Derek nie so schlimm, wenn viele Leute in der Nähe sind", erzählte Constri. "Dann schämt er sich wohl."
Im "Elizium" war es nicht so voll wie in der Nacht zuvor. Weder Rafa noch Dolf, Daria, Ivo Fechtner und die Sängerin waren im "Elizium". Ich fühlte mich zwischendurch sehr müde, weil ich Rafa vermißte. Die Sehnsucht scheint mir manchmal das Blut aus den Adern zu saugen. Ich denke, ich müßte zusammenbrechen. Doch ich kann immer weitertanzen und weitertanzen und weitertanzen.
Xentrix erfüllte alle Musikwünsche, die Laura und ich hatten; er spielte sogar zweimal "Whips & Kisses" von Call. Außerdem ...
Xentrix wurde von Laura und mir entsprechend gelobt.
Wie ich findet Laura "Song of the Wind" außergewöhnlich für Project Pitchfork. Wie ich mag sie das Stück, weil es voll "schöner Traurigkeit" ist. "Song of the Wind" erinnert mich an Rafa, weil er es in der "Halle" gespielt hat und ich es durch ihn kennengelernt habe. Es erinnert mich auch an meine Zugfahrten nach BO. Ich hörte es, als ich im Winter an SHG. vorbeifuhr, dieser Miniaturstadt, in der nicht einmal der Interregio hält. Rafa lebt dort, und ich konnte nicht zu ihm. Ich wollte trauern und wußte nicht, wie.
Ein anderes Stück, das ich auf diesen Zugfahrten hörte, ist "Programm not informatif" von SA 42. Es läßt mich denken an meine Sehnsucht und an ihre Unerfüllbarkeit. Ich wollte zu Rafa und durfte es nicht. Ich konnte mit ihm keinen Spaziergang in der trüben Nachmittagssonne machen. Ich kann nicht leben mit ihm, mich nicht freuen mit ihm und nicht trauern mit ihm.
Mit meinem Kommilitonen, dem Grünen Sega, der rotblonde Haare hat und nur grüne Sachen trägt, habe ich mich über Menschen unterhalten, die durch Mißbrauch oder Mißhandlungen in der Kindheit geschädigt sind. Sega kennt solche Menschen von seiner Arbeit in der Psychiatrie. Ich erzählte von meinen Gedanken und Erfahrungen im Hinblick auf die Täter-Opfer-Beziehung. Bei diesen Theorien geht es darum, daß die Grenzen zwischen Täter und Opfer unscharf werden. Ein Mensch, der von einer Übermacht mißhandelt wird, kann den Täter nicht strafen. Täter und Tat bleiben unfaßbar. Es kann dazu kommen, daß das Opfer die Schuld auf sich selbst lädt und nun sich anstelle des Täters bestraft, damit eine Bestrafung überhaupt möglich wird. Das Ergebnis ist, daß der Mißhandler unbehelligt bleibt und der Mißhandelte doppelt mißhandelt wird, durch den Täter und durch sich selbst.
Vergeltung muß sehr wichtig sein für die Menschen. Es scheint um die Suche nach einer inneren Gerechtigkeit zu gehen, einer inneren Weltordnung.
Was die Täter betrifft, so fällt mir auf, daß deren Weltsicht häufig ebenso verdreht ist wie bei den Opfern. Sie fühlen sich vielfach wirklich in keiner Weise schuldig. Je gefühlsärmer die Täter sich zeigen, desto grausamer sind oft deren Taten und desto weniger merkt man ihnen an, welche Schuld sie auf sich geladen haben. Sie gehen ihren bürgerlichen, angepaßten Weg, und der Umwelt fällt nicht auf, daß sie sich in ihrer freien Zeit mit dem Foltern wehrloser Opfer beschäftigen. Das betrifft meistens Täter, die Familienangehörige mißhandeln und mißbrauchen. Sie bleiben fast immer unerkannt und ungestraft, während bei den Opfern dauerhafte seelische Behinderungen entstehen.
Vor allem wenn Täter und sogar Taten unbekannt bleiben und man sich an nichts erinnert und keine Richtung findet, in der man suchen soll, geht es darum, Beziehungen aufzubauen, in denen man ein Gefüge entstehen läßt, das es erlaubt, Unfaßbares faßbar und veränderbar zu machen. Rafa und ich können uns gegenseitig füreinander zur Verfügung stellen, um etwas gemeinsam zu begreifen und so umzubauen, daß wir beide unser Schicksal in der Hand haben. Täter und Taten werden unwichtig und verlieren ihre Bedeutung und ihre Macht.

In einem Traum hat Rafa meine Hände gegriffen, und da verwandelte er sich in einen Grundschullehrer und ich mich in ein Kind. Ich kehrte zurück in die Zeit, als ich sieben war und es in der zweiten Klasse nicht aushielt und in die dritte überwechselte.
Weil Rafa erschienen war, dachte ich mir, nun müßte alles gut werden, und ich vertraute auf mein Schicksal.

Verkannt von Lehrern und anderen Erwachsenen, abgestempelt wegen einer zu lebendigen Phantasie, einem zu wachen Geist und einem zu belastenden Schicksal ... Rafa ist es nicht besser gegangen, als sein Vater gestorben war. Ich denke, wir könnten gemeinsam einen wichtigen Teil unserer Vergangenheit verarbeiten, wenn Rafa das nur will.
Eine Dame aus dem Chor, den meine Mutter dirigiert, hat von ihrem Mann erzählt, der viel geraucht hat und daran auch gestorben ist - Krebs. Ich meinte, wenn ich mitbekäme, wie mein Mann sich selbst gefährdet und zerstört, es würde mir keine Ruhe lassen, ich müßte um sein Leben kämpfen.
"Oder man verbindet sich gar nicht erst mit so jemandem", kam es von meiner Mutter.
"Wenn man jemanden liebt, gibt es kein Zurück", entgegnete ich. "Liebe ist eine Einbahnstraße."
Ich mußte an meine Sorge um Rafa denken, der schwer nikotinabhängig ist.
Brinkus hat am Telefon erzählt, daß er am vergangenen Samstag mit Daria im "Nachtlicht" gewesen ist. Rafa war am DJ-Pult, mit lose herunterhängenden Haaren, in einem weißen Muskelshirt. So viel Haut zeigt er sonst nicht; ich hätte das gerne gesehen.
Rafa soll mit keinem Mädchen geredet haben. Meta war da, auch die Sängerin, die soll viel getanzt haben und - laut Brinkus - "so richtig geil, so richtig zum F...en" ausgesehen haben.
Laura hat kürzlich erzählt, daß Fedor ihr seine Liebe beteuert hat; jetzt hingegen hält er Abstand und läßt kaum noch von sich hören. Laura meint, sie habe die Hoffnung schon aufgegeben.



Als Carl und ich an einem Freitag Ende September ins "Nachtlicht" kamen, hieß es plötzlich, man müßte seine Taschen am Eingang abgeben. Das habe ich in den vergangenen elf Jahren erst einmal erlebt - vor wenigen Wochen im "ZMK". Die Türsteher behaupteten jedoch, das sei in allen Discos so. Ich mußte das Nötigste in den Manteltaschen unterbringen, mehr schlecht als recht. Ich werde mir etwas einfallen lassen. Nicht nur ich, auch andere empfinden die Regelung als schikanös. Seltsamerweise wurden nicht alle Gäste aufgefordert, ihre Tasche abzugeben. Laura durfte ihre mit hineinnehmen. Das Abgeben verliert dadurch jeden möglichen Sinn. Genoveva meinte:
"Gleich bei Rafa beschweren."
Doch das konnte ich nicht.
"Er hat Redeverbot, wenn er eine Freundin hat", erklärte ich, "und ich weiß nicht, ob er eine hat. Er muß also kommen."
Nichtsdestoweniger habe ich die feste Absicht, mit Rafa über diese Angelegenheit zu reden. Mit Kappa würde ich auch gern darüber reden, doch der verträgt Kritik so schlecht. Ich möchte versuchen, zunächst im "Elizium" das Thema anzusprechen.
Als ich im "Nachtlicht" auf die Tanzfläche kam, lief "Soldier Soldier" von Spizzenergy. Ich tanzte mit Laura. Wir wählten unseren Platz an der Hauptbar, von dem aus man sehr schön hinters DJ-Pult sehen kann. Das DJ-Pult ist nur ein paar Schritte entfernt. Die Sängerin war dort nicht; sie saß an der mit Grablichten geschmückten runden Bar auf der anderen Seite der Tanzfläche. Sie hatte dieses Mal kein besonderes Outfit. Stattdessen waren viele andere Leute da, die sich fein gemacht hatten, etwa Marilene im mattroten Brokatkleid. Das Kleid hat Ärmel mit lang auslaufenden Spitzen und eine angeschnittene Schleppe. Auch Gerrit war da und ein großes plastikähnliches Mädchen aus HH.; es trug ein wuchtiges blondes Haarteil.
Rafa war ebenfalls schick. Er stand am DJ-Pult wie der Kapitän auf der Kommandobrücke. Er hatte eine Kapitänsjacke an, mit Schulterklappen und Silberknöpfen. Darunter trug er ein weißes Hemd und eine schwarze Kravatte. Passend dazu hatte Rafa eine Schirmmütze auf, unter der seine Haare verschwanden; nur eine Strähne schaute hervor und hing ihm ins Gesicht. Er war sauber rasiert, auch über den Ohren, und trug winzige Creolen. Leider hatte er seine Augen hinter einer getönten Brille versteckt.
Rafa rauchte viel und trank auch recht viel Bier.
Daria saß mit uns vor der Hauptbar, mit Laura, Genoveva, Carl und mir. Ich stand dicht bei Daria, doch schnitt ich sie; ich sah sie nicht an und sprach sie nicht an.
"Sie muß den Anfang machen", sagte ich zu Laura, als sie wissen wollte, ob es zwischen Daria und mir wieder liefe. "Sie hat den Fehler gemacht, und jetzt muß sie ihn auch ausbügeln."
Ivo Fechtner war nicht im "Nachtlicht", ebensowenig Dolf. Dafür waren Adi und sein Freund Jensen gekommen und fühlten sich im "Nachtlicht" ganz wohl. Ich redete öfters mit ihnen. Es freute mich, daß es mir an Gesellschaft nicht mangelte.
Saverio war auch da, mit seiner Freundin Edna, die trotz ihrer tonnenähnlichen Figur im Dessous geht, und mit der ebenso dicken May, die jedoch ihr Übergewicht zum Teil unter einem langen Kleid versteckt. Saverio und Carl hatten Streit auf dem Schulweg, und deshalb herrschte zwischen den beiden Funkstille.
Rafa spielte unter anderem "Saltarello" von Dead can dance und die mittelalterlich klingende Version von "Lord of Ages", später dann auch "Song of the Wind" von Project Pitchfork. Rafa machte danach eine Durchsage:
"So, wir haben auch ein Geburtstagskind. Jochen Hockerfuß hat Geburtstag. Er wird sechzehn Jahre alt."
Kichernd erklärte ich Laura, daß der Sockenschuß in Wirklichkeit Hockerfuß heißt.
Ich war eben wieder zu meinen Leuten an die Bar gekommen, da fiel mir auf, daß sehr dicht hinter mir jemand stand, so dicht, daß er mich berührte. Ein Blick, ein Griff, und ich hatte Rafa im Arm. Leider war er immer noch bebrillt. Er riß aber nicht meine Arme von sich. Stattdessen hielt er mir die Videokassette hin, die er sich bei mir ausgeliehen hatte. Er hielt sie quer und vor der Brust, ganz ordentlich, ganz fein.
"Oh! Du hast ja dran gedacht!" rufe ich freudig und voll Staunen.
"Ich denke an alles!" sagt Rafa stolz.
Ich lecke seine Wange ab und küsse sie. Als er zurückweicht zum DJ-Pult, wird er von mir noch einige Male über die Wange gestreichelt. Ich kraule ihn auch noch im Genick.
Für einen Augenblick gehe ich nach oben, um die Videokassette in meine Tasche zu tun.
"Gut drauf aufpassen", gemahne ich den Türsteher. "Wenn die geklaut wird, kracht's."
Als ich wieder unten bin, ist Rafa auch schon wieder bei meinen Leuten an der Bar. Er redet mit Carl. Ein Mädchen steht dabei. Ich sehe Rafas Rücken und schlinge gleich von hinten meine Arme um seine Taille und lehne mich an ihn.
"Hetty, wann hat der Jochen Geburtstag?" fragt mich Rafa und dreht sich halb um.
"Der hat erst im Oktober", antworte ich. "Der hat jetzt noch gar nicht."
"Und wie alt wird er?"
"Ach ... ich glaube, so dreißig, einunddreißig."
"Siehste", sagt das Mädchen zu Rafa.
"Also doch", sagt Rafa zu dem Mädchen.
Ich schließe meine Linke um Rafas Handgelenk und greife mit der Rechten seine Hand.
"Oh, schmeckt das gut", sage ich schwärmerisch und lecke an seiner Hand herum. "Das schmeckt so gut!"
Dann beiße ich in die Hand. Während Rafa flieht, fasse ich noch ein Stück weit in seinen Ärmel.
"Guck' mal, wie schnell der wieder weg ist!" staunt Laura über Rafas eilige Flucht.
Den Platz hinterm DJ-Pult verläßt Rafa von da an kaum noch. Kurz nachdem ich ihn gebissen habe, kommt er mir auf dem Weg zur Toilette entgegen, und da kann ich noch einmal "Hi!" sagen und die Arme um ihn legen. Später jedoch hält er stets einen Sicherheitsabstand ein, wenn er an mir vorbeigeht, und er dreht sich auch nicht um zu mir.
An meinem eigenen Verhalten kann ich erkennen, ob Rafa berührt werden will oder nicht. Es kommt vor, daß Rafa dicht bei mir steht und mit mir redet, und ich stelle fest, daß ich nie die Hand nach ihm ausstrecke. Dann kommt es auch wieder vor, daß Rafa abweisend tut, und ich beobachte, daß ich ihn regelrecht mit Zärtlichkeit überfalle. Rafa gibt mir anscheinend unterschwellige Signale, eine Anleitung für den Umgang mit ihm.
Ich bin gerade mit Genoveva im Gespräch, als ich unverhofft zu einem Sauren eingeladen werde.
"Du stehst hier gerade so, da mußt du auch einen Sauren mittrinken", sagt zu mir ein schlanker Junge mit auffällig geschminkten Augen.
Er gibt eine ganze Runde aus.
"Bist du nun die Ballerina, oder hast du auch einen anderen Namen?" fragt mich der Junge.
"Ich heiße Hetty."
"Ich bin Calvin."
Calvin lebt in H., wird jedoch bald in BS. Geoökologie studieren. Er findet, daß ich nicht wie eine Medizinerin aussehe.
"Hast du sowas eigentlich mal gemacht, ich meine, Ballett?" möchte er wissen.
"Ja."
"Das merkt man", meint Calvin. "Und du willst, daß man das merkt."
"Das gar nicht unbedingt", erwidere ich. "Es ist nur praktisch. Man hat dadurch ein Bewegungsrepertoire, aus dem man schöpfen kann."
Calvin balgt sich ein wenig mit Laura herum, und dabei fängt er sich von ihr einen ziemlichen Kratzer ein, mitten auf der Brust. Calvin ist laut Genoveva ein Charmeur, und ich finde das bestätigt. Calvin will von fast allem Weiblichen etwas. Mit mir will er eine Art Ballett vollführen, und er stellt sich ganz gut an, doch er rückt mir für meine Begriffe zu sehr auf den Leib. Ich springe ihm dauernd davon, und schließlich meint Calvin, er sei mir wohl zu wild. Ich stimme ihm zu und trippele "in Sicherheit".
Ich finde es schön, umgarnt zu werden, doch ich muß wieder "balancieren". Rafa darf nie mißtrauisch werden. Außerdem will ich Rafa lange genug ansehen, und deshalb darf ich Calvin und die anderen nicht zu lange ansehen.
Es gibt auch noch eine Runde Sauren für alle, und so bekomme ich noch ein zweites Gläschen. Meta serviert mit freundlichem Lächeln. Sie sieht mich nicht anders an als die anderen. Vielleicht weiß sie nichts von Rafa und mir. Ihrem sonstigen Verhalten zufolge scheint sie sich jedenfalls weitgehend von Rafa gelöst zu haben.
Rafa spielt noch "Cantique" von Die Form und "Love is a Kind of Mystery" von den Invisible Limits. Jahrelang habe ich "Love is a Kind of Mystery" in keiner Discothek mehr gehört, obwohl es sehr tanzbar ist.
Nach einiger Zeit setzt Rafa die Brille ab. Ich kann endlich seine Augen sehen, wenn auch nicht aus nächster Nähe. Er macht ein gequältes Gesicht, als May und Edna zum DJ-Pult kommen und ihn etwas fragen. Er geht auch kurz mit den beiden nach oben, als gäbe es dort etwas zu regeln.
Einmal sieht Rafa mich vom DJ-Pult aus an; er lächelt und nickt leicht. Mir fällt auf, daß Rafa oft den Kopf hin und herwirft. Möchte er gern etwas tun, das er sich nicht gestatten kann? Haben ihm Furcht und Unsicherheit einen Halsstrick angelegt?
Gegen vier Uhr erscheinen Kappa und Cyrus im "Nachtlicht"; in der "Halle" ist Feierabend. Kappa geht gleich zu Rafa hinauf, und Rafa fängt an zu reden wie ein Wasserfall. Es ist wie nach einem Dammbruch. Ich klappe meinen Fächer zusammen und beobachte das Gespräch sorgsam. Dabei versuche ich zu erraten, um was es geht. Der Gesichtsausdruck von Rafa ist der eines Kindes, dem man etwas getan hat und das nun sein Leid klagt.
Als Kappa vom DJ-Pult kommt, macht er Telleraugen, wie Rafa sie macht, wenn er nicht von mir berührt werden will. Vielleicht gewöhnt sich Kappa Rafas mimische Maskerade an.
Kappa geht an mir vorbei und hält inne. Er dreht sich zu mir und winkt mir flüchtig zu; er lächelt dabei ein wenig. Ich winke zurück und lächle ebenfalls.
Was hat Kappa an mich denken lassen? Haben Rafa und Kappa jüngst über mich gesprochen?
Etwa um halb fünf beginnt ein ruhiges Stück, das ich eher nichtssagend finde. Die Sängerin geht auf die Tanzfläche. Sie ist nicht lange allein dort. Rafa kommt, wieder mit Brille, und tanzt schräg gegenüber von ihr. Er ist mir zugewandt. Ich kann ihn von Kopf bis Fuß betrachten. Er hat die schmal geschnittene "Designerhose" an, die mir so gut gefällt. Seine Bewegungen wirken unsicher auf mich. Das wundert mich nicht; Rafa tanzt selten genug. Es stört mich sehr, daß er mit der Sängerin auf der Tanzfläche ist. Ich habe den Verdacht, daß seine neunte Beziehung mit ihr in allernächster Zeit ins Haus steht.
Gegen fünf Uhr geht Rafa zur runden Bar und redet einige Minuten mit der Sängerin. Er nimmt ihr Kinn in die Hand, und dann nimmt er auch ihre Hand. Gleich danach geht Rafa wieder zum DJ-Pult. Dennoch ist mir das eindeutig zuviel, wenngleich sich Rafa die ganze Nacht hindurch nicht um die Sängerin gekümmert hat. Ich weiß, daß wenige Minuten genügen, um aus Rafa und der Sängerin wieder ein Paar zu machen. Die Sängerin wartet beharrlich seit Wochen, und sie bleibt auch im "Nachtlicht" fast immer bis zum Schluß, wohl in der Hoffnung, Rafa mitnehmen zu können. Ich möchte mit ihr kein "Wettwarten" veranstalten. Ich gehe mit Carl heim.
An meinem Schreibtisch falte ich das "Nachtlicht"-Programm auseinander, das ich mir mitgenommen habe. Ich sehe noch ein weiteres Foto aus der Serie, die Rafa und Kappa in den Herrenhäuser Gärten gemacht haben. Rafa lächelt auf diesem Bild. Ein Arm liegt um Kappas Schultern, der andere ist ausgestreckt.
In der folgenden Nacht war ich im "Elizium".
Das melancholische "Sumerland" habe ich vor vier Jahren im Dezember immer gehört.
Gerrit war da, mit dem "Plastikmädchen" aus Hamburg, und es waren auch noch einige andere da, die ich am Vortag im "Nachtlicht" gesehen hatte. In einer der kurzen "Tanzpausen" sprach ich Xentrix an auf die neuesten Zustände im "Nachtlicht":
"Wußtest du schon, daß in einigen Discotheken neuerdings den Gästen am Eingang die Taschen weggenommen werden? Das habe ich in elf Jahren Ausgeherfahrung einmal erlebt, und das war kürzlich im 'ZMK'. Und jetzt ..."
"Welche Discothek?" fragte Xentrix. "Sag' mir den Anfangsbuchstaben!"
"'N'."
"Ich dachte schon, 'Z'!"
"Warum 'Z'?"
"'Zwielicht'!"
"Und - was hältst du davon?"
"Frag' mich nicht - ich bin befangen!"
"Es ist gut; ich wollte nur sagen: Ich hoffe, daß ihr euch hier im 'Elizium' nicht auch noch so einen Schwachsinn einfallen laßt."
"Dazu sind wir viel zu dekadent!" meinte Xentrix.
Später fand ich Cyrus bei Xentrix oben, der sich mit ihm am DJ-Pult abwechselte. Auch Cyrus sprach ich an:
"Wußtest du schon, daß den Gästen im 'Nachtlicht' neuerdings am Eingang die Taschen weggenommen werden?"
"Wie jetzt?" fragte er.
"Ja, wochenlang konnte man seine Tasche mit ins 'Nachtlicht' nehmen, und jetzt werden den Gästen auf einmal die Taschen weggenommen", erzählte ich. "Und ich brauche meine Tasche. Ich dachte, ich fall' vom Glauben ab."
"Und welchen Sinn hat das?"
"Das ist es ja; es hat überhaupt keinen. Erstens werden nicht allen Gästen die Taschen weggenommen, sondern nur mal dem, mal dem. Und zweitens - wer unbedingt einen Molotow-Cocktail ins 'Nachtlicht' schmuggeln will, der schafft das auch so."
"Stimmt."
"Echt - das ist eine Unverschämtheit. Das 'Elizium' läuft seit fünf Jahren problemlos, und die Gäste haben immer ihre Taschen mit 'reingenommen."
"Ja, das müßte Kappa ja auch wissen. Ich versteh' das nicht."
"Eben, das müßte Kappa aus fünf Jahren 'Elizium'-Erfahrung wissen."
"Ja, da muß ich mit Kappa nochmal reden."
"Das würde mich sehr freuen. Ich sage - es ist ein guter Rat von mir an Kappa. Ich habe mit meinen Leuten schon geredet, und die sagen auch, wir brauchen unsere Taschen. Ich meine, da kann man dann jedesmal hochrennen, wenn man sich seinen Kajal holen will ... Ich kann nur sagen, die im 'Nachtlicht' werden sich einen Haufen Gäste vergraulen."
"Ja, da muß ich mit Kappa mal reden."
"Und dann noch freche Türsteher, die meinen, sie könnten einen anpöbeln, weil man seine Tasche mit 'reinnehmen will. Ich sage - es ist ein guter Rat von mir."
Ich hoffe, daß Cyrus wirklich mit Kappa redet und daß das ein ermutigendes Ergebnis hat. Ich habe die Geschichte im "Elizium" allen Leuten erzählt, die ich kenne. Sie fanden die Regelung befremdlich, ja, lächerlich.
"Kappa soll nur so weitermachen", sagte Chantal. "Dann ist der Laden bald dicht."
Sie hat selbst schon schlechte Erfahrungen mit den "Nachtlicht"-Türstehern gemacht. Als Kappa Chantal und ihre neun Begleiter aus dem "Nachtlicht" warf, versuchten die Türsteher nicht, zu vermitteln und Frieden zu stiften. Stattdessen sagten sie hämisch zu den Hinausgeworfenen:
"Wir merken uns eure Gesichter!"
Eta glaubt, daß es im "Nachtlicht" noch lange kein Ende hat mit den Anmaßungen und Ausfälligkeiten der Betreiber. Ich teile ihre Vermutung, weiß ich doch, daß Kappa sich oft versteigt. Der unsichere, oft angegriffene Außenseiter Kappa pendelt zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühlen. Mal wirbt Kappa eifrig und aufrichtig um seine Gäste, mal betrachtet er die ganze Welt als Feind und mäht wie ein Amokläufer alles nieder, was ihm in den Weg kommt.
Gerrit überbrachte Laura eine Botschaft von Fedor. Er traf Fedor vor einer Woche am Samstag in HH. Fedor soll mit einem Mädchen unterwegs gewesen sein, daß er auch mit nach Hause nahm. Zu Gerrit sagte Fedor, Laura sei das Spiegelbild seiner Seele. Laura geht nun davon aus, daß zwischen ihr und Fedor Schluß ist.
Gegen Morgen ging Laura noch mit einem blondlockigen Mädchen ins "Nachtlicht", das Salome heißt. Salome fand die Sache mit den Türstehern ebenfalls befremdlich.
"Guck' dir doch Tessa an", meinte sie. "Die rennt doch auch immer mit ihrer Tasche zur Toilette. Was soll die denn machen?"
Carl und ich wurden von Eta und Wilco nach Hause gefahren. Auf dem Weg zum Auto kamen wir an einem Schaukasten vorbei von einem Fotoatelier. Ein Portrait von Kappa hängt da, der sich dem Atelier einst als Modell zur Verfügung gestellt hat. Das Bild dürfte einige Jahre alt sein. Kappas Haare sind darauf noch kürzer und noch nicht schwarz gefärbt. Er sieht kindlicher und etwas schüchtern aus und auch noch gesünder.
Laura hat später erzählt, als sie mit Salome im "Nachtlicht" war, soll Rafa nachlässig gekleidet gewesen sein und dauernd seine Schutzbrille auf und abgesetzt haben. Ob er mit der Sängerin wieder zusammen ist, war für Laura nicht zu erkennen. Die Sängerin soll wieder eher unauffällig gekleidet gewesen sein und viel getanzt haben. Einmal soll das ausgesehen haben, als wollte sie einen Ball ins Tor schießen, einmal so, als würde sie zu einem Kopfsprung ansetzen, einmal auch soll sie Schwimmbewegungen gemacht haben. Rafa soll auch einmal getanzt haben, zu einem NDW-Stück.
Daria soll Laura ausgefragt haben, wie es im "Elizium" gewesen sei und wer dort gewesen sei. Sie soll nach vielen Leuten gefragt haben, auch nach mir. Sie soll immer wieder betont haben, sie finde das "Nachtlicht" besser. Das hörte sich für mich an, als wenn Daria wieder ins "Elizium" gehen möchte und sich nicht traut.
Daria soll später Laura gegenüber recht abweisend geworden sein.

Derek soll einen Traum gehabt haben von Constris ehemaligem Freund Cyd. Er wetteiferte mit Cyd, wer von Constri mehr Zungenküsse bekommen hat.

Eine Geschichte, die ich geträumt habe, handelte von einer Frau namens Elizabeth, die die Hoffnung auf den Mann ihres Lebens nie aufgab, obwohl sie genug Gründe gehabt hätte. Elizabeth blieb treu, und schließlich erwartete sie von dem Mann ein Kind; Julia sollte es heißen. Der Mann brachte eine CD mit Booklet heraus. Eines der Stücke - "Aus dem Blumengärtchen" - bewegte sich zwischen Industrial und alter Kirchenmusik und gefiel mir sehr. Ein anderes Stück hatte im Booklet eine Widmung. Das Stück galt Elizabeth und war gleichzeitig ein Heiratsantrag an sie und ein Dank für ihre Treue. Das konnte nun jeder lesen. So hatte es sich Elizabeth immer von dem Mann gewünscht - ein Heiratsantrag als offenes Bekenntnis zu ihr und dann die Hochzeit.
Es gab jedoch Widersacher, die Elizabeth entführten, weil sie sie von dem geliebten Mann trennen wollten. Wie es weiterging, erfuhr ich nicht, weil ich geweckt wurde.

In einem anderen Traum geriet ich in einen Paternoster voller Sekretärinnen jenseits der Lebensmitte, die nun in diesem Aufzug die Mitte ihres Dasein gefunden hatten. Sie fuhren mit rasender Geschwindigkeit nach oben und dann wieder nach unten. Ich schaffte den "Ausstieg"; ich gesellte mich nicht zu den Sekretärinnen.

Laura und ich gingen am letzten Septembertag zunächst in die "Halle". Es sollte eine Veranstaltung namens "Electronic Inferno" stattfinden. Ich war neugierig darauf, ob das so sein würde wie die EBM-Nächte. Am Eingang warteten Laura und ich noch eine Weile. Wir beobachteten den Saal. Es sah nicht sehr voll aus. Wir waren uns nicht sicher, ob es sich lohnte, hineinzugehen. Der Türsteher beobachtete unser Zögern und ließ uns kostenlos durch. In der Tat gibt es auch nette Türsteher.
Die "Halle" ist neu zurechtgemacht worden. Am Lichtstern über der Tanzfläche hängen jetzt Schwarzlichtröhren, die es angenehm dämmerig machen. In der Ecke rechts neben dem DJBalkon steht eine Rutschbahn. Im Geiste sehe ich Rafa da schon rutschen.
Es wurde bald voller. Auch Talis und Ellen kamen.
Kappa hatte sich etwas Seltsames ausgedacht. Er stellte eine neue "Band" vor, die aus den Kellnerinnen des "Nachtlicht" besteht, darunter auch "unsere liebe Meta Donhausen", wie Kappa sie nannte. Alle Mädchen mußten sich auf der Bühne in eine Reihe stellen.
"In der Hoffnung, daß ihr jetzt nicht alle weglauft - hier ist ein Instrumental der Band Muschi Electric", kündigte Kappa an. "Die Mädchen wollen noch nicht singen."
Angeblich soll das Stück bei der Halloween-Party des "Nachtlicht" mit Gesang vorgetragen werden. Ich wunderte mich über den ausgesucht peinlichen Namen der Band.
Gegen halb zwei gingen Laura und ich ins "Nachtlicht". Ich hatte mir eine Tasche mit den wichtigsten Sachen unter den Mantel gehängt und eine andere mit weniger wichtigen Sachen über den Mantel. Die sichtbare Tasche konnte ich abgeben. Seltsamerweise sagten die Türsteher kein Wort mehr vom Taschenabgeben. Ich nahm alles mit hinein.
Im "Nachtlicht" war Rafa nicht. Und er war anscheinend auch nicht dagewesen, bevor ich kam. Malda war schon um halb eins im "Nachtlicht" und hat Rafa nicht hinterm DJ-Pult gesehen. Daß die Sängerin ebenfalls fehlte, gibt mir einen Hinweis darauf, daß Rafa mit ihr wieder etwas angefangen haben könnte.
Daria verhielt sich Laura gegenüber abweisend; sie sagte ihr "Hallo", wandte sich dann aber gleich wieder anderen Leuten zu. Meta kam noch ins "Nachtlicht", und gegen vier kamen auch Kappa und Cyrus.
Die Fledermaus auf der Tanzfläche ist schon wieder sehr blaß geworden. Es wird Zeit, daß Rafa sie nachmalt.
An der runden Bar fiel mir eine Leuchttafel auf, deren Bemalung mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls von Rafa stammt. Man sieht darauf eine Fledermaus - mit den für Rafa typischen gedrungenen, an den Enden fein auslaufenden Formen - und die Aufschrift "Blue Devil! 8,-".
Malda ist bei der Arbeitsstelle, die ihr zugesagt war, wieder nicht genommen worden. Es steht zu bezweifeln, daß Malda überhaupt fähig ist, zu arbeiten und sich ihr Brot zu verdienen.



Am nächsten Abend stand ich in meinem Wohnviertel an der Stadtbahnhaltestelle, da rief jemand:
"Willst du ins 'Elizium'?"
Es war ein Junge namens Gideon, der mit seinem Auto vorbeikam. Er nahm mich mit und setzte mich bei Laura ab. Ich kannte Gideon bisher noch nicht, doch er kannte mich, vom Sehen, wie so viele.
Laura hatte Nudelsalat gemacht. Sie war auf die Idee gekommen, als ich sie anrief und ihr sagte, daß ich erst eine halbe Stunde später da sein würde. Ich lasse mich gerne bewirten, vor allem, wenn es so etwas Leckeres ist wie dieser merkwürdig zubereitete Nudelsalat. Es waren Kidneybohnen darin, nach Gefühl und Zufall ausgesuchte Gewürze und noch Einiges mehr.
Im "Elizium" schlug ich Luie vor, einen Techno-Freitag zu machen, an dem nur "Brett" gespielt wird. Ich mag den Weichspül-Techno für die Massen gar nicht. Mir gefällt das, was an der Schnittstelle zur Electronic Body Music liegt und hart, melancholisch und kühl ist.
Xentrix kam an und begrüßte mich, und wir lästerten ein wenig. Xentrix störte es, daß Kappa gerade eine Depeche Mode Party gab und ihm dadurch ein paar Gäste wegfing.
Constri, Derek, Talis, Ellen, Lenni und Lena waren auch da. Derek betrinkt sich inzwischen nicht mehr so wie früher. Talis und Ellen waren vorm "Elizium" noch kurz im "Nachtlicht" gewesen. Ellen berichtete mir, daß Rafa hinterm DJ-Pult stand und daß die Sängerin tanzte und nicht mit ihm redete. Und sie berichtete mir noch etwas anderes, wovon mir gleich das Wasser im Mund zusammenlief: Rafa sollte ein durchsichtiges Hemd anhaben! Ich beschloß, gegen vier Uhr noch mit Laura ins "Nachtlicht" zu schauen. Vorher konnte ich nicht hin; dafür gefiel mir die Musik im "Elizium" zu gut.
Ich hatte mein Schnürmieder an. Als Xentrix einmal die Treppe heruntergestürmt kam, griff er flugs von hinten mit beiden Händen nach meiner Taille und rannte dann gleich weiter.
Ich fand, daß Charlene niedlich aussah in ihrem lila Samtbody und den lila Samtstiefelchen.
"Charlene sieht so hübsch und schick aus", sagte ich zu Laura. "Wie kommt es, daß ich es bin, die immer so auffällt?"
"Na, du hast eben einen ganz besonderen Stil. Der fällt eben auf."
Saverio war im "Elizium", wieder mit seiner faßförmigen Freundin Edna. Ich kann mich nicht genug wundern über diese unfaßbar umfassende Figur. Saverio und ich tanzten zu einem schön kühlen, rhythmischen Stück. Wie das heißt, wußte Xentrix nicht, aber Saverio wußte es, denn er hatte Xentrix eine Kassette mit dem Stück gegeben. Also fragte ich Saverio nach dem Titel des Stücks. Es war doch tatsächlich "15 Minutes of Fame" von Sheep on Drugs, das ich eigentlich schon kenne.
Saverio wird zur Zeit von Carl geschnitten, als Strafe dafür, daß er Carl im Bus als "geisteskrank" bezeichnet hat.
Ich dachte darüber nach, wieviel Zeit es kostet, die wenigen Augenblicke festzuhalten, die ich mit Rafa verbringe. Wenn ich nur so viel mit ihm erlebe, wie ich aufschreiben kann, kann ich mit Rafa nicht zusammenziehen. Denn jeder Augenblick mit ihm ist mir wert, aufgeschrieben zu werden. Und wenn ich mit Rafa leben will, kann ich nicht mehr alles aufschreiben. Wenn ich es also schaffen sollte, mit ihm zusammenzukommen, muß ich weniger aufschreiben. Das fällt mir schwer. Ich will immer alles haben und behalten. Was ich mit Rafa erlebe, ist für mich sinngebend. Ich will fähig sein, beides zu bewältigen: das Leben mit Rafa und die Verewigung dieses Lebens. Und ich will nie vergessen, daß mir Rafa wichtiger ist als das Denkmal, das ich ihm setze.
Als Laura und ich ins "Nachtlicht" kamen, begann "No Remission" von Steril, ein EBM-Stück. Es ging mir gegen den Strich, daß die Sängerin ebenfalls auf der Tanzfläche war. Sie trug dunkelblaue Ponysträhnen. Sonst war ihre Kluft die gewohnte. Nein, ihre Figur finde ich wirklich nicht besonders ... und wie sie tanzt - Laura hat recht, wenn sie das mit Schwimmübungen und Torschießen vergleicht. Die Sängerin schafft es nicht, weiche und elegante Bewegungen zu machen; dazu ist sie im Wesen zu hart, zu sperrig und zu aggressiv.
Wenn sie nicht tanzte, saß die Sängerin bei der runden Bar und redete mit einem Mädchen. Laura will beobachtet haben, wie sie sich sorgenvoll an die Stirn griff.
Rafa stand fast nur hinterm DJ-Pult. Mit der Sängerin sah ich ihn nicht reden. Sie kam nicht zu ihm und er nicht zu ihr. Einmal nur sah ich die Sängerin aufs DJ-Pult zugehen. Da kam Dolf ihr entgegen und sprach mit ihr, und sie ging nicht weiter.
Rafa trug Pferdeschwanz und Stirnband. Sein Hemd war schlicht geschnitten, wie immer bis zum letzten Knopf geschlossen - und aus schwarzem Chiffon. Ich versuchte, zu erkennen, ob er unter dem Hemd etwas trug und was. Das Licht war schwach. Ich hoffte, daß Rafa noch herunterkam und daß ich ihn in Gänze und möglichst aus der Nähe betrachten konnte.
Laura ging zu Rafa und wünschte sich "Whips & Kisses" von Call. Ich stand auf dem Bühnenpodest und fächelte und lauerte auf das, was Laura über Rafas Bekleidung herausfinden konnte.
"Er hat was drunter, glaube ich", berichtete Laura.
Rafa suchte nach der CD von Call ... und fand sie. Laura und ich stürzten zur Tanzfläche. Ich tanzte auch zu den folgenden Electro-Stücken, mit einem Jungen namens Eric, den ich eben über Laura kennengelernt hatte.
Es kam nicht nur Musik, die mir und den anderen EBM-Elektro-Leuten zu Gefallen war, sondern auch Musik für die Sängerin und die übrigen "Neue Welle"-Leute. Darunter war auch ein Stück von Rafa.
"Ach, wieder irgendein Stück", dachte ich erst, als ich die Beats hörte.
Dann kam das unverkennbare Krächzen von Rafa. Ich beschloß, ihn bei der nächsten Gelegenheit zu fragen, weshalb das häßliche Gekrächze sein müsse. Schließlich kann er auch ganz hübsch singen.
Rafa verließ zweimal das DJ-Pult, aber nur kurz, und er kam auch nicht in meine Nähe. Beim ersten Mal sah ich ihn nicht, weil ich mit meinem Mantel beschäftigt war. Beim zweiten Mal saßen Laura und ich auf der Polsterbank an der Rückseite der Bühne und hatten eine gute Sicht auf Rafa. Rafa ging vorm DJ-Pult zur runden Bar. Er hatte nichts unter seinem durchsichtigen Hemd. Das Schwarze vorn in der Mitte war nur ein Besatz.
An der Bar redete Rafa kurz mit einigen Leuten, ohne sich der Sängerin zu nähern. Dann ging er wieder hoch.
"Hinterm DJ-Pult steht mein Essen", sagte ich zu Laura. "Ich will essen."
"Meinst du, du kannst ihn heute mitnehmen?"
"Nein. Ausgeschlossen. Der schafft das heute nicht."
Ich mußte lächeln und lachen. Wenn ich etwas weniger lachen mußte, sah ich zu Rafa hinüber. Ich bekam lange, stechende Blicke zugeworfen. Und wieder war ich mir nicht so ganz sicher, ob Rafa wirklich mich ansah. Dabei hatte er keine Brille auf; die setzte er sich erst später vorübergehend auf, als Kappa von der Depeche Mode Party kam und ihn hinterm DJ-Pult besuchte.
Ich wurde müder und müder, aber das hielt mich nicht vom Tanzen ab. Ich freute mich über "Love Missile" von Sigue Sigue Sputnik.
Daria stand die meiste Zeit vor der Hauptbar. Sie war zu Laura nicht mehr so abweisend wie am Freitag. Laura stellte sich gegen Morgen für ein Weilchen zu ihr, und ich stellte mich neben Laura. Dieser Platz war günstig für mich, denn ich konnte Rafa etwas mehr aus der Nähe sehen. Laura erzählte Daria, daß sie mit mir am Sonntag zu einem Industrial-Festival nach MS. fahren will.
"Oh, dann verliert der Ivo Fechtner ja fünfzig Mark", sagte Daria.
Sie erzählte Laura Folgendes:
Ein Bekannter von Ivo Fechtner war sich sicher, daß ich zu dem Festival komme. Ivo Fechtner meinte, ich käme auf keinen Fall. Er wettete fünfzig Mark, daß ich nicht da sein würde.
Jetzt werden über mich auch noch Wetten abgeschlossen. Irgendwann verwetten die Leute ihre Eigentumswohnungen dafür, daß ich Rafa nicht heirate.
Laura gab die Sache mit der Wette gleich an mich weiter und holte sich von Daria auch Antwort auf meine Rückfragen. Die Fragen konnte ich Daria nicht selber stellen, weil sie noch nicht wieder auf mich zugegangen ist. So mußten wir uns über Laura verständigen, die zwischen uns stand.
Daria hatte eine schlechte Nachricht für Laura. Ivo Fechtner hat sich neulich zwei Stunden lang mt Fedor unterhalten. Es ist inzwischen bekannt, daß Ivo Fechtner Laura haben wollte und sich ärgert, weil sie ihn nicht will. So liegt es nahe, daß Ivo Fechtner versucht, Laura bei Fedor schlechtzumachen. Ein Ergebnis von Ivo Fechtners Reden soll gewesen sein, daß Fedor zu Ivo Fechtner sagte, Laura sei egoistisch und würde Telefonterror ausüben.
Auch Rafa hat angeblich vor Ivo Fechtner schlecht über mich geredet. Und es war doch alles Unsinn. Dies rief ich Laura ins Gedächtnis.
"Nimm' bloß nicht ernst, was Fedor angeblich zu Ivo Fechtner sagt", empfahl ich ihr. "Rafa hat doch angeblich auch zu Ivo Fechtner gesagt, ich soll ihn in Ruhe lassen, und eine Woche später ist er mit mir mitgegangen. Das war also nichts als Geschwätz."
Es war bald sechs, und Laura schlug vor, heimzugehen.
"Noch ein Stück", sagte ich und blickte sehnsüchtig zu Rafa hinüber. "Ich muß mein Essen doch noch angucken. Es hat übrigens genau die richtige Eßtemperatur - siebenunddreißig Grad. Es ist nicht mikrowellenheiß und nicht kühlschrankkalt. Es ist gerade richtig zum 'reinbeißen."
Rafa plauderte mit Dolf; der war zu ihm hinters DJ-Pult gekommen. Rafa lächelte viel. Es kam mir vor, als wollte er sagen:
"Schaut mal her, wie toll Dolf und ich uns verstehen!"
Um Daria kümmerte sich Dolf nicht weiter. Es kommt nur ganz selten vor, daß ich Dolf und Daria miteinander sprechen sehe. Und auch Rafa und Dolf reden kaum noch miteinander. Ebensowenig sehe ich Daria mit Rafa oder der Sängerin sprechen. Nur Dolf und die Sängerin stecken häufig zusammen.
Rafa spielte noch "Film 2" von Grauzone, ein Stück, das früher oft im "Base" gelaufen ist. Danach gingen wir. Als ich im Mantel am DJ-Pult vorbeikam, warf mir Rafa einen Blick zu, drehte sich aber gleich wieder weg. Ich konnte seine Flanke sehen unter dem durchsichtigen Stoff.
"Durchsichtig", mußte ich auf dem Heimweg dauernd sagen. "Durchsichtig."
Und als ich im Bett lag, mußte ich vor mich hinlachen und wieder sagen:
"Durchsichtig."
Die Sängerin war noch da, als Laura und ich das "Nachtlicht" verließen. Sie ist fast immer noch da, wenn ich gehe, gleich, wie spät es ist. Sie scheint jedesmal bis zur letzten Minute auszuharren, vermutlich, weil sie Rafa mitnehmen will.
Am nächsten Abend fuhren Laura und ich mit Jason und Charlene nach MS. Das Festival fand in einer ausgebauten Fabrikhalle statt. Unten gab es einem schönen, weiß gekalkten Tanzsaal, in dem sich die Leute herzeigten. Ich sah viele aufwendige Kostüme. Einer ging mit Dreispitz, und ein Mädchen hatte ein hellrosafarbenes Tournürenkleid an, bodenlang und verziert mit schwarzen Schleifchen.
In dem Saal im ersten Stock traten die Bands auf - Deutsch Nepal, Söldnergeist und In Slaughter Natives. Das Dröhnen war infernalisch. Der wahrscheinlich längst hörgeschädigte Mischer behauptete, es sei nicht zu laut. Ganz vorn, hinter den Boxen, konnte man es aushalten und hatte obendrein noch eine gute Sicht.
Zwischen den Auftritten unterhielt ich mich mit den Leuten, die ich kannte. Dag aus HB. erinnerte mich daran, daß es nach der nächsten "Crucifiction"-Veranstaltung bei ihm ein Spaghettiessen gibt. Ich freue mich schon darauf. Nova aus HH. gab mir die Kassetten mit den Esplendor GeometricoRaritäten, die er mir aufgenommen hat. Es sind die Alben "Comisario de la Luz" und "Arispejal Astisaro". Das erste Stück von "Comisario de la Luz" - "Comisario de la Luz I" - hat mich schon bei der letzten "Klangwerk"-Veranstaltung rettungslos begeistert. Es hat keine Melodie und einen komplexen elektronischen Rhythmus, mit metallischen Klängen, elegant wie ein leiser Teppich, und erinnert an laufende Maschinen.
In MS. gab es ausgesuchtes Merchandise, und ich konnte noch mehr Rares erwerben. Ich kaufte eine Kassette mit "Shiftwork" von P.A.L ("Am 13. Oktober 1948 fuhr Adolf Hennecke seine Schicht, die historisch wurde.")
Philipp war auch in MS., mit seinem Freund Nino. Fedor wäre fast gekommen - das erzählte Nova. Überraschend soll sich ein Fototermin mit einem Mitglied von Laibach ergeben haben, wodurch Fedor verhindert war. Laura bat Nova, Fedor von ihr zu grüßen und ihm auszurichten, sie habe sich gut amüsiert.
Ivo Fechtner lief mit einer Fotokamera herum und wirkte sehr wichtig.
Gerrit hat sich etwas Hübsches aus schwarzem Samt gemacht, ein langes Kleid mit Jacke. Die Jacke ist weit, gerade geschnitten und hat viele doppelte Knöpfchen. Ich zog an den Stegen, die je zwei Knöpfchen verbinden, und sagte:
"Jetzt hast du endlich mal was Neues an. Ich dachte schon, du hast nur ein Kleid."
"Drei", sagte Gerrit.
Er glaubte, ich hätte etwas getrunken, weil ich so aufgedreht war. Ich versicherte ihm, daß ich nichts gehabt hatte außer Bitter Lemon und Cola.
In Slaughter Natives veranstalteten auf der Bühne einen Feuerzauber. Der Sänger nahm Spiritus in den Mund und blies ihn gegen eine brennende Fackel. Das loderte wild.
"Wenn er das mit Rebenschoppen gemacht hätte, wäre er explodiert", meinte einer von Dags Bekannten.
"Was ist denn Rebenschoppen?" fragte ich.
"Aldiwein", antwortete Dags Bekannter. "Gibt es im Tetrapack für eine Mark neunundvierzig. Hat zehn komma fünf Prozent."
"Ein Verschnitt, wie?"
"Ein Verschnitt aus den Weingärten der Europäischen Gemeinschaft", sagte Dag. "Aber ich will nicht wissen, was da sonst noch drin ist ..."
Auf der Rückfahrt hielt Jason vor zwei Dixiklos.
"Ih!" schrie Charlene. "Du willst doch nicht aufs Dixiklo gehen!"
"Na, ist besser, als in die Büsche zu gehen", meinte Jason. "Im Dixiklo ist man immer noch relativ sicher davor, daß einem Exkremente an den Schuhsohlen kleben bleiben."
Nun waren aber die Türgriffe von den Dixiklos zugeklebt, und Jason wagte es und ging in die Büsche.
Charlene gab ein paar Schauermärlein über Toiletten zum Besten. Sie ist dieses Jahr mit Jason bei dem großen Pfingstfestival in L. gewesen. Die beiden haben zusammen mit hunderten von Festivalbesuchern auf einem Zeltplatz übernachtet. Dieser Zeltplatz ist ein ehemaliger Sandfußballplatz und nicht weiter ausgebaut. Wer duschen wollte, mußte auf den Wasserwagen warten. Ansonsten standen da noch vier Dixiklos. Die sollen am zweiten Tag bis zum Rand voller Exkremente gewesen sein. Die Exkremente sollen sich so aufgetürmt haben, daß die Klodeckel nicht mehr schlossen. Es soll pro Klo und Tag eine Rolle Toilettenpapier gegeben haben.
Charlene, Jason, Laura und ich haben festgestellt, daß wir alle vier kurzsichtig sind. Jason ist zusätzlich noch auf einem Ohr taub. Charlene verträgt - im Gegensatz zu mir - keine Kontaktlinsen und muß eine Brille tragen, wenn sie scharf sehen will. Außerdem hat sie ein Erbleiden, das zu einer Tragödie geführt hat. Früher hat Charlene leidenschaftlich gern getanzt. Sie wollte Tanz und Schauspiel sogar zu ihrem Beruf machen. Dann hat man herausgefunden, daß Charlene gar nicht tanzen darf, weil ihr Bewegungsapparat das nicht verträgt. Es war ein Schock für sie.
Schon für mich, die ich gar nicht von Beruf Tänzerin sein will, ist das Tanzen fast so wichtig wie das Sprechen. Wie muß es da erst Charlene gehen? Sie kann in der Disco zwar noch tanzen, aber so wie ich dürfte sie nicht tanzen. Wenn man Charlene sieht, glaubt man gar nicht, daß sie so einen Schicksalsschlag erlebt hat. Sie ist groß, schlank, hübsch und blond, ist immer schön angezogen und hat einen netten Freund, und man könnte meinen, daß es ihr an nichts fehlt.
Jason erzählte von Charlenes Garderobe:
"Sie hat viele tolle Kleider, die sie nie anzieht."
Charlene trägt fast nur Hosen, weil sie findet, daß Kleider nicht zu ihrem Tanzstil passen. "Ich tanze immer breitbeinig", sagte sie, "und das sieht jungenhaft aus."
"So ähnlich tanze ich auch oft", meinte ich, "und ich trage nur Röcke."
"Ja, aber bei dir sieht das mehr aus wie Ballett, und da geht das."
"Ja, aber man bewegt sich auch von ganz allein schon anders, wenn man Röcke trägt."
"Ach, Röcke - da muß man immer die Beine übereinanderschlagen."
"Das kann aber auch Spaß machen, so kokett durch die Gegend zu stolzieren."
Während unseres Festivalbesuchs in MS. ist Carl im "Nachtlicht" gewesen. Es gab eine Achtziger-Party. Rafa stand die meiste Zeit hinterm DJ-Pult und legte alles Mögliche und Unmögliche aus der Neuen Welle auf. "Achtziger" - damit sind für Rafa nicht die progressiven Bands wie die frühen Severed Heads, die frühen Test Dept., Chrome und Suicide gemeint. "Achtziger" ist für Rafa gleichbedeutend mit allem, was kindlich, flach und zuckersüß klingt. Rafa soll hinterm DJ-Pult wieder ein wenig herumgetanzt haben. Ein durchsichtiges Hemd hatte er dieses Mal nicht an. Er trug eine schwarze Jacke mit viel Silber und dazu Kniehosen und weiße Strümpfe.
Carl gegenüber blieb Rafa auf Distanz. Mit der Sängerin sah Carl ihn wieder nicht sprechen.
Laura rief mich am nächsten Abend kurz an, um mir einen Brief von Daria vorzulesen, den sie beim Aufräumen gefunden hat. Dieser Brief wurde am 04.07.1994 in SHG. abgestempelt. Ehe Laura ihn mir vorlas, wollte sie wissen, was ich denke - ob Daria wohl eher dafür ist, daß Rafa und ich zusammenkommen, oder ob sie es lieber hat, wenn die Sängerin Rafas Freundin ist.
"Es war immer zweigeteilt", sagte ich.
In dem Brief entschuldigt sich Daria zunächst dafür, daß sie sich bei Laura nicht gemeldet hat. Auch mir versprach Daria oft, sich zu melden und tat es meistens nicht.
Der folgende Absatz des Briefes lautet in etwa so:
"Rafa und Tessa sind wieder seit ein paar Tagen zusammen, worüber ich mich total freue. Ich traf die beiden in SHG. Na, hoffentlich trennen sie sich nun nicht mehr.
Mit Dolf und mir ist wieder alles super. Wir hatten uns gestritten, aber das war mehr ein privater Grund. Ich hätte es echt nicht verkraftet, wenn wir uns getrennt hätten, weil ich Dolf nämlich total liebe."
Seltsam ist nur, daß sich Dolf und die Sängerin in der Öffentlichkeit nicht um Daria kümmern.
Nach dem Brief zu urteilen, hat es noch eine neunte Beziehung von Rafa und der Sängerin gegeben. Wieviele gab es dann mit Meta?
Nach meinem neuesten Wissensstand war Rafa mit Meta im Juni zusammen und mit der Sängerin Anfang Juli. Für Rafa war das zweckmäßig, denn er hatte am 01.07. einen Auftritt und konnte die Sängerin gebrauchen. Mitte Juli muß es mit ihr schon wieder zuendegewesen sein; sonst wäre Rafa am 16.07. kaum mit Meta ins "Elizium" gegangen. Was war nun Ende Juli und im August? Und was war zwischen diesen ganzen Verhältnissen?
Daria hat am 12.08. behauptet, Rafa sei noch mit Meta zusammen. Von einem zwischenzeitlichen Verhältnis von Rafa und der Sängerin sagte Daria nichts. Was ist dran an Darias Aussagen?
Brinkus und Malda waren bei mir zu Besuch. Beide kennen Siddra. Ich glaube, Siddra hat mit dem Sockenschuß in der letzten Zeit weniger zu tun. Sonst würde Malda wissen, ob der Sockenschuß wirklich nach BI. gezogen ist, wie er es vor einiger Zeit angekündigt hat. Derek sieht den Sockenschuß des Öfteren bei "Kaufwelt" zwischen den Regalen herumstreunen. Es könnte sein, daß der Sockenschuß in der Nähe eine Behausung hat.
Ich erzählte Malda, wie es kam, daß der Sockenschuß die Szene verließ. Sie wußte das noch gar nicht. Der Sockenschuß hatte verbreitet, er sei im "Elizium" ohne Grund zusammengeschlagen worden. Außerdem hatte er an der Behauptung festgehalten, ich würde ihn verfolgen.
Brinkus und U.W. hatten an dem Abend, als das Festival in MS. stattfand, auch ins "Nachtlicht" gehen wollen. Aber der Türsteher ließ U.W. nicht hinein. U.W. berief sich auf Rafa, doch es half nichts. Dabei ist U.W. Mitglied der Szene und mit Rafa bekannt. Rafa hat U.W. sogar persönlich zur inoffiziellen "Nachtlicht"Eröffnung eingeladen. Ich möchte Rafa den Vorfall gern berichten. Ich hoffe, daß der Türsteher eines Tages ersetzt wird.
Wenn Brinkus Daria besucht, pflegt sie ihn zu bewirten. Sie reden über allerlei, doch fast nie über Rafa und mich. Daria soll zu diesem Thema nur gesagt haben, Rafa und ich müßten das selber wisssen.

In einem Traum stand ich vorm Frühstückstisch, und Rafa sagte:
"Mensch, jetzt setz' dich doch endlich mal hin!"
So ähnlich hat er das auch in Wirklichkeit gesagt.

In der Nähe von BI. wurde eine Discothek eröffnet, die "Tangente". Fedor war dort Gast-DJ. Er legte zusammen mit drei anderen DJ's auf. Ich fuhr mit Laura hin.
In der "Tangente" fand ich es hübsch, doch es war sehr kalt. Zu dem Klassiker "08.15 to Nowhere" von Vicious Pink konnte ich mich etwas warmtanzen. Was Fedor auflegte, entsprach am meisten meinem Geschmack. Allerdings spielte Fedor auch "Cyberspace" von Rafa, in dem die Sängerin immer wieder "Cyberspace!" quäkt. Vielleicht findet er W.E nun doch nicht mehr so schlecht.
Fedor sprach mit allerlei Leuten, vorwiegend Mädchen. An Laura schien er sich nicht heranzutrauen. Sie machte es ihm aber auch nicht gerade einfach. Sie holte sich einen Jungen her und turtelte angeregt mit ihm. Später holte sie sich noch einen anderen zum Plaudern. Es war Vince, ein blonder Schönling, der gelegentlich auch im "Elizium" ist. Vince hat eine Freundin, Veronique, doch das hinderte ihn nicht daran, bei Laura nachzufragen, ob sie wohl mit Fedor noch zusammen sei.
"Was soll ich antworten?" fragte mich Laura um Rat.
"'Ich hoffe doch'", empfahl ich.
Während Laura mit Vince beschäftigt war, ging Fedor endlich so nah an mir vorbei, daß ich seinen Blick einfangen konnte. Er hielt inne.
"Hallo", sagte ich.
"Ach - hallo", erwiderte Fedor meinen Gruß.
"Na, wie geht's?" erkundigte ich mich.
"Ach - so zwiespältig."
"Und? Sind Frauen immer noch Sch...?"
"Alle Frauen sind Sch...!"
"Oh, dann bin ich ja auch Sch...? Danke für das Kompliment!"
"Na, Männer sind ja auch Sch..."
"Rafa ist nicht Sch..."
"Nein, Rafa ist nicht Sch...", gab Fedor mir recht.
"Nein, Rafa ist nicht Sch...", wiederholte ich lächelnd.
"Na, dann ist der vielleicht eine Ausnahme", lenkte Fedor ein.
"Und ich bin auch nicht Sch...", ergänzte ich.
"Na, dann bist du halt auch eine Ausnahme."
"Aber - wenn die Männer Sch... sind, dann bist du ja auch Sch...", schloß ich.
"Na, im Grunde sind die Menschen Sch...", verallgemeinerte Fedor.
"Das denke ich aber nicht, daß alle Menschen Sch... sind."
"Alle Menschen sind Sch...!"
"Warum sind denn alle Menschen Sch...?"
"Ach, wenn ich dir das erklären würde, dann würde das drei Stunden dauern", erwiderte Fedor. "Und da habe ich jetzt keine Lust zu."
"Aach, so redet Rafa auch immer! Wenn ich den was frage, sagt der auch oft:
'Wenn ich dir das erklären würde, würde das eine halbe Stunde dauern, und da habe ich jetzt keine Zeit zu.'
Warum findest du eigentlich, daß du Sch... bist, hm?"
"Ich bin Sch...!" ruft Fedor mit einem Lächeln, wie es Rafa hat, wenn er unerreichbar und nichtswürdig wirken möchte. "Und ich bin stolz darauf, Sch... zu sein!"
"Du findest das also gut, Sch... zu sein."
"Na, jeder braucht ja seine Superlative."
"Ja, aber gibt es da denn nicht bessere Superlative? Findest du Sch... schön?"
"Na, das ist doch eine Definitionsfrage."
"Ach, es kommt darauf an, wie man 'Sch...' definiert."
"Ja."
"Was verstehst du denn unter 'Sch...'?"
"Ach - ich muß jetzt hoch zum DJ-Pult", entschuldigt sich Fedor. "O.k.?"
"O.k."
Ich konnte hier das gleiche Dialograster anwenden wie bei Rafa. Ein solches Raster könnte Laura verwenden im Umgang mit Fedor. Ich bezweifle aber, daß sie stark und konsequent genug ist, um es zu nutzen.
"Das ist wieder dein tiefschwarzer Pessimismus", tadelte ich Laura, als sie ihr "Es hat keinen Sinn mit Fedor" vor sich hertrug. "Du gibst Fedor keine Chance."
Kurz vor drei Uhr kamen Laura und ich in einen Wartesaal auf dem Bahnhof in BI. Dort war es angenehm warm. Wir holten uns vom Automaten Capuccino.
"Der Capuccino ist heiß", sagte ich. "Wenn du zu ungeduldig trinkst, verbrennst du dir die Fresse. Fedor ist auch heiß. Du darfst nicht zu ungeduldig mit ihm sein, sonst verbrennst du dich."



Am Freitag ging ich mit Carl und Laura ins "Nachtlicht". Anscheinend hängt es vom Türsteher ab, ob man seine Tasche mit hineinnehmen darf oder nicht. Dieses Mal durfte man es wieder nicht. Ich hatte mir vorsorglich ein Tuch in die Manteltasche gesteckt. In dieses Tuch knotete ich meine Sachen und gab dann die fast leere Tasche ab. Damit waren die Türsteher einverstanden; allerdings mußten sie mich auslachen, vielleicht zur Strafe dafür, daß ich das Verbot umging. Ich weiß nicht, wie ich Rafa erklären soll, daß dieses Verbot ein Angriff gegen den Privatbereich der Gäste ist. Vielleicht lacht er mich auch nur aus. Mit Kappa will ich gar nicht erst reden. Er wertet jede Kritik als Angriff; die Panik macht ihn blind, und er schlägt um sich und kann Freunde und Feinde nicht mehr auseinanderhalten. Kappa ist wahrscheinlich sein ganzes Leben lang ausgelacht und angegriffen worden.
"Jetzt greife ich mal an", denkt er nun wohl.
Und er drischt auf Unschuldige los.
Laura erzählte von ähnlichen Erfahrungen und Prägungen. Weil sie sich viele Jahre lang nur wehren mußte, kann sie sich nicht mehr vorstellen, daß jemand in anderer als feindlicher Absicht auf sie zugehen könnte. Enttäuschungen haben sie pessimistisch gemacht. Sie verbaut sich Freundschaften, indem sie die Menschen vor den Kopf stößt - mit der Begründung, es habe doch alles keinen Sinn. Auch über Fedor sagt sie immer wieder:
"Ich werde ihn vergessen!"
Ich stellte mich mit Carl und Laura vor die Hauptbar und beobachtete Rafa. Er trug ein weißes Rüschenhemd, die rote Weste und seine Pluderhosen. Er hatte ein Stirnband um. Ich sah Rafa alsbald vom DJ-Pult herunterkommen. Er ging zur runden Bar. Auf Rückweg warf er mir einen ebenso kurzen wie gezielten Blick zu. Etwas später zog Rafa seine Sehhilfe hervor und einen Lappen. Umständlich und gründlich putzte er sich hinterm DJ-Pult die Brille. Dann setzte er sie auf.
Die Sängerin hatte ihren Platz an der runden Bar und tanzte auch in der Nähe dieser Bar.
Ich war gerade auf der Toilette, da hörte ich lautes Klimpern und Rasseln. Es gibt außer der Sängerin kaum jemanden, der die Arme voller Armreifen hat. Und tatsächlich - als ich in den Vorraum kam, stand da die Sängerin und zupfte sich die Haare zurecht. Ihr hatte man nicht die Tasche weggenommen. Sie besaß wohl Sonderrechte. Welcher Art diese Sonderrechte waren, konnte ich unschwer erraten. Die Sängerin pflegt mir immer dann zur Toilette zu folgen, wenn sie mit Rafa zusammen ist. Sie durfte wohl ihre Tasche mitnehmen, weil sie mit Rafa ins "Nachtlicht" ging.
Das Bild rundete sich, als Laura mir mitteilte, was sie soeben von einem Jungen aus MD. gehört hatte. Am letzten Freitag war Rafa deshalb nicht im "Nachtlicht", weil er in MD. auftrat. Der Junge aus MD. soll gesagt haben:
"Ich kenne die von W.E. Die sind voll nett."
Da sagte Laura:
"Ich kenne eigentlich nur Rafa und Dolf."
"Ach, Tessa kenne ich auch", erwiderte der Junge. "Die ist auch voll nett."
Die Sängerin wird in MD. dabeigewesen sein. Also ist sie mit Rafa zusammen.
Insgesamt war Rafa öfters unten und redete mit allerlei Leuten. Mehrmals konnte ich beobachten, wie sich Rafa an die runde Bar zu der Sängerin setzte. Währenddessen ließ er das DJ-Pult allein. Die Sängerin kam auch einmal zum DJ-Pult, wahrscheinlich um sich ein Lied zu wünschen. Dies sind für mich weitere Hinweise darauf, daß Rafa mit der Sängerin sein neuntes oder zehntes Verhältnis begonnen hat.
Ellen findet die Sängerin abstoßend.
"Die hat richtig böse Augen", meint sie.
Die Sängerin hat braune Augen. Laura hat sie beim Schminken beobachtet.
"Die zieht sich den Eyeliner immer ganz 'rum und dann noch bis zur Nase, deshalb sieht die so fies aus", erzählte sie.
Es kam ein Stück von Die Form. Als ich Laura bat, Rafa nach dem Titel zu fragen, zierte sie sich. Ich erfuhr den Titel schließlich von jemand anderem; das Stück heißt "Teufel im Leib".
Rafa spielte wieder "Lord of Ages". Nun wußte niemand Titel und Interpret dieser Version - außer Rafa. Laura wollte mir den Gefallen aber nicht tun, zu Rafa zu gehen. Sie begründete das damit, daß es ihr peinlich sei, wegen soetwas den DJ zu fragen. Außerdem sei sie Egoist, und daran sei nichts zu ändern.
"Du machst es dir bequem", sagte ich zu ihr. "Du ruhst dich auf deinen Schwächen aus. Damit machst du dich selber unglücklich. Als Mensch ist man auf die Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen. Man muß füreinander da sein."
"Ich bin achtzehn Jahre lang ohne Hilfe ausgekommen", erwiderte Laura.
"Du bist aber nicht mehr in deiner alten Schule", sagte ich. "Du mußt dich umstellen. Natürlich ist das nicht einfach."
"Ich denke immer, ich werde enttäuscht."
Wir sprachen über unsere Vergangenheit als Außenseiter in der Schulklasse und darüber, daß man kein Sozialverhalten erlernen kann, wenn man einsam ist. Laura will aber ihre Fehler behalten. Sie will Einzelgänger und Egoist bleiben. Sie will sich nicht "eingeknotet" werden in ein Miteinander.
"Dann will ich auch nie wieder hören, daß du mir etwas vorjammerst", sagte ich.
Ich erklärte Laura, daß ich es nicht dulden kann, wenn meine Leute nicht hilfsbereit sind:
"Ich verlange das einfach, daß ich mich auf meine Leute verlassen kann."
Daria war mit blondierten Haaren gekommen. Sie hat Laura erzählt, daß sie sich die Haare noch vollends weißbleichen will.
Daria soll im "Nachtlicht" kostenlosen Eintritt haben.
"Was, du mußt bezahlen?" soll sie Laura gefragt haben.
"Natürlich muß ich bezahlen."
"Ich muß nie bezahlen."
Ich fand in der Ecke zwischen Rondell und Rückwand Steini, Adi, Jensen, Thilo, Steinis Schwester und noch einige ihrer Freunde, und während ich mit ihnen sprach, ließ ich meinen Blick aus der Ferne in den von Rafa tauchen. Rafa hatte gerade keine Brille auf. Adi holte Sauren und stellte mir auch ein Gläschen hin. Thilo ließ sich Rafa zeigen; er wußte noch nicht, wie er aussieht. Thilo entnimmt dem, was er über Rafa und mich gehört hat, daß ich Rafa überlegen bin.
Es gab noch mehr Vorfälle mit den Türstehern. Steini kennt zwei Mädchen, von denen die Türsteher verlangt haben, den Personalausweis zu zeigen.
Die Türsteher spielen auf aggressive Art ihre Macht aus. Sie sind demnach für ihre Aufgabe ungeeignet und für das "Nachtlicht" rufschädigend.
Carl weiß jetzt, wo man Rafa begegnen kann: in dem engen Flur vor den Toiletten. Von dort aus kommt man nämlich auch hinter die Bar, und hinter der Bar holt sich Rafa immer sein kostenloses Bier ab. Carl stand in diesem Flur, und Rafa kam des Wegs. Zuerst wirkte er unnahbar. Es schien, als wollte er an Carl vorbeigehen. Carl sah ihn aber mit offenem Blick an, und da hielt Rafa in seinem Schritt inne. Er wendete sich Carl zu und grüßte:
"'n Abend."
Carl lächelte. Rafa fragte:
"Alles klar?"
"Ja, doch."
Da setzte Rafa seine Sehhilfe ab, zückte die rosa Brille und setzte sich diese auf.
"Oh - Brillenwechsel", bemerkte Carl.
"Ja, ich hab' doch zwei", kam es von Rafa.
Zu dieser Zeit begann ein merkwürdiges Stück, das ich nicht recht einordnen konnte. Rafa bat Carl:
"Kannst du mir einen Gefallen tun und zu dem Stück tanzen?"
"Was ist denn das für ein Stück?" fragte Carl.
Rafa nannte ihm den Titel. Carl zögerte aber noch.
"Ach ... ist wohl doch nicht so gut ...", winkte Rafa ab und ging auf die Tanzfläche.
Dort waren noch einige andere Leute, auch die Sängerin. Aber Rafa tanzte nicht mit ihr. Er tanzte vor dem Bühnenpodest. Ich stand wieder vor der Hauptbar und konnte ihn von vorne sehen. In seinen Bewegungen war etwas Zögerndes, Unsicheres. Das Tanzen schien ihn seelisch anzustrengen. Er schien sich nur mit Mühe durch das Stück zu schleppen. Immer wieder mußte der Kopf ins Genick geworfen werden, eine Geste, die wohl ausdrücken soll:
"Ich stehe über euch. Ich gucke von oben auf euch herunter. Ihr könnt mir gar nichts anhaben."
Auf dem Weg zum DJ-Pult warf mir Rafa noch einen kurzen, gezielten Blick zu. Hinterm DJ-Pult setzte er die rosa Brille ab. Ich mußte lächeln, wenn ich in sein Gesicht sah.
Gegen drei Uhr wurde es leer im "Nachtlicht". Laura verabschiedete sich. Ich ging noch einmal ins Bad und schminkte mich nach. Als ich herauskam, stand Rafa in dem engen Flur und sprach mit einigen Leuten. Er hatte sich so hingestellt, daß ich sehr dicht an ihm vorbeigehen mußte. Das hatte zur Folge, daß ich Rafa ins Genick griff und ihn kraulte. Ich hielt im Gehen nicht inne. Erst, als ich vor dem Rondell angekommen war, wagte ich einen Blick zurück. Rafa unterhielt sich nun vor der Hauptbar. Er stand mir zugekehrt, und ich nehme an, daß er mich beobachtete.
Rafa spielte noch "Dead and buried" von Alien Sex Fiend, zu dem ich gerne tanze.
Gegen halb vier legte Rafa das schier endlose Stück "Bela Lugosi's dead" auf und ging zur runden Bar, um mit einem Jungen ein ausgedehntes Gespräch zu führen. Ich sah Rafa wild gestikulieren. Wenn er redet, ist das oft ein Drama.
Carl und ich gingen heim.
Nun hat Rafa also wieder Kontakt zu Carl aufgenommen, und auf besondere Weise - er hat Carl um etwas gebeten. Eine Bitte ist auch ein Geschenk. Eine Bitte zeigt Vertrauen.
In der Nacht zum Samstag schlief ich schlecht. Ich mußte einige Stunden lang vor mich hinweinen, weil ich die Angelegenheit mit den Türstehern nicht verkrafte. Das liegt nicht in erster Linie an den Türstehern selber. Es liegt vor allem an meiner Furcht, daß Rafa nicht den Wunsch hat, mir gegen die Türsteher zu helfen. Gegen den Sockenschuß hat er mir geholfen, doch vielleicht will er so etwas nicht noch einmal für mich tun.
"Halt' uns den vom Leib", habe ich damals zu Rafa gesagt, als uns der Sockenschuß im "Elizium" angriff. "Das ist eine Feuerprobe."
Die Angelegenheit mit den Türstehern ist in gewisser Hinsicht auch eine Feuerprobe. Sie zeigt an, wie Rafa damit umgeht, wenn ich mich in meiner Menschenwürde verletzt fühle.



Am Abend hatten Das Ich im "Elizium" eine Autogrammstunde. Carl und ich kriegten davon nichts mehr mit, weil wir erst nach ein Uhr da waren. Dennoch hatte ich einen Nutzen von dieser Veranstaltung. Kappa und Rafa bekamen dadurch ein Alibi, um wieder einmal im "Elizium" vorbeizuschauen.
Ich hatte schon getanzt und mehrere Leute begrüßt, da kam mir Kappa im Seitengang entgegen. Wir winkten uns zu und sagten uns "Hallo".
Rafa stand im hintersten linken Eckchen an der Bar. Er trug seine Haare wie in der Nacht davor, war brillenlos und hatte seinen langen, taillierten Wintermantel mit den Silberknöpfen übergezogen, der ihm so gut steht. Ich sah ihn lächelnd an. Er könnte das bemerkt haben.
Ich unterhielt mich mit Laura im Seitengang, als Rafa vorbeikam. Ich kraulte ihn an der Schulter. Rafa ging hoch zu Xentrix, und während ich tanzte zu "Mercy" von Dive, ging er wieder zur Bar. Dann spielte Xentrix "Whips & Kisses" von Call. Rafa stellte sich zu Ivo Fechtner in den Seitengang. Dort hatte er eine sehr schöne Sicht auf mich; er konnte mich von vorn betrachten. Nach "Whips & Kisses" kamen "Fiebertranz" von Force Dimension und "Metal Field" von SPK, und ich tanzte gleich weiter. Als ich irgendwann einmal nicht tanzte, holte ich meine Tasche, weil ich mich nachschminken wollte. Auf dem Podest, hinter meinen Sachen, stand Rafa und redete mit einem Jungen.
"Alles klar", sagte Rafa zu ihm, und das klang nach Abschied.
Ich kraulte Rafa in der Taille. Dann nahm ich meine Tasche und ging zu den Toiletten. Dort erzählte ich Eta und Violet von den Türstehern und ihren sinnlosen Schikanen.
Als ich wieder in den Tanzraum kam, war Rafa verschwunden und mit ihm Kappa. Constri berichtete mir Folgendes:
Sie hatte dabei zugesehen, wie ich mit der Tasche fortging. Eben da soll Rafa vom Podest gestiegen und mir nachgestürmt sein. Hinter der Säule bei der Bar waren Rafa und ich für Constri nicht mehr zu sehen. Rafa verließ den Tanzraum etwa eine halbe Minute nach mir.
Rafa ist mir schon letztes Jahr im Sommer ein Stück weit nachgerannt, als ich zu den Toiletten ging. Damals war er mit der Sängerin zusammen. Er hatte wohl den Wunsch, mir nachzulaufen, durfte mich aber nicht erreichen. Dieses Mal nun könnten die Dinge ähnlich gelegen haben.
Obwohl ... solange Rafa im "Elizium" war, sah ich die Sängerin nicht, und als Rafa fort war, sah ich sie. Sie blieb nicht sehr lange. Einmal war sie oben bei Xentrix. Ich frage mich, ob die Sängerin im "Nachtlicht" war und wann. Ist es möglich, daß Rafa sein neuntes oder zehntes Verhältnis mit ihr schon beendet hat? Oder haben die beiden nur einen ihrer zahlreichen Streits?
Rafa hat Carl übrigens die Hand gegeben und ihm "Hallo" gesagt. Er hält die Verbindung aufrecht.
Hennike ist mit Sasch nicht mehr zusammen. Nun trägt sie Kleider und Haare wie die Sängerin, hat auch einen Nasenstecker und versucht, so zu tanzen wie die Sängerin. Ich finde, daß das alles einfach scheußlich aussieht. Die Sängerin hat mehrere Nachahmerinnen, doch das, was sie trägt, hat sie selbst nicht erfunden.
Malda nannte mich "Blümchen" und erklärte, sie sei in mich verliebt.
"Da hast du wohl wieder gut getankt", vermutete ich.
Malda bekommt solche Anwandlungen meistens nach Alkoholgenuß. Sie meinte unter anderem, nun sei ja mein Schatz da ...
"Er war da", berichtigte ich. "Er ist schon wieder weg. Ich habe ihn aber zweimal gekrault."
Xentrix spielte auch "Crowning Glory" von Will. Ich lobte ihn für das schöne Programm. Und ich erzählte ihm, daß wohl nur einer von den "Nachtlicht"-Türstehern den Gästen die Taschen wegnimmt.
"Also, bei uns passiert sowas nicht", beruhigte mich Xentrix. "Da brauchst du keine Angst zu haben. Unserer ist zwar mürrisch, aber er ist in Ordnung."
"Das denke ich auch", sagte ich. "Er läßt die Leute in Frieden. Und wenn einer Ärger macht, wirft er ihn 'raus. Ich fand das so schön, wie ihr dem Sockenschuß Hausverbot erteilt habt."
"Ja, der hat die Bullen geholt, und das war in einer Phase, in der das nicht so prall aussah für das 'Elizium'. Da wurde der Störenfried eben - entfernt."
Laura wollte mir auf keinen Fall versprechen, daß sie mit mir am Donnerstag ins "Nachtlicht" kommt.
"Ich verspreche nie was", sagte sie.
"Das mußt du aber", entgegnete ich.
"Das muß ich nicht."
"Und wenn du Fahrschule hast, und du kommst einfach nicht?"
"Das ist doch ein Termin!"
"Und eine Verabredung ist kein Termin."
"Nein. Bei der Fahrschule geht es auch um Geld; wenn ich nicht komme, muß ich trotzdem bezahlen."
"Also hältst du Termine nur ein, wenn es um Geld geht."
"Nein. Zum Augenarzt gehe ich ja auch."
"Das heißt, die Termine, die zu deinem privaten Alltag gehören, hältst du ein, Verabredungen aber nicht unbedingt."
"Verabredungen sind zweitrangig!"
"Aha, dann ist eine Beziehung also auch nur zweitrangig."
"Nein."
"In einer Beziehung mußt du aber auch Versprechen einhalten."
"Dann fühle ich mich aber so eingezwängt."
"Weißt du, was das ist? Das ist ein klassischer Fall von Bindungsangst", meinte ich dazu.
Constri wunderte sich darüber, daß ihr Derek im "Elizium" keinen Unsinn machte. Eigentlich wäre sein "Unsinnstag" dran gewesen. Constri hat nämlich beobachtet, daß sich Derek regelmäßig am Wochenende um den 10. danebenbenimmt. Entweder trinkt er unmäßig oder er ist abweisend oder er sorgt mit einer anderen Frau für Verwirrung - oder alles auf einmal. In dieser Nacht aber war Derek richtig brav. Er tanzte sogar mit Constri. Es wäre nicht schön, wenn Derek seinen "Unsinnstag" am nächsten Wochenende hätte, denn dann haben Constri und er ihr Einjähriges.
Derek muß wieder zum Doktor, wegen seiner Nieren. Von allein geht er aber nicht hin. Constri hat das Gefühl, daß Derek möchte, daß sie Druck auf ihn ausübt. Sie sagte neulich zu ihm, nun müsse er aber wieder zum Arzt.
"Neiin!" rief er theatralischgenußvoll.
Wenn Constri Derek dazu drängt, etwas für seine Gesundheit zu tun, so ist das eine Form der Zuwendung, und das wird er schätzen.
Gegen Morgen kam Daria ins "Elizium". Sie blieb nicht lange. Sie sagte zu Laura, Ivo Fechtner würde etwas herumerzählen über Laura und ihn selbst. Laura witterte eine Lügenkampagne und versuchte, Daria aufzuzeigen, daß Ivo Fechtner oft Märchen erzählt.
Laura, die sehr auf den Pfennig achtet, hat im Laufe der Nacht ganze Berge von Gläsern eingesammelt, weil es dafür an der Theke Pfand gibt. Sie will das Geld aber nicht für die Fahrkarte zur nächsten "Klangwerk"-Veranstaltung ausgeben. Sie hat immer noch den Ehrgeiz, einen Fahrer zu finden.
Zu Hause mußte ich wieder vor mich hinweinen. Ich halte es für möglich, daß mein nächster Besuch im "Nachtlicht" der vorläufig letzte sein wird. Es ist notwendig, daß ich wenigstens mit Kappa rede, um ihm zu sagen, daß es nicht an Rafa liegt, wenn ich nicht mehr komme. Kappa soll das an Rafa weitergeben. Rafa soll wissen, daß ich immer für ihn da bin und daß er sich auf mich verlassen kann.
Laura entschied sich schließlich dafür, am Donnerstag doch mit mir ins "Nachtlicht" zu gehen. Ich weine jeden Tag wegen dem "Nachtlicht". Die Türsteher verbauen mir gewissermaßen den Weg zu Rafa.

In einem Traum fand ich elfenbeinfarbenen Spitzentüll. Als ich das Stückchen Stoff in die Hände nahm, verwandelte es sich in ein Brautkleid aus DuchesseSeide, mit Tüllunterrock und Zierschleifchen.

Laura vergleicht diesen Traum mit der Geschichte von den Haselnüssen, die man nur aufbrechen muß, und verschwenderische Kostümierungen fallen einem entgegen. Aschenbrödel verlangt so wenig und bekommt so viel.

In einem anderen Traum erfuhr ich, wenn Rafa mir mit einem Finger über das Gesicht streicht, dann heißt das "Liebe", wie eine Übersetzung in einem Wörterbuch. Rafa strich mir mit einem Finger über das Gesicht, und er hat das Anfang September, als er bei mir war, auch in Wirklichkeit getan. Auch im vergangenen Jahr hat er das schon getan.

Laura hat geträumt, daß sie mit mir durch eine Bahnhofshalle ging. Wir wollten zu einer Veranstaltung. Man zwang uns, im Bahnhof unsere Taschen in Schließfächer zu stecken. Laura mußte ein Fach am Anfang einer Reihe von Fächern nehmen; ihre Nummer war die 20. Ich mußte ganz bis zum Ende der Reihe gehen und dort ein Fach wählen. Nach der Veranstaltung hatten wir nur wenig Zeit, bis unser Zug fuhr. Wir mußten getrennt unsere Sachen holen, um Zeit zu sparen. Ich sagte zu Laura, sie solle sich nur ja beeilen. Sie ging rasch dorthin, wo ihr Schließfach gewesen war - doch man hatte gerade hier mehrere Schränke mit Schließfächern entfernt und sie hinter einer Glastür wieder aufgebaut. Laura verlor viel Zeit bei der Suche. Der Zug konnte längst fort sein. Laura befürchtete, daß ich wütend auf sie war, weil sie nicht kam, und sie wußte auch nicht, ob ich den Zug genommen hatte oder noch auf sie wartete. Endlich fand sie in dem Raum hinter der Glastür ihr Fach mit der Nummer 20. Sie wollte gerade ihre Sachen herausholen, da stürmten mehrere Leute auf sie zu. Ein Mann warf ihr vor, eine Flasche Tomatenketchup umgestoßen zu haben; außerdem beschuldigte er sie noch einer Reihe anderer Vergehen, von denen sie nichts wußte. Der Mann prügelte Laura hinaus, und sie konnte ihre Sachen nicht holen. Sie wachte auf.

In diesem Alptraum hat Laura wahrscheinlich die Sache mit den Türstehern bearbeitet.
Will Kappa die Gäste in zwei Klassen unterteilen? Soll es Stammgäste und Stamm-Stammgäste geben? Sollen die einen mehr wert sein als die anderen? In diesem Zirkus will ich nicht mitmachen.
Weit und breit scheinen das "ZMK" und das "Nachtlicht" die einzigen Szeneläden zu sein, wo sich solche Sitten eingeschlichen haben.
"Im 'Fall' gibt's das nicht", erzählte mir Ted am Telefon. "Im 'For you' haben sie damals Gesichtskontrollen eingeführt, und die Folge war, daß sie den Laden dichtmachen konnten."
Teds Auto ist kaputt. Er hat es im Sekundenschlaf in die Brombeeren gelenkt, als er nachts vom "Fall" nach Hause fahren wollte. Der Schreck sitzt ihm in den Knochen. Er muß an die Mauer neben den Brombeeren denken, gegen die er beinahe gefahren wäre.
An einem Morgen habe ich mir vorgestellt, wie ich zu Rafa sage, daß ich nicht mehr ins "Nachtlicht" kommen kann. Ich schlief ein und hörte ihn antworten:

"Aber ich will doch morgen im 'Nachtlicht' meinen Geburtstag nachfeiern, und du bist eingeladen."

Dann wachte ich wieder auf.
Carl hat den Sockenschuß in der Innenstadt gesehen. Er saß in der Bahn, und der Sockenschuß stand auf dem Bahnsteig und schaute Carl an. Tags darauf war Carl auf dem Weg von der Haltestelle nach Hause, als er hinter sich ein Fahhrad bremsen hörte. Der Sockenschuß radelte an Carl vorbei. Als Carl sich dann der Fußgängerampel näherte, kam ihm der Sockenschuß schon wieder entgegen, von dem Park her, wo unser Wohnblock steht. Der Sockenschuß fuhr an ihm vorbei und weiter über die Spielplätze.
"Auch das noch", dachte ich. "Am Ende gibt es doch wieder 'Sockenalarm'?"
Die Schneiderin hat das Halstuch fertigbekommen, das ich am Montag bei ihr bestellt hatte. Das Tuch ist aus einem Quadratmeter schweren schwarzen Rips gemacht, umrahmt mit einer schwarzen Borte. Es sieht sehr elegant aus. Wenn man je zwei Enden verknotet, könnte man denken, das Tuch sei eine Abendtasche. So schick mußte es auch werden, denn sonst hätte ich damit nicht im "Nachtlicht" umherlaufen mögen.



Laura rief am Donnerstagabend beim "Nachtlicht" an und fragte, wer denn auflegen würde. Es war ein Mädchen am Apparat, und das Mädchen fragte hinter sich in den Raum.
"Ich!" - "Ich!" - "Ich!" - "Rafa, Kappa und Ivo!" tönte es.
Anscheinend war da eine recht fröhliche Runde beisammen. Sie lachten, und ich sorgte mich. Sie wollten die freundliche, heile Welt, und ich sah die Abgründe.
Ich fuhr mit Laura zum "Nachtlicht". Am Eingang behelligten sie mich diesmal nicht. Laura und ich gingen zügig durch. Wir atmeten auf. Unten vor der Treppe sah ich Rafa an der Hauptbar. Er trug sein ganz besonders weites Rüschenhemd und die rote Weste. Das Hemd hing ihm aus der Hose und war bis über die Ellenbogen hochgeschoben. Die Weste war offen. Der Pferdeschwanz sah aus wie nur eben mal zusammengebunden. Zudem war Rafa mangelhaft rasiert. Er denkt sich wohl, daß ihn am Donnerstag ohnehin nicht viele Leute zu Gesicht bekommen und daß er sich deswegen keine besondere Mühe zu geben braucht. Obwohl ich diese Nachlässigkeit so sehr verurteile, fand ich Rafa zum Aufessen süß. Ich kann das gar nicht verstehen, es ist aber doch so.
Auf der Bank hinter dem Bühnenpodest saß Genoveva mit Daria und einigen anderen. Als ich Genoveva begrüßte, erzählte ich ihr auch gleich von den Türstehern:
"Heute haben uns die Türsteher mal ausnahmsweise in Ruhe gelassen. Sonst pöbeln sie mich an und beleidigen und belästigen mich."
"Hier im 'Nachtlicht'?" fragte Genoveva erstaunt.
"Ja, genau hier im 'Nachtlicht'!"
"Hast du dich bei Kappa schon beschwert?"
"Ach, mit Kappa kann ich schlecht reden. Der verträgt keine Kritik, und wenn ich ihm sowas erzähle, wirft er mich vielleicht 'raus."
"Red' doch mal mit Darryl", schlug Genoveva vor.
"Mit Darryl?"
"Ja. Das ist doch ein guter Freund von Kappa."
"Und wo ist Darryl?"
"Hier sitzt er."
Genoveva zeigte auf den jungen Herrn in Lederjacke, der neben ihr saß.
"Du bist Darryl?" fragte ich ihn.
"Nein", kam es.
Genoveva schubste den Jungen ein wenig und sagte mir, das sei wirklich Darryl.
"Es geht um Folgendes", wandte ich mich an ihn, "Genoveva hat mir vorgeschlagen, etwas mit dir zu besprechen, das ich eigentlich mit Kappa besprechen müßte. Ist Kappa jetzt eigentlich schon sehr breit, oder hat er noch nicht so viel getrunken? Weißt du das?"
"Du kannst das auch mit mir besprechen", bot Darryl an.
"Also - es geht um das Verhalten der Türsteher", begann ich. "Das nimmt inzwischen solche Formen an, daß ich mir überlegen muß, ob ich überhaupt noch herkommen kann ins 'Nachtlicht'."
"Das Problem mit den Türstehern ist in Arbeit", sagte Darryl sogleich.
Es klang, als würden sich laufend Leute über die Türsteher beschweren, und er hätte deswegen eine Standardantwort entwickelt. Ich fühlte mich nicht mehr allein.
"Das ist nämlich so - seit elf Jahren nehme ich meine Tasche mit in die Disco, und jetzt nehmen die sie mir weg", erzählte ich. "Und das mir als Stammgast - das ist eine Unverschämtheit. Und als ich die Sachen, die ich so brauche, in ein Tuch geknotet habe und denen die leere Tasche gegeben habe, da waren die zufrieden. Die waren mit der leeren Tasche zufrieden. Da fragt man sich doch wirklich, wo da noch ein Sinn ist."
"Wie gesagt, wir arbeiten dran", versicherte Darryl. "Von den Türstehern werden demnächst einige 'rausfliegen."
Freudig klopfte ich Darryl auf die Schulter und sagte:
"Das ist ein Wort!"
Darryl wußte aber nicht, wann damit zu rechnen ist, daß man von den Türstehern endgültig in Ruhe gelassen wird.
"Wir reden später nochmal", sagte ich zu ihm.
"Psychoburbia" von Dance or die kam und "Dead or alive" von Dive. Da mußte getanzt werden. Es waren nicht viele Leute im "Nachtlicht", doch von denen, die da waren, tanzten einige.
Ivo Fechtner stand gerade hinterm DJ-Pult. Er wechselte sich mit Rafa ab. Rafa spielte "Geile Tiere" von Geile Tiere, und danach sagte er durchs Mikrophon:
"Das ist schon lustig, daß zu diesem Stück nur Frauen tanzen!"
Vielleicht hält er Frauen für die wirklich "geilen Tiere".
Rafa spielte auch wieder "Love is a Kind of Mystery" von den Invisible Limits und "Fiebertranz" von Force Dimension. Zu diesen Stücken tanzte ich allein. Es kommt fast nicht mehr vor, daß ich zu einem Stück nur deshalb nicht tanze, weil kein anderer mittanzt.
Als ich zur Toilette ging, saß Rafa mit dem Rücken zum Gang vor der Bar. Er war in ein Gespräch vertieft. Ein langhaariges blondes Mädchen, das mit Meta bekannt ist, tippte Rafa von hinten an die Schulter; sie wollte ihn wohl sprechen. Kaum hatte die Blonde ihre Hand fortgenommen, kam ich vorbei. Ich streichelte Rafa von oben nach unten übers Genick und kraulte ihn im Nacken. Als ich von der Toilette zurückkam, saß Rafa allein auf seinem Hocker. Es war, als hätte er auf mich gewartet. Ich strich an seinem Rücken entlang. Geradeaus blickend marschierte ich dann weiter, einer unschuldigen Laufpuppe gleich. Ich nahm Platz auf der Bank bei Laura, Genoveva und Daria. Daria erzählte Laura, daß sie mit Ivo Fechtner am Samstag zu "Klangwerk" fährt. Nun ist sie es, die von Ivo Fechtner andauernd irgendwohin mitgenommen wird.
Laura hat mehr und mehr das Gefühl, sich gegen Daria verteidigen zu müssen. Daria stellt Laura viele Fragen, die Laura als stichelnd und aufdringlich empfindet. Daria weiß, daß Laura es schwer hat mit Fedor, und andauernd fragt sie sie:
"Na, und was macht Fedor?"
Gleichzeitig entmutigt Daria sie:
"Der Fedor will doch gar nichts von dir."
Auch möchte Daria genau wissen, wer alles ins "Elizium" geht, um daraus den Schluß zu ziehen:
"Na, viele gehen da ja nicht mehr hin!"
Außerdem wird Laura von Daria immer wieder gedrängt:
"Kommst du ins 'Nachtlicht'? Ach, komm' doch ins 'Nachtlicht'!"
Daria soll jetzt übrigens auf einer anderen Berufsschule sein als Laura; deshalb trifft Laura sie nicht mehr auf dem Schulhof.
Als die anderen tanzten, saß ich für kurze Zeit allein auf der Bank. Mein Blick traf den von Rafa, der in der Nähe der Toiletten an der Hauptbar saß, weit entfernt von mir. Rafa lächelte zu mir herüber. Ich mußte ebenfalls lächeln. Unsere Blicke hingen aneinander, wichen wieder zur Seite, tasteten sich aufs Neue aufeinander zu, erreichten sich wieder ...
Die Sängerin und Dolf waren nicht da. Ist Rafa nun mit der Sängerin zusammen oder nicht?
Gerrit Al-Kher war da. Er stand meistens bei Rafa. So konnte ich Gerrit erst begrüßen, als er auf die Tanzfläche kam. Ich tanzte mit ihm zu den abgründigen Industrial-Stücken "Thank your Lucky Stars" von Whitehouse und "Dark Side of the Life" von Dissecting Table. Beide Stücke sind rhythmisch und dumpf dröhnend. Rafa bekam davon nichts mit, weil er sich zurückgezogen hatte, als Ivo Fechtner ans DJ-Pult ging. Flieht Rafa vor allzu hartem, allzu schrägem Industrial?
Als er wieder an der Reihe war, spielte er "Whips & Kisses" von Call. Den Anfang veränderte er etwas, indem er den ersten Takt mehrmals wiederholte. Ich hatte das Gefühl, daß Rafa Laura und mich necken wollte.
Einmal ging Laura sich etwas wünschen. Sie wünschte sich "Eine neue Zeit" vom Liederkranz und für mich "Hope like a Candle" von Blackhouse. Rafa kommt immer ans Türlein, wenn jemand mit ihm sprechen will, nur bei Laura tut er das nicht. Wie schon Anfang September blieb er rechts am DJ-Pult stehen, während sie links am Türlein stand und ihre Wünsche zu ihm herüberschreien mußte.
"Der hat Manschetten vor dir, weil ich mit dir zu tun habe", sagte ich zu Laura.
Rafa erfüllte die Musikwünsche nicht; das kann daran liegen, daß er "Hope like a Candle" nicht dahatte und daß ihm Gedanken im Kopf herumgingen, über denen er die Wünsche vergaß.
Das "Nachtlicht"-Programm für die kommenden Wochen gab Rafa durchs Mikrophon bekannt. Ich habe noch kein gedrucktes Programm ausliegen sehen. Schaffen Rafa und Kappa es nicht, für jeden Monat ein Programm herzustellen?
Für Rafa schien "Herrenabend" zu sein. Er beschäftigte sich viel mit Kappa, der an der Bar zärtlich den Arm um ihn legte.
"Wenn die beiden nun doch schwul sind?" fürchtete ich.
Rafa hatte schon einen sehr aufreizenden Gang. Er stolzierte einher mit erhobenem Kinn, leicht angewinkelten Armen und Hüftschwung. Das kann aber auch an mir gelegen haben. Ich gehe nämlich auch so, wenn er in der Nähe ist. Und wenn Rafa mich beobachtet, kann er mir das abschauen.
Meta warf sich ebenfalls in Positur, doch nicht für Rafa, sondern für Gerrit. Die schöne "Tante Al-Kher" saß lässig auf einem Hocker an der Theke im Rondell und hatte die Füße auf einen zweiten Barhocker gestellt. Meta nahm auf der Theke Platz und beugte sich zu "Tante Al-Kher" herüber und plauderte angeregt mit ihm, ganz wie im Flirt. Gerrit schien das zu schmeicheln. Rafa war da viel frostiger und sperriger. Als Meta ihn ansprach, stand er mit dem Rücken zur Bar und blieb auch so stehen; er drehte nur den Kopf über die Schulter. Auch ließ er sich auf kein längeres Gespräch mit Meta ein. Es war, als würde ihm die Theke als Bollwerk nicht reichen, und er müßte weitere Maßnahmen treffen, um die Barfee auf Abstand zu halten.
Solange Rafa auflegte, geschah es oft, daß er nur die CD wechselte und dann wieder zu seinem Platz an der Theke ging. Er steuerte die jeweils folgende CD schon vorher aus, so daß er nur auf einen Knopf zu drücken brauchte, und das Lied begann. Einmal war Rafa so in eine Unterhaltung vertieft, daß er fast zu spät kam. Er rannte zum DJ-Pult, drückte eben noch rechtzeitig auf den Knopf und erwischte ihn beim ersten Versuch nicht ganz. Etwas Ähnliches ist Rafa kürzlich schon passiert; da rannte er ebenfalls nach dem Ende eines Stücks zum DJ-Pult und drückte mit dem Ausruf "Oops!" den Knopf. Rafa steigt dann gar nicht das Treppchen hoch, sondern er greift nur hoch.
Auch Ivo Fechtner passierte ein Mißgeschick. Nach einem Stück herrschte Stille im Saal.
"Ivo!" rief Rafa.
"Jo!" rief Fechtner.
Rafa eilte ihm zur Hilfe, und es ging weiter mit der Musik. Die Szene erweckte den Eindruck, als wenn sich Rafa und Ivo Fechtner bestens verstünden. Doch ich vergesse nicht Rafas betroffenes Schweigen, als ich ihm von Ivo Fechtners Lästereien erzählte. Rafa könnte sich deshalb so viel mit Ivo Fechtner beschäftigen, weil er herausfinden will, ob ich recht habe mit dem, was ich über ihn sage.
Gegen ein Uhr verschwand Rafa mehrmals und für längere Zeit mit Kappa in Räumlichkeiten, die hinter der Hauptbar liegen und der "Nachtlicht"-Mannschaft vorbehalten sind.
"Mein Essen ist in den Kühlschrank gegangen", sagte ich zu Laura, wenn Rafa sich wieder unsichtbar gemacht hatte. "Ich habe ihn wohl so erhitzt, daß er sich erst einmal abkühlen muß."
"Na, da braucht der wohl schon eine Tiefkühltruhe für!"
Gegen zwei Uhr wollte Laura gehen, und ich schloß mich an. Wir näherten uns eben der Treppe zum Ausgang, da kam mein "Essen" aus dem "Kühlschrank" und ging so nah an uns vorbei, daß ich nach dem Aufschlag seiner Weste greifen und ein wenig daran rucken konnte.
Ich lasse Laura immer kostenlos bei mir im Taxi mitfahren, weil es für mich keinen Umweg bedeutet und sie kein Geld für ein Taxi hat und zu Fuß gehen würde, sofern keine Bahn mehr fährt.
"Ich kann doch Kinder nicht allein durch die Stadt laufen lassen", sagte ich.
Carl erzählte mir heute, daß Saverio inzwischen wieder auf ihn zugeht. Er konnte Saverio eine Kassette geben, auf die mir Saverio "15 Minutes of Fame" von Sheep on Drugs aufnehmen will. Ob er es mir wirklich aufnimmt?



Es sieht nicht so aus, als wenn das "Nachtlicht" langfristig dem "Elizium" und der Szene schadet. Davon, daß es in H. nun zwei reine Szeneläden gibt, fühlen sich anscheinend auch Leute angezogen, die sonst nicht nach H. fahren würden. Man findet zum Beispiel immer häufiger Leute aus HH. und HB. in "Elizium" und "Nachtlicht". Außerdem scheint das erweiterte Angebot die Leute zu reizen, sich aufwendiger zu kostümieren.
Auch dieses Mal waren freitags viele kunstvoll zurechtgemachte Gothics im "Nachtlicht", die zum Teil von außerhalb kamen.
Die Türsteher sagten keinen Ton, als ich mit dem geknoteten Tuch an ihnen vorbeieilte.
Übrigens muß ich im "Nachtlicht" nicht mehr dauernd fächeln; die Klimaanlage ist inzwischen heile. Laura fror sogar ein wenig.
Rafa trug keine Brille. Er war so angezogen wie am Vortag, nur hatte er sich ein Stirnband umgebunden und war sauber rasiert, wie meistens am Freitag. Ich habe das Gefühl, daß sich Rafa nur am Freitag rasiert.
Rafa ging gelegentlich zur Theke; sonst war er nur hinterm DJ-Pult.
Saverio war im "Nachtlicht", begleitet von Edna und May. Er sprach ab und zu ein wenig mit Carl. Saverio erinnerte sich alter Zeiten:
"Rafa und ich, wir waren damals die Obergruftis."
Die Sängerin kam mit Talon und Dolf. Sie war verpackt in merkwürdig glänzendes Zeug, irgendetwas zwischen Latex, Lack und Leder. Sie hatte eine kurze Jacke an und eine Hose, die so eng war wie eine Strumpfhose. Die Haare hingen herunter. Sie waren rotviolett gefärbt, und Talons Haare waren fast ebenso gefärbt. Laura hat gesehen, wie die Sängerin Talon umarmte. Das ist ein Hinweis darauf, daß sie nicht mit Rafa zusammen ist. Was mich in dieser Annahme noch bestärkt, ist die Tatsache, daß sich die Sängerin die meiste Zeit mit Talon und Dolf an die runde Bar zurückzog. Ich sah sie kaum, und das war angenehm für mich. Wenn sie tanzte, tanzte sie in der Ecke bei der runden Bar. Sie machte Bewegungen, als wollte sie jemanden treten.
Dolf war gelegentlich bei Rafa hinterm DJ-Pult. Rafa wirkte ihm gegenüber eher abweisend.
Daria und Dolf sah ich ebensowenig miteinander sprechen wie Rafa und die Sängerin. Daria hing meistens mit Genoveva oder Siddra zusammen. Einmal soll Daria Laura im Vorbeigehen gerempelt haben.
Siddra soll in Gerrit verliebt sein, den Herrn im langen schwarzen Samtkleid. Gerrit saß jedoch viel an der Theke und ließ sich von Meta umgarnen. Als ich Gerrit fragte, wie ihm denn am Donnerstag die Musik gefallen hat, antwortete er:
"Dafür, daß die Hälfte der CD's von mir stammte - ganz gut!"
So hat sich Rafa also von Gerrit ausstatten lassen. Wann wird sich Rafa endlich selbst genügend Industrial-CD's zulegen?
Carl tat mir den Gefallen und fragte Rafa nach dem Titel der Version von "Lord of Ages", die er immer spielt. Rafa wühlte gleich die CD heraus, hielt sie Carl hin und zeigte deutlich auf die Stelle, wo der Titel stand. Er sagte ihm den Titel auch noch. Das Stück befindet sich auf einem Sampler namens "Clockwork Orange". Rafa wirkte Carl gegenüber sehr aufgeregt und unsicher. Die Hand soll ihm sogar gezittert haben.
Carl fand, daß Rafa wieder einmal sehr schick aussah. Ihm gefiel besonders Rafas Zopfspange. Es war die Spange mit der schwarzen Satinschleife, deren Enden schwalbenschwanzartig geschnitten sind. Carl hat die Schleife an mich erinnert. Rafa und ich tragen beide Schleifen im Haar, und Carl findet, daß es zu uns beiden paßt. Er findet, daß Rafa und ich insgesamt viel gemeinsam haben. Beide sind wir hektisch, herrisch, zynisch, redegewandt und ehrgeizig. Beide erregen wir Aufmerksamkeit.
Nach dem Stück vom "Clockwork Orange"-Sampler kam "Dead and buried" von Alien Sex Fiend. Ich wurde beim Tanzen gestört. Ein Mädchen in einer schlichten schwarzen Kostümjacke sprach mich an.
"Entschuldige, daß ich dich beim Tanzen unterbreche", sagte es.
"Ja, das geht auch nicht", erwiderte ich. "Bitte - später."
Nach dem Tanzen fand ich das Mädchen in der Ecke hinterm Rondell wieder. Es freute sich darüber, daß ich es nicht vergessen hatte.
"Warst du das?" fragte ich es.
"Ja, ich war das", erwiderte das Mädchen. "Das finde ich ja schön, daß du noch kommst."
"Mich kann man immer ansprechen, nur halt nicht beim Tanzen."
Das Mädchen erzählte, weshalb es mich angesprochen hatte:
"Ich finde dich nämlich voll attraktiv."
"Ja?"
"Es ist voll faszinierend, dir beim Tanzen zuzusehen."
Das Mädchen - Moonchild - stammt aus dem Iran. Moonchild mußte nach B. ziehen, weil sie da einen Studienplatz für Tiermedizin bekommen hat. Ich erzählte ihr, daß ich Humanmedizin studiere. Moonchild klagte darüber, daß es in B. keinen Laden wie das "Nachtlicht" gebe. Laura meinte, es gebe solche Läden durchaus.
Als ich Laura von Moonchilds Bewunderung erzählte, sagte sie:
"Sarolyn hat auch schon gefragt, ob du was mit Ballett machst. Die Leute fragen das dauernd. Ich sage dann immer 'nein'."
"Ich habe doch mal Ballett gemacht."
"Ja, du hast. Aber du machst es nicht mehr, das ist es."
"Ja, das war auch nur freizeitmäßig. Das war nicht professionell."
"Hey, für die Leute bist du aber immer nur die perfekte Ballerina."
"Hm ... das bin ich doch gar nicht."
Bei Moonchild in der Ecke saß ein Junge auf einem Tisch. Der Junge bewegte sich so ungeschickt, daß ihm ein Sektglas zu Boden fiel.
"Weißt du, was 'Schwellkörper' auf Lateinisch heißt?" fragte er mich.
"Das weiß ich nicht", antwortete ich. "Und vielleicht will ich es auch gar nicht wissen. Ich bin in Anatomie nämlich nicht besonders firm."
Etwas später entschuldigte sich der Junge:
"Das war wohl nicht so toll, meine Frage eben."
"Stimmt", bestätigte ich. "Das war ein ganz dummer, schlüpfriger Spruch."
Moonchild entschuldigte sich ebenfalls.
"Das war ich", gestand sie. "Ich habe ihn an dich verwiesen, weil ich nicht wußte, was das auf Lateinisch heißt. Ich habe ihm gesagt, hier ist eine Medizinerin, die müßte das wissen."
Der Junge heißt Dean. Ich plauderte ein wenig mit ihm, und schließlich sagte er:
"Mensch, jetzt bin ich aber geschockt. Du bist ja richtig intelligent."
"Ach, und du nicht."
"Ach, mein IQ ...", seufzte Dean.
"... ist 160", vermutete ich.
Ich hielt einen Vortrag über die Verläßlichkeit und die Aussagekraft von Intelligenztests. Dean hatte einen gemacht und einen hohen Wert bekommen, der ihm jedoch nicht hoch genug war. Ich meinte, ich wolle gar nicht wissen, wie hoch mein IQ sei. Erstens könnten es mir die Tests wahrscheinlich ohnehin nicht genau sagen, und zweitens gebe es auch Formen der Intelligenz, die mit solchen Tests nicht meßbar seien.
"Wir waren ja alle ganz begeistert von dir", sagte Dean etwas später zu mir.
"Warum?" fragte ich.
"Das ist so schön, dir beim Tanzen zuzusehen", meinte Dean. "Da hat noch einer bei dir in der Nähe getanzt, der hoppelte nur so - und dann du ... das war voll ... das Erlebnis ..."
"Und, was gefällt dir daran so?"
"Ja, ich denke, man kann vom Tanzen auch Rückschlüsse auf den Charakter ziehen."
"Und, was habt ihr geschlossen?"
"Ja, der, der hier eben saß, der meinte ... wie eine Frau tanzt, so ..."
"Ja, ja, ich weiß schon. Und ihr anderen?"
"Ja, ich bin mehr der Ästhetker. Ich finde das einfach faszinierend."
"Und Moonchild?"
"Die ist mehr die Nüchterne, Sachliche."
"Und, was sagt die?"
"Die war auch begeistert. Also - ich habe einen Vergleich gezogen. Du kennst doch diese Spieluhren - wenn man die aufzieht, sind da Figuren, die sich bewegen."
"Ja, sicher kenne ich die. Sowas habe ich auch."
"Ja, und an das hat mich dein Tanzen erinnert."
"Das ist gut. Das ist mein Ziel. So soll es auch wirken."
Ich erzählte Laura von dem Dialog.
"Oh! Wenn das stimmt, daß man im Bett so ist, wie man tanzt - wie ist dann die Sängerin im Bett?" fragte sie.
"Mi-se-ra-bel!" antwortete ich. "Schnell, grob und unromantisch."
Wenn es sich wirklich so verhält, kann die Sängerin dem Rafa eigentlich gar nicht gefallen.
Rafa zeigte heute nicht, ob er gebunden war. Entweder hatte er gar keine Freundin, oder er hatte eine, die er versteckte.
Ich beobachtete Rafa von Zeit zu Zeit. Er vermied es, mir in die Augen zu blicken. Als ich sah, wie er aus einer Literflasche Orangensaft trank, sagte ich zu Laura:
"Oh! Der trinkt Orangensaft! Das ist ja phantastisch."
Es war, als hätte Rafa das gehört; jedenfalls hob er die Flasche gleich wieder zum Mund und trank, so daß ein jeder es sehen konnte. Vielleicht macht es ihn stolz, wenn er es ausnahmsweise schafft, etwas anderes als Bier zu trinken.
Rafa trank nicht nur Orangensaft statt Bier, er rauchte auch weniger. Zum Ersatz kaute er Kaugummi, die ganze Nacht lang. Ich sah nur gelegentlich eine Zigarette in seiner Hand. Einmal geschah es, daß Rafa seine Zigarette just in dem Moment ausmachte, in dem ich sie bemerkte. Ich glaube, die Zigarette war noch fast ganz.
Moonchild und Dean waren schon seit einer Weile fort, da kam Darryl in die Ecke hinterm Rondell. Ich hatte da auch meine Sachen liegen. Als ich gerade an meinem Mantel zu tun hatte, fiel mir Darryls seltsam wartende Haltung auf.
"Du - bist du eigentlich Darryl?" sprach ich ihn an. "Oder bist du jemand anders?"
Er lächelte und sagte:
"Doch, ich bin Darryl."
"Oh, toll, dann konnte ich mir ja endlich mal ein Gesicht merken. Ich kann mir nämlich immer so schlecht Gesichter merken."
"Übrigens - die Türsteher sind 'rausgeflogen. Da kommen jetzt neue."
"Oh, geil!" rief ich und sprang in die Höhe. "Ab wann sind die da?"
"Ab nächster Woche."
"Geil! Oh, da bin ich ja so erleichtert! Und die lassen jetzt die Gäste endlich in Ruhe?"
"Ja, die haben die Weisung, daß die den Leuten nicht mehr die Taschen abnehmen sollen. 'reingucken müssen sie, aber wegnehmen dürfen sie sie nicht mehr."
"Das geht auch nicht in einem Szeneladen. Gut, 'reingucken, das sehe ich noch ein. Aber nicht, daß sie in den Karton gucken, wo die Tampons drinne sind. Es gibt nämlich auch noch so eine Grenze, und das ist das Privatleben."
"Stimmt."
"Ich habe vorhin die Schreckensbotschaft vernommen, daß die in anderen Discos den Gästen auch schon die Taschen wegnehmen", erzählte ich. "Doch ich meine, gerade in der Szene sollte das anders zugehen. Da gibt es weniger Schlägereien als irgendwo sonst. Und das ist auch anders. In keiner Szenedisco nehmen die den Leuten die Taschen weg, nicht im 'Elizium', nicht im 'Fall' ... Das habe ich noch in keiner Szenedisco erlebt, außer im 'ZMK' in HH., und da gehe ich deswegen nie wieder hin."
"Alles, was mit dem 'ZMK' zu tun hat, ist Sch..."
"Da könntest du fast recht haben. Im 'ZMK' wirkt der Stil dogmatisch und von oben herunter. Fedor hat sich mit den Leuten angelegt."
Darryl zog ein seltsames Gesicht.
"Kennst du Fedor?" fragte ich ihn.
Er kennt Fedor. Fedor soll schon im vergangenen Jahr mit dem "ZMK" Ärger gehabt und sich deswegen an die "Autodafé"-Redaktion gewandt haben. Als ich Darryl fragte, was eigentlich aus dem "Autodafé" geworden sei, antwortete er, daß man den Vertreibern hätte kündigen müssen und auf der Suche sei nach neuen. Darryl lobte das "Autodafé"; es sei vielseitiger als andere Szenezeitschriften. Ich erinnerte Darryl daran, daß andere Zeitschriften regelmäßig erscheinen - im Gegensatz zum "Autodafé", von der es seit über einem Jahr keine Nummer mehr gegeben hat. Darryl entschuldigte diese Schwäche des "Autodafé" unter anderem damit, daß Kappa außer dem "Autodafé" auch noch das "Nachtlicht" habe und seine Plattenfirma. Kappa würden Leute fehlen, die ihm bei der Arbeit helfen und die idealistisch sind und nicht in erster Linie auf Geld bedacht.
"Kappa geht es nicht darum, Geld zu machen", sagte Darryl. "Dem geht es nur darum, daß die Szene heil bleibt."
"Mit Musik Geld zu verdienen ist fast nicht möglich", meinte ich. "Ich möchte sogar sagen, es geht nur, wenn man andere ausbeutet."
"Kappa geht es nicht um Geld. Mir geht es auch nicht um Geld, obwohl ich jetzt noch ein Kind durchfüttern muß."
"Du mußt ein Kind durchfüttern."
"Ja. Ich habe eine fünf Monate alte Tochter."
"Herzlichen Glückwunsch."
"Trotzdem - die Szene ist wichtiger", meinte Darryl. "Daß die Szene heil bleibt, ist wichtiger. Die Szene - das ist einfach ein schöner Stil. Die Szene ist wie Heimat. Die Szene ist Geborgenheit." Ich nickte.
"Es ist auch seltsam, daß fast alle von meinen Freunden aus der Szene sind", sagte ich. "Das liegt wohl auch daran, daß es kaum irgendwoanders so viele schräge, abgefahrene Leute gibt und soviel Raum für Individualität."
"Ja!"
"Und gerade deshalb finde ich es wichtig, daß in der Szene das Klima stimmt. Ich verlange von einem Laden, daß da ein gewisser Stil herrscht. Es ist ja nicht nur so, daß die Türsteher hier im 'Nachtlicht' den Leuten die Taschen weggenommen haben. Das war ja noch mehr. Die waren auch äußerst unhöflich. Die haben die Gäste nicht wie Gäste behandelt, sondern wie Dreck. Echt, ich hätte fast nicht mehr ins 'Nachtlicht' gehen können, nur wegen dieser Türsteher. Und es wäre mir sehr schwergefallen, hier nicht mehr hinzugehen. Ich gehe nämlich gerne ins 'Nachtlicht'."
"Das freut mich zu hören", sagte Darryl und lächelte.
"Ja, der Laden ist gut", meinte ich.
"Wir arbeiten daran, der beste zu werden", versprach Darryl.
"Ich will immer beides", sagte ich. "Ich will das 'Elizium', und ich will das 'Nachtlicht'."
Darryl zog ein Gesicht.
"Im 'Elizium' gibt es viel arrogante Leute", sagte er.
"Xentrix ist nicht arrogant", erwiderte ich.
"Nein", bestätigte Darryl. "Der ist die große Ausnahme."
"Und ich bin auch nicht arrogant. Und noch viele andere, die da hingehen, sind nicht arrogant."
"Also, ich kenne das so, daß es da viel Schubladendenken gibt."
"Und ich kenne da viele Leute, die gar nichts haben mit Schubladendenken. Wer ist das denn, der da Schubladendenken hat?"
"Ach - einige. Zum Beispiel ... diese Plakataktion, die war ja wohl ..."
"Deswegen hat Xentrix auch was von mir zu hören gekriegt", erzählte ich. "Das mit den Plakaten war ja wohl absolut kindisch. Wenn ein Laden es für nötig hält, solche Plakate aufzuhängen, dann ist das ein Armutszeugnis."
"Genau!"
"Ich habe Xentrix gesagt, daß ich das dämlich fand, und er hat auch gleich gesagt, stimmt, und es war gut. - Das 'Elizium' hat was, was das 'Nachtlicht' nicht hat, und das 'Nachtlicht' hat was, was das 'Elizium' nicht hat. Kein Laden kann alles haben. Das ist unmöglich. Der eine hat das, der andere das, der andere das."
Widerwillig gab Darryl mir recht.
"Ich finde das einfach traurig, daß Kappa damals zehn von meinen Bekannten aus dem 'Nachtlicht' geworfen hat", setzte ich hinzu. "Ich meine, er war wohl auch ziemlich betrunken ..."
Darryl verteidigte Kappa:
"Das tut mir echt leid für Violet, aber das, was sie gemacht hat, war Rufmord. Ich hätte die hier auch nicht mehr haben wollen. Die hat Leute mit 'reingezogen, die überhaupt nichts mit dem 'Nachtlicht' zu tun haben. Das stimmt überhaupt nicht, was in dem einen Stadtmagazin steht. Kappa hat nicht 'alte F...' zu Violet gesagt. Sowas würde der nie in den Mund nehmen. Und 'Da ich hier die Macht habe, genieße ich es, jeden 'rauszuschmeißen, der mir nicht paßt' - das hat Kappa auch nie gesagt."
Darryl meinte, daß Kappa es Violet nicht nachträgt, daß sie bei seinem Abschied im "Elizium" geklatscht hat; das sei für Kappa nur "Kinderkram" und nicht von Belang.
"Aber was war es denn, was dich so aufgebracht hat?" fragte ich.
"Das weiß ich nicht mehr genau; dazu ist das zu lange her", erwiderte Darryl. "Außerdem war ich da nicht mehr so ganz nüchtern. Meine Freundin könnte das noch wissen."
"Dann frag' die doch mal bei Gelegenheit. Weißt du, ich möchte mir einfach nur ein möglichst klares Bild machen von dem, was da passiert ist. Ich kann kein Urteil fällen, wenn ich den Sachverhalt nicht genau kenne."
Ich bekam aus Darryl immerhin heraus, daß Violet wohl bei ihrem kurzen Besuch im "Nachtlicht" mit den Gästen geredet hat und dabei gegen das "Nachtlicht" Stimmung machte. Wie dies im Einzelnen geschah, konnte Darryl jedoch nicht sagen.
Darryl war angeblich zu betrunken, um sich Violets Untaten merken zu können. Er behauptet jedoch, sich daran zu erinnern, welche Beschimpfungen Kappa der Violet nicht an den Kopf geworfen hat. Darryl verwickelt sich in Widersprüche. Ich glaube, es geht Darryl nicht um Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern darum, daß Kappa keine Schuld angelastet wird - gleich, ob er Schuld auf sich geladen hat oder nicht. Darryl scheint Kappa um jeden Preis verteidigen und idealisieren zu wollen.
"Der Laden war Kappas Traum, sein ganzes Leben lang", erzählte Darryl. "Und kaum hat er ihn aufgemacht, kommt da jemand, der versucht, die Leute gegen den Laden aufzubringen."
"Ich hoffe nur, daß ihr es den Leuten nicht übelnehmt, die weiterhin gerne ins 'Elizium' gehen."
"Nein! Auf keinen Fall!"
Ich sah Darryl noch eine Weile mit Kappa neben den Herrentoiletten stehen. Ob er ihm von unserem Gespräch erzählte?
Saverio ging heim mit seinen tonnenförmigen Begleiterinnen. Er winkte mir zum Abschied.
Rafa ging zweimal ins Rondell und näherte sich mir dabei bis auf einen Meter. Beide Male trug er eine CD in der Hand, die er jemandem gab. Er wandte sich mir nicht zu.
Carl ging zu Rafa und borgte sich eine Zigarette. Rafa gab ihm die gleich, und er gab ihm auch Feuer.
Das letzte Stück, zu dem ich tanzte, war eine ruhige, melancholische Träumerei von Collection D'Arnell-Andrea. Ich finde es bemerkenswert, daß Rafa so etwas Ausgefallenes spielt.
Die Sängerin schien wieder einmal am "Nachtlicht" festgeschweißt zu sein. Wir verließen es erst nach fünf Uhr, und sie war immer noch da.
An der Tür saß Kappa. Er sagte uns "Tschüß", als wir vorbeigingen.
"Tschüß", sagte auch ich.
Ich glaube, Kappa ist sehr, sehr schüchtern. Sonst würde ich mich vielleicht öfter mit ihm unterhalten als nur alle paar Jahre.
Ich denke, Kappa und Violet können sich einfach nicht verstehen. Kappa ist sehr empfindlich. Er fühlt sich leicht angegriffen und wird auch oft angegriffen. Violet fühlt sich ebenfalls leicht angegriffen und wird oft angegriffen, etwa von ihrem Bruder, der ihr die Szene ausreden will und behauptet, es sei verantwortungslos, Schwarz zu tragen. Violet hat nun die Eigenart, das, was man ihr tut, an Unschuldige weiterzugeben. Kappa hatte ihr nichts getan, und doch bejubelte sie seinen Abschied vom "Elizium". Da war Kappa an seiner empfindlichsten Stelle getroffen und schlug zurück.
Auf dem Weg nach HH. zu "Klangwerk" sah ich auf dem Bahnsteig einen Schaffner, der den Fahrgästen die gelbe und die rote Karte zeigte. Das war ein Scherzartikel. Auf der gelben Seite stand "Halt's Maul!", und auf der roten Seite stand "Raus!".
Als ich in HH. ankam, begegnete mir Ryan in einem Stadtbahnhof. Er stellte mir Yanni vor. Mit ihm wartete Ryan auf Freunde, die auch zu "Klangwerk" wollten. Von Ryan erfuhr ich noch eine Geschichte von den "Nachtlicht"-Türstehern. Sie hatten Ryans Handstempel nicht anerkannt, als er das "Nachtlicht" kurz verlassen hatte.
"Klangwerk" war wieder recht gut besucht. Leon und Ytong waren da und Ivo Fechtner; der hatte aber Daria nicht mitgebracht. Auch Gerrit und Fedor fehlten.
"Na, wo hast du unseren Fedor gelassen?" fragte ich Leon.
"Also, vorhin am Telefon hat er noch gesagt, er kommt auf jeden Fall", entgegnete er.
Mal begrüßte mich und sagte mir, es käme gleich "Klaus Barbie" von Genocide Organ, und dazu könnten wir richtig abdrehen. Mal wand sich in Todeszuckungen, und ich wurde zu einer Laufpuppe, deren Programmierung gestört ist.
"Jetzt muß noch 'Adolf Hennecke ...' kommen!" rief ich.
"He, ich bin nicht du", bremste Mal. "Ich kann das nicht so am Stück. Ich bin voll fertig."
Das übernächste Lied war dann "Shiftwork" von P.A.L, das mit "Am 13. Oktober 1948 fuhr Adolf Hennecke seine Schicht, die historisch wurde." Mal hauchte wieder in Agonie sein Leben aus, und ich hetzte als Laufpuppe über die Tanzfläche.
Es kamen noch viele Lieder, zu denen man vor und zurückstürmen und sich dabei herrlich verbiegen konnte. Das waren etwa "Stroomstoot" von De Fabriek, "Trybuna Robotnicza 1" von Esplendor Geometrico und das unsägliche "Comisario de la Luz I" von Esplendor Geometrico. Wie gewöhnlich kam ich vor lauter Tanzen kaum dazu, mich mit den Leuten zu unterhalten.
"Was ich dir schon länger mal sagen wollte", wandte sich Leon in einer der seltenen Pausen an mich, "ich finde das immer voll toll, dir beim Tanzen zuzusehen. Ich bewundere immer die Energie, die du hast. Ich meine, du bist ja auch schon etwas älter. Man merkt, du hast deinen ganz eigenen Stil. Ich mag gar nicht mehr dieses Kindische. Das ist ein Kompliment; ich denke, das kann ich dir ruhig sagen; das hörst du ganz gerne."
"Ja, ich höre gerne Komplimente."
Mit Ytong sprach ich kurz über Sadomaso-Parties. Ytong erzählte, daß Leon sich auf solchen Parties seine Bettgespielinnen zu besorgen pflegt.
"Da braucht er sich nicht zu wundern, wenn das oberflächliche Beziehungen bleiben", meinte ich. "Na ja, es paßt auch wieder zu ihm; er ist ja so ein bißchen sadomasomäßig angehaucht."
"Nicht nur angehaucht!"
"Ohoho ... ja, unser kleiner Psychopath ..."
Ich bekam mit, wie Mal zu Ytong sagte:
"Wenn nichts mehr geht, gehe ich zu einer Gabba-Party."
"Was ist eine Gabba-Party?" fragte ich.
Mal erklärte mir, daß mit "Gabba" der harte Rotterdam-Techno gemeint ist, "so hart, daß es schon fast wieder Industrial ist".
Ich erinnerte mich wehmütig ans "Trauma".
Bei "Klangwerk" lernte ich dieses Mal den brav aussehenden Hendrik kennen, der in meinem Alter ist. Hendrik hatte ebenso wie ich Lust, am kommenden Samstag zu einem Festival nach KA. zu fahren. Dort treten Placebo Effect, Mortal Constraint, Allerseelen und Die Form auf - und Mal.
Hendrik erfuhr, wie es ist, wenn ein Mensch an der Tanzfläche "festklebt". Hendrik machte mir den Vorschlag, am frühen Morgen noch mit ihm in einen anderen Laden zu gehen. Doch ich konnte "Klangwerk" nicht verlassen; die Musik bannte mich.
Nach vier Uhr kam das Ambient-Electro-Stück "Voice Recognition Test" von Clock DVA, und danach zog das Tempo an. Nova und Mal fuhren überraschend eine ultraharte Gabba-Schiene. Mal, Ytong, ich und noch mehrere andere verloren auf dem Tanzboden die Umrisse. Ich freute mich sehr darüber, mich wieder einmal zu Hardcore-Techno entmaterialisieren zu können. Die Stücke hatten zwischen 160 und 200 bpm. Der Rhythmus beherrscht mich. Ich löse mich in dem Rhythmus auf.
"Das mutiert hier voll", freute sich Mal über die aus dem Boden gestampfte Gabba-Party.
Als wieder etwas Ambientes lief, fragte ich Mal, wo denn Alanna sei.
"Wir sind getrennt", erwiderte Mal.
"Wie kommt es?" erkundigte ich mich.
"Ach ... wir waren vier Jahre zusammen, und der Punkt war erreicht, wo man anfängt, sich zu nerven. Ich meine, wir hätten noch ein halbes Jahr weitermachen können, aber dann hätten wir uns in Krach und Streit getrennt. Trotzdem bin ich jetzt voll traurig."
"War es denn am Anfang gleich das Gefühl: Das ist die große Liebe?"
"Ich glaube, für sie war es mehr als für mich."
Mal denkt, daß er der "genialsten Frau" schon begegnet ist - in Gestalt der Freundin, die er vor Alanna hatte. Sie sang damals in Mals "Kombinat". Heute soll sie "ganz banal" aussehen und nicht mehr in der Szene sein.
Während ich den tiefen Glauben habe, daß es die Liebe für ein ganzes Leben gibt, vertritt Mal die Ansicht:
"Ach, das ist ein Kommen und Gehen. Nichts ist ewig."
"Doch", erwiderte ich. "Ich versuche nämlich gerade, meine große Liebe zu gewinnen. Zwei Jahre arbeite ich jetzt schon daran, und ich schätze, sieben dauert es mindestens."
"Warum gerade sieben?"
"Na, vielleicht sind es auch zehn."
"Also, so lange würde ich das nicht durchhalten."
"Aber ich tue es doch gern. Es macht mir Freude. Seit ich ihn kenne, hat mein Leben nämlich einen Sinn. Ich weiß endlich, wer es ist und muß nur noch arbeiten."
"Wer ist es denn?" fragte Mal. "War der heute hier?"
"Nein."
Mal ist davon überzeugt, daß eine Beziehung sich irgendwann totläuft.
"Das glaubt der auch!" erzählte ich. "Der hat unheimliche Angst davor, daß ich ihn nicht mehr mag, wenn ich ihn erst habe. Deshalb will ich immer wissen, wie es Paaren geht, die schon lange zusammen sind. - Ich will, daß wir uns ganz genau kennenlernen. Ich will sicher sein. Ich werde mir auch sicher durch meine Träume. Sie geben mir immer wieder Bestätigung. Er braucht das auch dauernd - Bestätigung. Er will sich immer gegen alles absichern, wie ich. Da sind wir uns ähnlich. - Es ist ja nicht so, daß ich gegen eine Mauer renne. Ich bekomme ja etwas zurück. Ich habe nicht das Gefühl, daß das vergeudete Zeit ist. Das, was ich tue, ist an sich die Sache schon wert. Ich könnte jetzt tot umfallen, und es hätte sich schon gelohnt."
"Also, ich hätte nicht so viel Geduld."
"Aber ich habe doch schon soviel bekommen. Ein Lächeln ... das kann mehr sein als alle Vergnügungen der letzten Jahre."
"Ja ..."
"Er und ich, wir haben beide schwere Fehler", erklärte ich. "Die müssen wir bearbeiten. In uns streiten sich Furcht und Sehnsucht."
"Na, wir sprechen uns mal in zehn Jahren wieder", schlug Mal vor.
"Zehn Jahre, das ist eine gute Zeit."
"Dann bist du vielleicht schon einige Stufen weiter."
"Ja, dann habe ich vielleicht schon eine Familie und ein Haus."
"Neiin!" rief Mal.
"Oh, ich will mir gerne mit ihm ein Haus bauen."
"Feste Beziehung, da sage ich ja schon: gut. Aber Kinder!"
"Für mich sind Kinder jetzt auch noch undenkbar. Aber wer weiß ... der Mensch hat so einen starken Einfluß auf mich ..."
"Mit einem Wort: er ist Gott."
"Nein! Er ist ein Mensch mit Fehlern und Schwächen. Und deshalb will ich ihn auch. Er hat nämlich Fehler, die zu meinen passen. Ich will gar nicht den 'perfekten Menschen'."
"Den perfekten Menschen gibt es sowieso nicht."
"Ich würde sogar sagen: das Wort 'perfekt' aus dem Wortschatz streichen und sagen: Ich suche - oder ich habe einen gefunden , der zu mir paßt. Aber ich rede jetzt lieber nicht weiter, denn wenn ich einmal angefangen habe, kann ich kaum noch aufhören. Ich könnte echt ununterbrochen von ihm reden.
Aber das, was ich mache, macht außer mir kaum einer. Ich bin in der Hinsicht echt extrem."
"Ja, du bist ja überhaupt völlig extrem."
"Ja, und der ist auch extrem extrem, genauso extrem extrem wie ich. Der ist genauso schlimm wie ich. Der ist genauso fürchterlich wie ich."
Es kam noch ein Stück von Laszlo Hortobagy, "Introkill". Die Musik von Hortobagy habe ich im letzten Winter kennengelernt. Es ist Neoklassik, und einiges davon ist sehr melancholisch.
Hendrik fuhr Leon heim und mich zum Bahnhof. Auf der Fahrt erzählte Leon einige Schauermärlein von schlimmen Türstehern. Es soll Festivals gegeben haben, da kamen die Türsteher von einem Wachdienst. Sie waren mit Knüppeln bewaffnet und hatten Schäferhunde bei sich. Den Gästen nahmen sie alles ab, was sie hatten - Haarspray, Haarbürsten und sogar Essen. Einer, der unwissentlich noch eine Apfelsine in der Jackentasche trug, wurde beschimpft, und ihm wurde fast der Arm ausgerenkt.
Ich habe in KA. angerufen und mich rückversichert. Sie wollen dort den Gästen nicht die Taschen wegnehmen.
Als "Klangwerk" stattfand, war Malda im "Nachtlicht". Dort soll nicht viel losgewesen sein. Rafa trug sein Haar offen; er ließ es einfach herunterhängen. Esmeralda wunderte sich darüber, daß er keine langen Haare mehr hat. Sie wußte noch nicht, daß Rafa sich schon vor fast einem Jahr die Pracht sehr gekürzt hat. Der Pferdeschwanz täuscht darüber hinweg.
Laura war auf einer Party außerhalb von H. Sie erfuhr, daß Rafa ebenfalls eingeladen war. Er kam jedoch nicht. Velvet war aber da, und sie redete von kaum etwas anderem als von Rafa.
"Ich will W.E hören! Ich will W.E hören!" soll sie immer wieder gerufen haben.
Und sie sah sich in einem Fotoalbum, das dem Gastgeber gehörte, andauernd Fotos von Rafas Auftritten an. Velvet wurde denn auch mit ihrer RafaVerehrung aufgezogen. Merkwürdigerweise scheint sie auch die Sängerin zu verehren.
"Tessa ist lieb!" meinte sie. "Wer sagt was gegen Tessa?"
Ich kann mich daran erinnern, daß Velvet am Freitag im "Nachtlicht" lange bei dem Treppchen zum DJ-Pult hockte. Sie saß im Schneidersitz auf einem Lautsprecher. Ist Velvet jetzt nicht mehr hinter Derek her, sondern hinter Rafa? Oder ist sie hinter allen beiden her? Ich muß daran denken, daß sie mit Rafa im letzten Winter ein kurzes Verhältnis hatte und vor mehr als einem halben Jahr behauptet haben soll, Rafa zu lieben.
Auf der Party am Samstag trank Velvet viel und begann schließlich zu reimen.
"Jetzt bin ich breit
und zu jeder Schandtat bereit", sagte sie.
Dann erzählte sie, daß sie ihre Lackhose "geerbt" habe.
Ob jemand gestorben sei, wurde sie gefragt.
"Er muß erst sterben,
dann kann ich erben", antwortete sie.
Sie verschwand mit Sasch, dem Ehemaligen von Hennike.
Ich vermute, daß Velvet im Kopf "schief gewickelt" ist.
Auf der Party hörte Laura noch ein Kompliment für mich. Sie erzählte einem Jungen namens Simon, daß ich zur "Klangwerk"-Veranstaltung gefahren sei.
"Antje?" fragte Simon. "Ist das die mit der Schleife?"
"Ja."
"Also, wir bewundern diese Frau. Wie hält die das durch, so lange zu tanzen?"
"Das weiß ich nicht."
"Das ist eine Ausdauer ... das muß ja voll anstrengend sein ... wie die die Arme und Beine hält ..."
Diesen Hagel an Komplimenten finde ich seltsam.



Als wir am nächsten Freitag ins "Nachtlicht" kamen, bezahlte Carl für uns beide, und ich ging währenddessen rasch an den Türstehern vorbei. Ich blieb unbehelligt. Doch ich kann dem Frieden noch nicht trauen.
In der letzten Zeit erfindet Rafa besonders viele neue und ungewöhnliche Verkleidungen. Dieses Mal trug er über einem verschwenderisch geschnittenen weißen Rüschenhemd eine schwarze Jacke, die hatte an den Ärmeln lauter silberne Schnallen, von der Schulter bis zum Handgelenk, eine unter der anderen. Er trug Creolen und kein Stirnband. Zuerst hatte er eine seiner Schutzbrillen auf. Alsbald trug er gar keine Brille mehr, und etwas später setzte er sich die Sehhilfe auf, und die setzte er auch nicht mehr ab.
Ich frage mich, was Rafa dazu bringt, wieder so viel Aufwand um sein Äußeres zu treiben. Die Sängerin macht das, wenn sie um Rafa wirbt. Zur Zeit könnte sie wohl um ihn werben. Ich sah sie kommen. Sie ging gleich zum Treppchen und redete einige Worte mit Rafa. Dann nahm sie an der runden Bar Platz. Als sie tanzte, konnte ich ihre Kostümierung sehen. Sie hatte eine völlig zerfetzte Strumpfhose an und einen völlig zerfetzten Body. Darüber trug sie ein ärmelloses Kleid aus schwarzem Pannesamt, das war bodenlang, hatte aber rechts und links Schlitze bis zur Taille. Es hing also nur vorne und hinten ein Stoffstreifen herunter. Die Sängerin tanzte wieder so, als wollte sie jemanden treten und schlagen. Ihre Armreifen klimperten laut.
Die Fledermaus auf der Tanzfläche hat Rafa endlich nachgemalt. Sie hat sogar Augen bekommen. Rafa spielte wieder die "Lord of Ages"-Version und danach eine ebenso altertümliche Version von "Saltarello", die der Version von Corvus Corax ähnelt. Es kamen auch "Dead and buried" von Alien Sex Fiend und sogar "Totally gone" von Blackhouse. Rafa hat sich anscheinend das Album "We will fight back!" von Blackhouse gekauft. Das Cover zeigt im Wechsel Musikinstrumente und Waffen. Das paßt zu Rafas Ansichten über "Klangwaffen". Außerdem ist in der Mitte des Covers eine Faust zu sehen, aus der Blitze schießen. So eine ähnliche Faust hat Rafa auch zum Emblem seiner Band gemacht.
Marilene war mit Sanna da. Beide Mädchen hatte kurze Kleider an, und das ist ungewöhnlich für sie. Marilene trug ein Kleid aus schwarzer Spitze, das war hinterlegt mit schwarzem Stoff; nur die Ärmel waren durchscheinend. Das Kleid ähnelt im Schnitt dem Spitzenkleid, das ich anhatte. Ich trage mein Spitzenkleid wieder öfter.
Als Carl zur Toilette wollte, kam Rafa ihm entgegen. Carl sah ihn an und sagte:
"Hi!"
Rafa grüßte zurück:
"'n Abend!"
Es kam ein anderer, der Rafa ebenfalls begrüßte. Rafa sah noch ein Weilchen zu Carl herüber, als wenn er sich noch länger mit ihm unterhalten wollte. Dann blieb er aber an dem anderen hängen, und Carl ging weiter.
In der Ecke hinterm Rondell sprach ich längere Zeit mit Thorlev Rees aus SZ., den ich von einem Konzert von Project Pitchfork in BS. kenne. Thorlev hat einen Autoaufkleber mit dem Wappen von SZ. und einen Aufkleber von Goethes Erben: "Das Sterben ist ästhetisch bunt". Früher ist Thorlev viel im "Puzzle" gewesen - wie ich. Wir können uns aber beide nicht erinnern, uns damals gesehen zu haben.
Thorlev hält Psychologen für überflüssig:
"Wenn einer mit sich selber nicht zurechtkommt, ist er nicht lebenswert."
"Wenn einer krank ist, muß man ihm helfen, egal ob sein Körper oder seine Seele krank ist", hielt ich dagegen.
"Schon", stimmte Thorlev mir zu. "Aber ich würde mich keinem Psychologen anvertrauen."
"Das ist ja auch nicht für alle richtig. Für mich ist es auch nicht richtig."
Ich erzählte Thorlev von meinem abnormen Ekel vor offenstehenden Toiletten. Er erzählte mir, daß die Toilette bei ihm immer offenstehen müßte, da er sich einmal im Halbschlaf auf den geschlossenen Deckel gesetzt und sich böse die Weichteile gequetscht hat. Allerdings ist ihm seine Ratte einmal fast in der Toilette ertrunken.
Daria stand bisweilen in unserer Nähe. Sie wirkte etwas einsam auf mich. Laura war in HH. Sie wollte zu Fedor ins "ZMK".
Ich erwartete nicht, mit Rafa sprechen zu können. Als ich am DJ-Pult vorbeimußte, sah ich ihm kurz in die Augen. Ansonsten beobachtete ich ihn aus der Ferne. Ich stellte mich mit Carl und Thorlev an ein Tischchen vor unserer Ecke beim Rondell, von dem aus das DJ-Pult gut zu sehen ist. Rafa wirkte hektisch auf mich. Er trank Bier, rauchte und kaute gleichzeitig Kaugummi. Es kam vor, daß er mehrere Male in kurzen Abständen an seiner Zigarette zog.
Thorlev fragte mich:
"Was ist dein Ziel im Leben?"
"Ich will vor allem überleben", antwortete ich. "Ich will so leben können, wie es meinen Vorstellungen entspricht."
Was daran so schwierig sei, wollte Thorlev wissen. Ich versprach, ihm die Frage zu beantworten, wenn ich zuendegetanzt hatte. Nach dem Tanzen erklärte ich Thorlev, daß ich im Berufsleben dauernd kämpfen muß, wenn ich mir selbst treu bleiben will. Ich muß mich beliebt machen und mich gleichzeitig durchsetzen. Ich darf nie schwankend werden in meinem Willen. Im Berufsleben wird oft versucht, den Menschen ihren Eigenwillen und ihre Eigenheiten abzuerziehen. Es geht dabei nicht mehr um eine notwendige Anpassung ans Tätigkeitsfeld, sondern um einen Angriff gegen die Persönlichkeit des Einzelnen.
Es wurde drei Uhr. Ich stand noch mit Thorlev am Tischchen, da bemerkte ich, wie Rafa zum Rondell kam. So ist er schon am letzten Freitag in meiner Nähe aufgetaucht, doch den entscheidenden Schritt auf mich zu schaffte er nicht.
"Ob er es dieses Mal schafft?" dachte ich.
Ich löste mich ein Stück vom Tischchen und sah ihn an. Er redete kurz mit einigen Leuten. Dann folgten die vertrauten ruckartigen Kopfbewegungen in meine Richtung. Schließlich kam Rafa zu mir.
"Hallo", sagte er, ohne im Gehen innezuhalten.
Ich faßte nach dem Aufschlag seiner Jacke und zog ein wenig daran.
"Hi", grüßte ich ihn.
Er ging um die Tanzfläche herum und landete bei der Sängerin. Er setzte sich neben sie auf einen Barhocker und sprach für wenige Minuten mit ihr. Dann ging er wieder hinters DJ-Pult. "Jetzt redet der schon wieder mit dieser Widerlichen", sagte ich zu Thorlev.
"Wer denn?"
"Der, den ich eben am Frack gezogen habe."
"Ach, so."
"Die ist so widerlich, das gibt's gar nicht. Iih!"
"Aber du kennst die doch gar nicht."
"Oh, doch. Genug."
Da wurde Thorlev neugierig:
"Erzähl'!"
"Die hat mich schon angeschrien und versucht, mich die Treppe 'runterzuschmeißen."
"Ohne Grund?"
"Aus Eifersucht."
"Warum?"
"Weil ich mit einem Kerl gequatscht habe, auf den sie geil ist."
"Na, dann würde ich sagen - die Frau weiß, was sie will."
"Nein. Die will nicht lieben, die will besitzen. Und das ist für mich ganz eindeutig ein Zeichen von Schwäche."
Carl und ich gingen kurz nach halb vier. Es war mir recht, daß er schon fort wollte. Rafa hatte sich zur Sängerin gesetzt, und das werte ich als Zeichen dafür, daß er eine große Scheu vor mir hat. Es ist denkbar, daß Rafa mit der Sängerin ein zehntes oder elftes Verhältnis anfängt.
Am Samstag fuhr ich mit Hendrik nach KA. zum Festival. Wir kamen in einen großen Saal voller Gothics und Lack-Dominas. Ein Mädchen hatte rosa Haare, die im Farbton zur Federstola paßten. Es gab viele Verkaufsstände mit CD's, Mode, Sadomaso-Accessoires und Gruftkitsch und -kunst. Ich entdeckte eine Barbie-Domina, einen dominanten Ken und einen devoten Ken, alle drei liebevoll zurechtgemacht mit winzigen Handschellen, Lederriemchen und Ketten. Leider hat so eine hochwertige Arbeit ihren Preis. Jede Puppe kostete 180,-.
Am allerhübschesten fand ich eine wassergefüllte Traumkugel, eine durchsichtige Kuppel, unter der es auf einen winzigen Friedhof schneit. Vor den Grabkreuzen stehen ein Gothic-Herr und eine Gothic-Dame. In meinen Augen sind das Rafa und ich. 70,- kostete dieses Einzelstück. Die hatte ich noch, und ich kaufte die Kuppel.
An einem Stand kaufte ich schwarzgoldenen Kirchenweihrauch. Man verdampft ihn in Schälchen aus selbstzündender Kohle. Der Geruch ähnelt dem von Rafa. Rafa ist eine Art Duftpüppchen, das sein Parfüm schon mitbringt.
Auf dem Festival traf ich auch Ruian, den ich aus dem "ZMK" kenne. Er erzählte, daß Fedor beinahe mit nach KA. gekommen wäre.
Ruian meinte, wenn Fedor ein Leben in Treue beginnen wollte, dann müßte er HH. verlassen; dort würde er seinen Ruf als Frauenheld nicht mehr los.
Mal möchte nun endlich doch eine CD herausbringen und den Tapesektor langsam verlassen. Ich bat ihn, wieder einmal in Norddeutschland ein Konzert zu geben. Mal hat den Wunsch, gemeinsam mit Imminent Starvation aufzutreten. Diese Band kenne ich noch gar nicht.
Edit und Bias waren ebenfalls auf dem Festival. Ich fragte sie, ob sie nicht auch einmal wieder nach H. kommen wollen. Von H. seien sie ganz weg, berichtete Edit. Es habe mit einem ehemaligen Mitarbeiter von ihnen zu tun.
"Einem ehemaligen Mitarbeiter?" fragte ich.
"Du kannst dir doch denken, welcher ehemalige Mitarbeiter."
"Ach, nein!" staunte ich. "Der ist aus eurer Redaktion 'rausgeflogen? Fechtner?"
Tatsächlich ist Ivo Fechtner aus der Redaktion der Musikzeitschrift geworfen worden, für die Edit und Bias arbeiten. Er war immer so stolz darauf gewesen, die Industrial-Rubrik ins Leben gerufen zu haben.
Helward, der auch zur "Mannschaft" gehört, sagte, es sei der Fehler gemacht worden, sich auf Ivo Fechtner zu verlassen.
"Allerdings - den Fehler habe ich damals auch gemacht", sagte ich. "Fechtner ist klein, aber er ist eine Zeitbombe. Irgendwann geht es mit ihm einfach nicht mehr."
Als ich Edit erzählte, daß Ivo Fechtner mich letztens im "Elizium" angerempelt hat, erfuhr ich, daß er auch Edit angerempelt hat. Außerdem hat er versucht, Helward die Treppe hinunterzuwerfen.
"Feige, von hinten", erzählte Helward.
Die Sängerin pflegt ebenfalls Leute die Treppe hinunterzuwerfen. Da sollten sich wohl Ivo Fechtner und die Sängerin zusammentun?
Als Edit hörte, daß Ivo Fechtner verbreitet, ich sei mit ihm zusammengewesen, rief sie: "Ouuh! Erzähl' bloß weiter!"
Ivo Fechtner muß für die gesamte Redaktion ein rotes Tuch geworden sein. Übrigens ließ er sich nach seinem unfreiwilligen Abschied noch für die Musikzeitschrift bemustern. Als die Redaktion bei einigen Labels anrief und nach Promos fragte, hieß es:
"Wir haben die doch dem Ivo Fechtner schon geschickt!"
Die Headliner in KA. - Die Form - gaben sich etwas zahmer als gewöhnlich. Mir wurde bei dem Auftritt dieses Mal nicht schlecht.
Während ich auf dem Festival war, waren Carl, Constri und Derek im "Elizium". Dort soll es neuerdings erst gegen zwei Uhr voll werden, dann aber richtig. Die Leute gehen wohl zunächst ins "Nachtlicht" und kommen dann ins "Elizium" herüber.
Xentrix spielte Esplendor Geometrico, und viele tanzten. Industrial scheint mehr und mehr Boden zu gewinnen in der Szene. Und die Szene scheint immer mehr Boden zu gewinnen in der Kulturlandschaft. In einem Anzeigenblättchen erschien kürzlich Talon auf der Titelseite, mit rosaroter Turmfrisur.
"Der schwarze Talon kommt nur nachts", lautete die Überschrift des Artikels.
Talon hatte das Interview genutzt, um mit Vorurteilen gegen Gothics aufzuräumen. Im selben Anzeigenblättchen erschien auch eine Plattenkritik über das neue Album "Nato" von Laibach. Das verwundert mich sehr, nehmen doch Laibach sogar innerhalb der Szene eine Außenseiterstellung ein.
U.W. ist samstags im "Nachtlicht" gewesen. Er sagte Rafa kurz Guten Abend. Rafa soll so angezogen gewesen sein wie am Freitag. Auf das Verhalten der Sängerin achtete U.W. nicht und konnte mir also auch nichts darüber berichten. Er meinte mir jedoch, daß die Türsteher wirklich ersetzt worden seien.
Laura erzählte am Telefon, daß sie am Freitag Fedor im "ZMK" wiedergetroffen hat. Er soll eine neue Freundin haben.
Am Samstag soll Fedor ins "Nachtlicht" und ins "Elizium" gekommen sein. Seine Freundin soll er nicht mitgebracht haben. Laura befaßte sich nur wenig mit ihm und flirtete mit anderen Jungen.
Kappa feierte im "Nachtlicht" seinen Geburtstag. Zu diesem Anlaß hatten sich viele Mädchen so wie er zurechtgemacht. Sie trugen schwarze Baseballmützen, wild toupierte Frisuren, weiße Hemden und schwarze Jacken. Meta sang sogar. Es gab ein Plakat zu kaufen, auf dem Kappa abgebildet war, als aufgestylter Szeneheld.
Rafa hat anscheinend zum zehnten oder elften Mal mit der Sängerin etwas angefangen. Er wurde von Laura frühmorgens an der runden Bar gesehen. Er saß auf einem Hocker. Die Sängerin saß ebenfalls auf einem Hocker, und ihre Beine lagen auf einem dritten Hocker. Ihre Arme lagen auf ihren Beinen. Rafa spielte auf ihren Armen und Beinen Klavier. Die Sängerin lächelte geschmeichelt. Doch sie erwiderte Rafas Zärtlichkeiten nicht. Und sie sah nicht zu Rafa, sondern zur Tanzfläche hinüber.
So kenne ich die Sängerin - sie weiß weder zu geben noch zu empfangen. Rafa braucht nicht zu befürchten, daß sie ihn innerlich erwärmt und ihn an sich bindet.
Nun hat er sie also wieder, und er wirbt auch fleißig um sie. Er soll viele gitarrenlastige Stücke gespielt haben, zu denen die Sängerin tanzt. Da konnte die Sängerin nach Herzenslust ins Leere schlagen und treten.
Rafa spielte schließlich nur noch Kassetten ab und ging dann mit der Sängerin fort.
Was das "Nachtlicht" betrifft, scheint Darryl sich entweder zu verschätzen oder absichtlich die Unwahrheit zu sagen. Auch U.W. hat sich wohl geirrt. Der Türsteher-Terror geht immer noch weiter. Siddra hat erzählt, daß ihr die Türsteher am Samstag die Tasche weggenommen und eine Mark dafür verlangt haben. Daria ließen sie hingegen unbehelligt durch.
"Warum darf Daria ihre Tasche mit 'reinnehmen?" fragte Siddra.
"Bei der ist das was anderes", höhnten die Türsteher. "Die kennen wir."
Constri meint, ich soll nicht die Flinte ins Korn werfen.
"Einmal Luft holen und dranbleiben", riet sie. "Nicht aufgeben."
Kappa schwankt, Darryl schwindelt, Rafa mauert sich ein. Wie kann ich auf diese Leute erzieherischen Einfluß gewinnen? Was soll noch alles geschehen?
Am Freitag fuhr ich nach HB. und holte in meiner Lieblingsboutique das Hemd aus anthrazitfarbener Wolle ab, das ich mir habe nachschneidern lassen. Aus dem Stoff gab es auch noch einen Faltenrock. Den wollen sie nach innen umschlagen - doppelt nehmen -, und so wird er minikurz.
Auf dem Domplatz war Mittelaltermarkt. Ich sah eine Truppe von Schauspielern, Gauklern und Musikern. Die Musik klang wie die von Corvus Corax; vielleicht waren es sogar diese Leute.
Durchgefroren kam ich zu Folter. Er hatte schon Kaffee für mich gemacht. Er verkaufte mir zwei CD's, die es nicht mehr im Handel gibt und auf der sich Lieblingsstücke von mir befinden. Eine ist die CD von Techno Animal, auf der ein Filmsample zerhackt wurde:
"Das ist das Ende ... das ist das Ende ... das ist das Ende ... das Ende ... das Ende ..."
Die andere ist die "Contrast" von SA 42 mit dem Stück "Programme not informatif".
Talis, Ellen, Carl und Constri kamen später nach. Derek hatte zuerst auch mitfahren wollen. Doch als Talis bei mir um die Ecke an der Tankstelle hielt, stieg Derek aus und versteckte sich so lange im Gebüsch, bis man ohne ihn fuhr.
Auf der "Crucifiction"-Veranstaltung traf ich Dag wieder. Ich sah es kommen, daß es mit dem Spaghettiessen in der Morgenfrühe nichts werden würde. Ich hatte nicht die Zeit, bis zum Schluß zu bleiben. Ich verabredete mit Dag, daß wir beim nächsten Mal das Essen vor der Tanznacht stattfinden lassen.
Viele Gäste bei "Crucifiction" trugen sehenswerte Kostüme. Einer hatte sich künstliche silberne Fingelnägel angeklebt, die länger waren als die Finger selbst.
Als ich später von Derek wissen wollte, weshalb er in die Büsche gelaufen und nicht mit nach HB. gekommen war, sagte er nur:
"Die wollten einfach nicht wegfahren!"
Den Grund für sein Versteckspiel nannte er nicht.



Am Samstag holte ich nach langer Zeit wieder mein ärmelloses Silberoberteil aus dem Schrank. Ich zog dazu den Organzarock an und die langen Handschuhe. Demnächst möchte ich mir noch silberne Schnürbänder kaufen und ein mit Silberstoff überzogenes Gummiband für die Haare.
Carl und ich kamen gegen ein Uhr ins "Elizium". Ich ging zum Podest und sah dort Daria am Tisch sitzen.
"Rafa ist ja auch da", sagte sie zu einem Mädchen.
Ich wollte eben meine Sachen auf einen Stuhl legen, das sagte das Mädchen:
"Der Stuhl ist aber besetzt."
Da war mir das Mädchen schon gleich nicht mehr geheuer.
In der Ecke links neben der Bar sah ich Rafa sitzen. Er trug einen Dreispitz. Xentrix sprach mit ihm und kam dann an mir vorbei. Ich grüßte Xentrix, und er sagte:
"Ich mußte mich eben erstmal des Charmes von Rafa erwehren."
"Oh! Womit hat er dich denn wieder vollgelabert?" fragte ich voller Neugierde und ging ein Stück mit ihm mit.
"Ach, der will CD's wiederhaben", antwortete Xentrix.
Ich konnte nicht zu Rafa gehen, weil nicht ausgeschlossen war, daß er eine Freundin hatte. Also stellte ich mich an die rechte Box zu Jason, Charlene, Chantal, Carl, dem siebzehnjährigen Marcel und Violet. Rafa ging zum DJ-Pult hinauf. Ich hätte mich gern vor die Treppe gestellt, damit ich ihm begegnete, wenn er wieder herunterkam. Doch es war keiner von meinen Leuten dort, und ich wollte mich nicht allein und offensichtlich abwartend dort hinstellen.
Etwas später griff eine vertraute Hand nach meinem Rücken, und eine vertraute Stimme sagte:
"Hallo."
Rafa stand sehr dicht hinter mir. Ich drehte mich gleich zu ihm um und nahm ihn in die Arme. Dabei wäre ich beinahe gegen sein Bierglas gekommen.
"Oh!" rief ich erschrocken. "Jetzt hätte ich ja fast dein Bier umgeschüttet!"
"Ja."
Es war Bier mit Cola. Rafa wirkte recht betrunken. Ich umarmte ihn nun zarter und streichelte ihn fortwährend. Er wehrte sich nicht; das lag wohl daran, daß er so betrunken war.
"Und? Wie geht's?" fragte ich ihn.
"Oh! Gut!"
Rafa sah wie ein untoter Seeräuber aus. Seine Kostümierung paßte zu dem Dreispitz; sie bestand aus einer schwarzen Jacke mit Metallknöpfen, einem weißen Rüschenhemd, Kniehosen, weißen Strümpfen und Schnallenschuhen. Rafas Ponysträhnen waren staubigweiß überfärbt, und er trug eine Augenklappe. Die hatte er sich hochgeklappt, und ich klappte sie ihm wieder herunter.
"Du hast aber wieder ganz schön viel getrunken, hm?" frage ich.
"Ziemlich!" sagt Rafa wie ein Kind, das auf seine Ungezogenheit stolz ist.
"Oh ...", staune ich.
Ich muß mich immer wieder an ihn kuscheln.
"Dein Mitbewohner heißt doch Carl, nicht?" fragt Rafa nach; entweder kann er sich den Namen nicht merken, oder er tut so.
"Ja, der heißt so", antworte ich. "Der heißt Carl."
"Kannst ihm sagen, er sieht heute voll niedlich aus. Echt - voll niedlich."
"So, daß du ihn am liebsten gleich vernaschen würdest, hm?" hauche ich und lecke Rafas Wange ab und küsse sie.
"Ja!" erwidert Rafa.
Violet nähert sich uns. Sie betrachtet Rafa und spricht ihn schließlich an:
"Darf ich mal kurz stören? Entschuldigung mal - soll das da hängen?"
Sie zeigt auf ein Stück Kunstspinnweben, daß an dem rechten Bein von Rafas Kniehosen hängengeblieben ist.
"Das ist vom 'Nachtlicht'", erzählt Rafa. "Das sind Spinnweben."
Ich zupfe ihm die Spinnweben vom Hosenbein. Dann lege ich wieder meine Arme um Rafa und streichle ihn weiter. Ich ziehe ihn auch an seinem Jabot herum.
"Es ist nämlich so - ich würde gerne auch in Zukunft ins 'Nachtlicht' gehen", beginne ich mein Herz auszuschütten. "Weil, ich gehe nämlich gerne ins 'Nachtlicht'. Aber die Türsteher werden zum Problem."
"Wieso?"
"Ja, die lassen mich nämlich praktisch nicht mehr durch."
"Kauf' dir eine Clubkarte."
"Das ist es nicht", erkläre ich. "Es ist so - die versuchen andauernd, mir die Tasche wegzunehmen. Und ich lasse mir meine Tasche nicht wegnehmen."
"Laß' sie doch 'reingucken", rät Rafa und will sich entfernen.
"Ja, aber die wollen nicht 'reingucken!" verdeutliche ich ihm die Lage. "Die wollen mir die wegnehmen!"
"Laß' sie 'reingucken", wiederholt Rafa. "Die können doch 'reingucken."
Ich halte ihn auf, indem ich seine Schultern umfasse.
"Wirklich", sage ich ernst. "Denen geht's gar nicht darum, 'reinzugucken. Die wollen mir die ganze Tasche immer wegnehmen."
"Sag' denen, ich bin da."
"O.k. Das ist o.k. O.k."
Genoveva kommt vorbei.
"Moment mal jetzt - ich muß noch mal ganz kurz mit ihr reden", versucht Rafa mich loszuwerden.
Ich streichle ihn immer noch.
"Ja, kann ich jetzt mal - läßt du uns jetzt mal ganz kurz alleine reden?" bittet Rafa.
"Ja, gut - wenn du mit ihr was anfangen willst", erwidere ich.
"Ja, will ich", behauptet Rafa.
"O.k., o.k., o.k.", sage ich und ziehe mich zurück.
Rafa geht mit Genoveva zur Bar. Nicht lange danach kommt Genoveva zu mir und erzählt mir etwas Häßliches aus dem "Nachtlicht". Darryl soll versuchen, Genoveva Hausverbot geben zu lassen - wegen irgendwelcher undurchsichtiger Intrigen. Darryl versteht sich wohl als der verlängerte Arm von Kappa. Kappa sieht sich von Feinden umgeben und wirft jeden aus dem "Nachtlicht", in dem er einen Gegner wittert.
Genoveva scheint mitnichten vorzuhaben, Rafas Freundin zu werden. Sonst würde sie sich mir gegenüber wohl anders verhalten. Allerdings begleitet sie Rafa wieder ins "Nachtlicht", nicht lange nach meinem Gespräch mit ihm. Die Sängerin sehe ich im "Elizium" erst, als Rafa fort ist. Sie steckt wieder in zerfetztem Trikotstoff. Darüber trägt sie das Kleid, dessen Rock nur aus zwei langen Pannesamtstreifen besteht. Die ganze Gestalt verhüllt ein schwarzer Schleier, der auf dem Kopf zusammengeknotet ist. Solche Schleier tragen zur Zeit auch noch andere Mädchen. Der Stil könnte gerade angesagt sein.
Das "Elizium" ist gut besucht. Ich bekomme erzählt, daß sich die Halloween-Veranstaltung im "Nachtlicht" nicht sehr lohnen soll. Die Musik soll zu wünschen übrig lassen, und man soll sich in der Menge kaum rühren können. So sind viele ins "Elizium" abgewandert. Freilich soll auch die "Elizium"-Halloween-Party in der vorherigen Nacht nicht überragend gewesen sein.
Die Musik, die Luie auflegt, gefällt mir, wenn ich ihn auch gelegentlich ermahne, weil er ins Gitarrenlastige abzurutschen droht. Zu "Whips & Kisses" von Call tanzen inzwischen schon recht viele Leute. Luie erfüllt meine Musikwünsche, darunter auch "Programme not informatif" von SA 42. Die CD habe ich ihm mitgebracht. Es ist die rare "Contrast", die Folter mir verkauft hat.
Carl erzählt mir, daß Rafa mit ihm angestoßen hat. Das geschah, kurz nachdem Rafa mit mir redete. Carl traf Rafa an der Bar. Rafa sah, daß Carl nichts mehr im Glas hatte und schüttete ihm aus seinem eigenen Glas etwas Bier hinein. Dann stieß er mit Carl an und sagte:
"Siehst du, so bin ich zu Leuten, die mir Zitronenscheiben an den Kopf werfen!"
Er lächelte Carl an - mit hochgeklappter Augenklappe -, und Carl lächelte zurück.
"Was 's' los?" fragte Rafa schließlich.
Carl hat nichts erwidert, weil ihm nichts Rechtes einfiel. Vielleicht fällt ihm beim nächsten Mal etwas ein ...?
Derek, Lenni und Lena kommen noch ins "Elizium". Constri ist schon müde gewesen und wollte schlafen. Derek ist brav und trinkt Cola statt Cola Pernod. Lenni und Lena berichten, daß sie am letzten Donnerstag im "Nachtlicht" waren. Donnerstags gibt es dort jetzt nicht mehr Industrial, sondern ein sogenanntes "Membership Event". Ace sollte ab zweiundzwanzig Uhr auflegen, kam aber erst um halb eins. Die Türsteher wollten auch Lena nicht mit ihrer Tasche durchlassen. Ich empfehle ihr, das zu tun, was auch ich tun möchte: dem Rafa bescheidzusagen.
Gegen halb fünf gehe ich hoch zu Luie, um meine CD's abzuholen. An der Trennschnur zum DJ-Pult steht ein rundliches Mädchen mit toupierten flachsblonden Haaren. Es ist eins von denen, die mit Daria am Tisch gesessen haben. Ich bitte Luie um meine CD's, und da fühlt sich das Mädchen wohl im Gespräch gestört.
"Hee, deine Erziehung war wohl nicht so ganz erfolgreich!" ruft es in einem recht unflätigen Tonfall.
"F... off!" schreie ich zurück, schon auf dem Weg nach unten. "Ich trete dich gleich in den A..., du blöde Zicke!"
Ich habe festgestellt, daß ich mich so verhalte, wenn ich mich auf sehr grobe Art angegriffen fühle. Das scheint daran zu liegen, daß solche Angreifer dadurch wirksam eingeschüchtert werden können. Es ist - sozusagen - "die Sprache, die sie verstehen".
Das Mädchen könnte eifersüchtig sein, weil ich zu den DJ's einen Draht habe. Nachdem es mit Luie geredet hat, hängt es sich an Xentrix und blockiert ihn für mich. Wer weiß, was es den Herren über mich erzählt ...
Ein Junge spricht mich an, der zum ersten Mal im "Elizium" ist. Er ist der Freund einer Patientin aus dem Krankenhaus, wo ich mein Praktisches Jahr mache.
"Hätte ich jetzt auch nicht gedacht, daß ich dich hier treffe", sagt der Junge.
Er möchte etwas wissen über die Herzkrankheit seiner Freundin. Ich kann ihm nicht sehr viel sagen, versuche ihn allerdings zu beruhigen. Der Junge fragt, ob er mich im Krankenhaus ansprechen dürfte.
"Sicher darfst du das", antworte ich. "Das geht doch die Leute nichts an, mit wem ich rede."
An die Schweigepflicht muß ich mich halten, doch der menschliche Kontakt kann mir nicht verboten werden. Leider sind in diesem Krankenhaus einige Leute gleicher als die anderen und spielen das auch aus. Ich sehe dem Ende meiner "Straflagerzeit" mit Freude entgegen.
Kurz nach fünf Uhr komme ich mit Carl in die U-Bahn-Station am CITICEN. Wir stellen fest, daß die nächste Bahn erst in zwanzig Minuten fährt und beschließen, die Zeit im "Nachtlicht" zu überbrücken.
"Dann kann ich auch gleich sehen, was mit den Türstehern ist", sage ich.
Ich schminke mich mit Hilfe des Handspiegels nach. Dann wagen wir den Versuch. Am Eingang des "Nachtlicht" sitzen die beiden mir schon bekannten Skinheads mit den nachgewachsenen Stoppelhaaren. Man hat sie nicht ausgetauscht. Die riesigen Jungen lümmeln sich in betont lässigen Posen auf Hockern, Geländern und Tischkanten und fangen gleich wieder an mit ihren üblichen Reden:
"Ja, das hatten wir schon, Rucksäcke könnt ihr gleich dalassen, könnt ihr gleich alles dalassen."
"Rafa hat gesagt, daß ich die Tasche mit 'reinnehmen kann", entgegne ich.
"Haha!" lachen die Türsteher. "Rafa hat hier überhaupt nichts zu sagen! Jeder gibt hier seine Tasche ab. Ihr könnt ja wieder gehen, wenn es euch nicht paßt."
"Ach ... gehen wir doch wieder", sage ich zu Carl, weil ich Auseinandersetzungen auf dieser Ebene nun einmal nicht mag.
"Jawoll! Jawoll!" frohlocken die Skinheads.
Da überlege ich es mir anders.
"Nee", sage ich. "Carl - mach's. Hol' ihn. Hol' Rafa. Gib mir deinen Rucksack und hol' Rafa."
"Rafa! Rafa hat hier überhaupt nichts zu sagen!" rufen die Türsteher. "Wir haben hier das Sagen! Wenn hier einer was zu sagen hat, sind wir das!"
Solange Carl fort ist, reden die Türsteher ohne Unterlaß weiter. Sie scheinen mich absichtlich reizen zu wollen. Besonders hämisch und frech ist der größere der beiden, ein muskelbepackter Kerl von fast zwei Metern Höhe, der ein T-Shirt in Tarnfarben trägt.
"Echt - ich frage mich, wie alt du bist", sagt er. "Zwölf?"
Ich lasse die Frage unbeantwortet.
"Von uns kannst du auch Hausverbot kriegen", droht der Skinhead.
Immer wieder betonen die Türsteher ihre Macht.
"So, so, ihr seid wohl die Chefs vom 'Nachtlicht'", unterbreche ich sie schließlich. "Deshalb habt ihr hier was zu sagen."
"Wir sind nicht die Chefs vom 'Nachtlicht'!" rufen sie da. "Aber wir haben trotzdem das Sagen!"
"Also seid ihr doch die Chefs; ihr habt ja das Sagen."
"Wir sind nicht die Chefs, aber wenn der Chef nicht da ist, haben wir das Sagen."
Nach kaum zwei Minuten kommen Rafa und Carl die Treppe herauf. Rafa wirkt nüchtern und sehr wütend.
"So!" fängt er an und stellt sich vor die Skinheads. "Das mit der Tasche ist o.k., ja?"
"Nichts!" rufen die Skinheads. "Die Tasche bleibt hier! Alle Taschen bleiben hier!"
"Sie ist eine Freundin von mir, und sie nimmt ihre Tasche mit 'rein, das ist schon klar."
"Sie macht gar nichts! Und du sagst hier gar nichts!"
Ich stelle mich neben Rafa, umarme ihn, lege meinen Kopf auf seine Schulter und schließe die Augen. Rafa wird nun erst recht leidenschaftlich und zornig. Es scheint ihm im Innersten zu widerstreben, den Türstehern das Feld zu überlassen.
"Das ist o.k., sie nimmt ihre Tasche mit 'rein, fertig", verteidigt er mich.
"Die nimmt die nicht mit 'rein! Wir entscheiden das hier!"
"Die braucht ihre Tasche, und fertig."
"Ja, nee, es geht da gar nicht drum; es geht dadrum, daß wir das immer hier haben", geben sich die Türsteher entnervt. "Das ist immer dasselbe, und deshalb läßt sie die hier, und da gibt es nichts. Die bleibt hier. Das ist Gesetz."
Rafa riecht so unfaßbar gut. Ich kann nicht genug bekommen von diesem seltsamen Geruch zwischen Weihrauch und Patchouli.
"Das ist eine Freundin von mir, und die nimmt ihre Tasche jetzt mit 'rein, fertig", sagt Rafa.
"Das interessiert hier überhaupt nicht!" schreien die Türsteher.
"Die nimmt die mit 'rein, und das ist jetzt klar", bleibt Rafa fest. "Ich will jetzt hier auch keinen Streß und so weiter."
"Die nimmt die nicht mit 'rein! Das sind die Regeln! Und du hast hier gar nichts zu sagen! Du hast hier überhaupt nichts zu sagen!"
"Hee!" schreit Rafa. "Das ist meine Freundin, und die nimmt die Tasche jetzt mit 'rein, verdammt nochmal! Basta! Aus!"
Es geht noch einige Minuten hin und her. Schließlich sagt Rafa kühl:
"So. O.k. Also. Die Tasche, das ist jetzt hier -"
Dann wendet er sich an mich:
"Gib mir die Tasche."
Ich gebe ihm die Tasche, und er sagt:
"So. Moment mal. Moment."
Er geht kurz vor die Tür. Dann kommt er wieder nach drinnen und erklärt:
"O.k., darf mit 'rein, los."
Und er marschiert mit der Tasche die Treppe hinunter, begleitet von mir und von Carl, der seinen Rucksack trägt. Im Gehen lege ich wieder die Arme um Rafa. Vor dem Treppchen zum DJ-Pult bleibt er stehen.
"He! Laß' mir die Tasche nochmal einen Augenblick!" rät er.
Ich umarme ihn immer noch und kuschle meine Wange an seine Schulter.
"Du bist spitze", sage ich. "Du bist spitze."
Ich streichle Rafa und schaue ihm ins Gesicht; er trägt keine Augenklappe mehr.
"Ja, ja, ist schon gut, schon gut", wehrt er mich sanft ab.
Ich umarme ihn trotz seines Widerstands ganz ungestüm und sage ihm ins Ohr:
"Ich wußte es. Ich wußte es."
"Was wußtest du?"
"Daß du spitze bist."
"Ja, ja, nun gut, nun gut ... nerv' ... nerv' ... is' gut ..."
"Tja."
Rafa lächelt mich an, warm und scheu. Es zuckt um seinen Mund. Ich kenne dieses Zucken; Rafa hat das, wenn ihn etwas besonders anrührt oder verlegen macht.
"Ja, du bist absolute Spitze", muß ich Rafa gleich noch einmal loben. "Du bist absolute Spitze."
Er wehrt sich wieder. Zögernd nehme ich meine Arme von seinen Schultern.
"Laß' mir die Tasche nochmal ein bißchen", sagt Rafa und scheint Hintergedanken zu haben.
"Nur meine Handschuhe möchte ich 'rausholen", bitte ich.
"Nee, nee", erwidert Rafa. "Laß' mir die nochmal ein bißchen. Laß' sie mir nochmal ein bißchen."
Ich kuschle mich weiter an ihn. Nach einer Weile sagt er:
"Ach, die kommen wohl nicht mehr 'runter."
Er gibt mir die Tasche. Ich kann nun meinen Mantel aus und meine Handschuhe anziehen. Den Mantel und die Tasche lege ich auf die Box beim DJ-Pult, dorthin, wo die Sängerin und Velvet so oft gelauert haben. Meinen Schirm lege ich auch dazu; den hat man mir nicht wegnehmen wollen.
Rafa geht und redet mit einigen Leuten. Ich sehe Daria vor der Hauptbar stehen. Sie konnte mitbekommen, wie Rafa und ich uns beim DJ-Pult umarmt haben.
Rafa stellt sich nicht mehr hinters DJ-Pult; Darryl legt auf. Der sonst eher schlichte Darryl hat sich feingemacht. Seine Haare sind hochgestellt, staubigweiß überfärbt und mit einem Stirnband umknotet. Er trägt ein weißes Hemd. Carl erfindet für Darryl den Namen "Mini-Kappa".
Ich unterhalte mich mit Carl im Rondell. Auf einmal sehe ich Rafa vor der runden Bank. Der größere der beiden Türsteher ist doch noch heruntergekommen und schreit Rafa an. Rafa schreit zurück. Ich knie mich auf die gepolsterte Rundbank und rutsche langsam an die beiden heran.
"Ja, Rafa ist hier der King!" brüllt der Türsteher. "Alles klar!"
Er packt Rafa und schüttelt ihn und wirft ihn rückwärts über die Bank. Ich umgreife Rafa mit meinen Armen und schreie dem Türsteher ins Gesicht:
"Du kriegst gleich eins in die Fresse!"
"Von dir?" lacht der Türsteher und stößt mich weg, so daß ich zwischen Rafa und der Bank auf dem Boden lande.
"Jawohl! Von mir!" schreie ich und bin schon wieder auf den Füßen.
Rafa redet laut. Ich blicke den Türsteher wild an und murmele:
"Ich stech' dir in die Augen."
Der Türsteher läßt von uns ab. Er geht um die Hauptbar herum in den schmalen Gang bei den Toiletten, gefolgt von Rafa. Ich gehe hinter Rafa her. Bei dem Fall habe ich mir nichts getan, rein gar nichts. Sogar meine Strumpfhose ist heil geblieben. Doch es ist und bleibt ein tätlicher Angriff. Außerdem hätte auch Rafa etwas passieren können, und das regt mich ganz besonders auf.
Der Skinhead bleibt im Gang stehen. Rafa öffnet eine Tür, die zu den Räumen des "Nachtlicht"Personals führt. Bevor er dort verschwindet, umfasse ich kurz von hinten seine Taille und sage:
"Das ist ja wohl Zeit für eine Anzeige wegen Körperverletzung."
Meta nähert sich, im einem fließenden, silberweiß schimmernden Abendkleid, und wirkt ungehalten. Sie sagt etwas wie:
"Hier, also jetzt mal ... hier, also jetzt mal ..."
So ungehalten ist auch Velvet gewesen, als ich es ihr vereiteln wollte, Derek mitzunehmen. Es stört Meta wohl, daß es zwischen Rafa und mir so innig wurde.
Auch die Sängerin hat der Wirbel auf den Plan gerufen. Sie kommt ebenfalls in den Gang, schwarzumschleiert, und beginnt ein Gespräch mit dem Türsteher. Das sind mir zu viele Mädchen. Ich gehe wieder zum Rondell. Der Türsteher brüllt mir etwas nach wie "Hausverbot!", und ich schreie zurück:
"Das werden wir ja sehen, du Drecksack!"
Die Sängerin guckt mich an mit einem verwunderten und überaus giftigen Blick.
Carl und ich hoffen beide, daß den Türstehern nun endlich gekündigt wird. Wir nehmen beide an, daß Kappa es nicht duldet, wenn einer seiner Angestellten auf Rafa einschlägt. Dennoch habe ich das Gefühl, daß es für mich im "Nachtlicht" noch etwas zu tun gibt.
Im Rondell sitzen Elsa und Nora. Sie haben die Tätlichkeiten des Skinheads beobachtet.
"Was war denn da eben los?" fragt mich Nora. "Was war denn da los? Ich habe da gesehen, die haben dich ja voll über den Haufen geschmissen, voll zwischen die Stühle geschmissen und sowas."
"Ja, das sind die Türsteher da, ne?" erwidere ich und berichte den Mädchen, wie es zu dem Angriff gekommen ist.
Elsa und Nora freuen sich sehr darüber , daß sie in der November-Ausgabe des Stadtmagazins zu sehen sind.
"Oh! Ich sehe so bescheuert aus!" ruft jede und ist etwas verschämt.
Dann müssen sie erst einmal einen Tequila trinken.
Ich tanze im "Nachtlicht" nur zu einem Lied, "Ignore the Machine" von Alien Sex Fiend. Danach nehme ich bei Nora auf der runden Bank Platz. Sie zeigt mir ihren Rucksack, den sie unterm Mantel ins "Nachtlicht" hat schmuggeln müssen.
Daria verabschiedet sich von Carl und Elsa und geht. Sie hat in ihren Bewegungen etwas Hartes; es wirkt, als wollte sie jemanden schlagen.
"Daria scheint ja heute auch nicht gerade gute Laune zu haben", sage ich zu Nora.
"Ich kenne sie ja auch gar nicht weiter", entgegnet die.
"Ja, das war nämlich so", erzähle ich von Daria, "ich kenne sie nämlich eigentlich ganz gut. Wir haben uns dieses Frühjahr und Sommer ziemlich gut verstanden. Aber dann kam da dieser Ivo Fechtner, der wie ein kleines rasiertes Ferkel aussieht. Der wollte mal was von mir, und er konnte bei mir nicht landen, und darüber kam er nicht hinweg und hat dann Intrigen immer mal wieder in die Welt gesetzt. Und jetzt hat der neuerdings verbreitet, ich wäre mit ihm zusammengewesen, und das hat der dann alles Daria erzählt, und die hat ihm alles geglaubt und war auf einmal zu mir total abweisend, und als Antwort darauf schneide ich sie. Und ich denke, sie ärgert sich jetzt ganz furchtbar über sich selber."
"Intrigen gehören einfach so irgendwie doch dazu", findet Nora.
"Ja, gut, die mögen ja dazugehören", erwidere ich, "aber ich finde es nicht in Ordnung, wenn ein Mensch einen anderen einfach so abfahren läßt und wenn er ihm keine Chance gibt. Da kann da nur irgendeiner kommen und Daria was erzählen; sie glaubt das sofort und fragt mich nicht, und das ist für mich ein Zeichen von Schwäche."
Nora stimmt mir zu.
Ich bleibe auf der runden Bank sitzen. Rafa erscheint wieder. Er kommt nicht mehr ins Rondell. Er redet noch kurz mit diesem und jenem - auch Darryl -, holt hinterm DJ-Pult seinen Rucksack hervor und verläßt das "Nachtlicht" in Begleitung. Wer ihn begleitet, kann ich nicht feststellen. Ich sehe nur, daß mehrere Mädchen mit ihm die Treppe hinaufgehen.
"Er wird eine Freundin haben", denke ich.
Carl möchte heim, ich nicht. Wir treffen uns auf der Mitte und warten noch etwas. Dann gehe ich zu dem Lautsprecher beim DJ-Pult, um meine Sachen zu holen. Kappa erscheint beim Treppchen. Er hat einen schlichten schwarzen Mantel an und trägt seine Baseballmütze. Seine Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er spricht mit dem etwas kleineren der beiden Türsteher. Ich sehe Kappa freundlich an und warte darauf, daß er mich bemerkt. Schließlich wendet er sich mir zu. Ich grüße ihn.
"Was ist hier los?" fragt er. "Was ist hier los?"
"Das möchte ich dir ja gerade erzählen", entgegne ich. "Laß' uns doch einmal in irgendeine Ecke setzen, und dann erzähle ich dir das."
Ich berichte Kappa in einem kurzen Überblick, daß es darum geht, daß den Gästen die Taschen weggenommen werden.
"Wir haben hier normalerweise die Anweisung 'keine Taschen'", sagt Kappa.
"Und was ist, wenn jemand sie braucht?" wende ich ein.
"Ja, da machen wir dann eine Ausnahme", verspricht Kappa.
"Ja, alle müssen sich nach den Regeln richten", sagt der Skinhead voll Genugtuung zu mir und straft Kappas Versprechen Lügen. "Das gilt für jeden. Das gilt auch für dich."
Ich folge Kappa, der mit hastigen Schritten zur Bar geht.
"Wieso, was ist hier los?" ruft er aufgeregt und zeigt zu Darryl hinüber. "Wieso steht dieser Hampelmann hinterm DJ-Pult?"
Bei den Toiletten lehnt der größere Türsteher an der Theke. Er stellt sich Kappa in den Weg und will mit ihm sprechen.
"Ich möchte mich gerne mit Kappa allein unterhalten", gehe ich dazwischen und lege Kappa eine Hand auf die Schulter.
"Ich hab' da doch wohl mitzureden!" protestiert der Türsteher.
"Nein, ich möchte jetzt mit Kappa allein sprechen", sage ich bestimmt.
"Eh - Moment mal, ich red' ja gleich mit dir", beruhigt Kappa den Türsteher. "Aber erst red' ich mit ihr. Ich red' erst mit ihr und dann mit dir, o.k."
Der Türsteher gibt sich zufrieden.
"So, einmal Zigaretten und eine Cola", sagt Kappa und geht an den Zigarettenautomaten.
"Große oder kleine Cola?" will Meta wissen.
"Das ist egal", antworte ich an Kappas Statt, um Zeit zu sparen.
Meta reicht Kappa einen Bierhumpen mit Cola.
"Hast du überhaupt geschlafen?" fragt sie ihn fürsorglich.
Meta verhält sich wie eine Chefsekretärin, die es nicht leiden kann, wenn man ihren Schützling stört, gleich, aus welchem Grund. Daß im "Nachtlicht" auf Gäste und DJ's eingeschlagen wird, scheint für Meta weniger schlimm zu sein als die Tatsache, daß Kappa aufgeweckt worden ist.
Rafa war es wohl, der Kappa angerufen und ihn hergebeten hat. Merkwürdig ist nur, daß Rafa selbst nicht im "Nachtlicht" blieb. Die Ereignisse haben ihn wohl überfordert.
Rafa hat mir Kappa übergeben. Ich nehme ihn mir also.
"Laßt die CD durchlaufen", ordnet Kappa an.
Dann kommt er mit mir, und ich frage ihn:
"Wo können wir uns hier zurückziehen und in Ruhe reden?"
"Setzen wir uns doch hinten in die Ecke."
Ich gehe Kappa voraus zur hintersten Bank im Rondell. Ich mache eine einladende Handbewegung. Kappa setzt sich zuerst an den Tisch, und ich rücke nach.
"Also", beginne ich, "mir liegt sehr viel am 'Nachtlicht'. Ich mag den Laden sehr gerne. Aber hier sind einige Dinge, die nicht in Ordnung sind."
Ich erzähle, was sich abgespielt hat. Ich betone, daß Rafa körperlich angegriffen wurde und vergesse darüber, daß es mir ebenso ergangen ist.
"Es geht mir darum, den Laden zu erhalten und auch das Ansehen, den Ruf des Ladens zu erhalten", schließe ich meinen Bericht.
Mir fällt auf, daß ich mit bewegter Stimme spreche, als müßte ich weinen.
"Rafa hat sich fehlverhalten", sagt Kappa zu der Angelegenheit. "Rafa gibt hier nicht die Anweisungen. Die Anweisungen gebe ich. Und wenn ich nicht da bin, geben sie die Türsteher."
"Die Türsteher haben sich aber auch nicht nach deinen Anweisungen gerichtet."
"Die Türsteher haben sich auch fehlverhalten. Alle Parteien haben sich fehlverhalten."
Ich versuche Kappa auseinanderzusetzen, daß ich einen tätlichen Angriff weit schwerwiegender finde als einen Angriff mit Worten. Das ist nicht leicht, denn Kappa läßt mich kaum ausreden. Er wittert wohl in jedem Satz von mir Kritik, und davor fürchtet er sich. Ich verschaffe mir Gehör, indem ich Kappa auf die Schulter klopfe und so lange "Ja, ja" sage, bis er beruhigt ist und für einen Augenblick nicht redet.
Kappa scheint sich sehr an "Regeln" und "Gesetzen" festzuhalten. Er sucht in ihnen wohl Sicherheit in seiner Unsicherheit. Ich versuche, darauf einzugehen.
"Rafa hat sich nicht an die Regeln gehalten", stimme ich Kappa zu, "aber das rechtfertigt nicht, daß ihn der Türsteher zusammenhaut."
"Dafür kriegt der auch noch seine Ansage", versichert mir Kappa. "Aber ich kann ihn jetzt nicht mehr 'rauswerfen. Es wäre ja alles erledigt gewesen, wenn Rafa gemacht hätte, was die Türsteher sagen. Dann hätte ich am nächsten Tag die Türsteher 'rauswerfen können. Jetzt gibt es keine Handhabe mehr, die 'rauszuwerfen."
Der Ansicht bin ich nicht. Und noch weniger bin ich der Ansicht, daß Rafas Tat ein Fehler war.
"Richte Rafa bitte von mir aus, daß er spitze ist", sage ich zu dem staunenden Kappa. "Er ist absolute Spitze. Er ist supergeil."
"Ich richte es ihm aus", erwidert Kappa zögernd. "Aber es geht hier um Regeln, und die müssen eingehalten werden."
"Schon, aber er hat mich in Schutz genommen", halte ich dagegen. "Er hat mich verteidigt. Und es geht ja hier nicht nur darum, daß die Türsteher mir hier die Taschen wegnehmen. Es geht auch darum, daß die Türsteher mich beleidigt haben. Darum geht es. Und Rafa hat mich gegen Leute in Schutz genommen, die mich beleidigt haben, und das ist der Punkt. Ich finde, daß Rafa sich genau richtig verhalten hat."
"Der Rafa hat sich fehlverhalten."
"Na gut, das ist deine Meinung", entgegne ich. "Du hast ein Recht auf deine Meinung. Jeder hat ein Recht auf seine Meinung."
"Das ist keine Frage von Meinung, das ist eine Frage von Verantwortung", behauptet Kappa. "Wenn hier was passiert, gehe ich in den Bau und nicht Rafa."
Kappa hält sich für verantwortungsbewußt, wenn er sich nach theoretischen Vorgaben richtet.
"Es geht hier nicht nur um die Taschen, sondern auch um Beleidigung", gebe ich zu bedenken. "Die Türsteher nehmen den Leuten nicht nur die Taschen weg. Sie haben auch einen extrem unflätigen Tonfall. Und das hat sicherlich schon viele Gäste vergrault."
"Find' mal Türsteher, die anders sind", erwidert Kappa etwas hilflos. "Im 'Elizium' sind die doch auch so."
"Nein, im 'Elizium' lassen sie die Gäste in Ruhe."
Ich hinterfrage Kappas "Gesetze":
"Waffen kann man auch anders 'reinschmuggeln; dafür braucht man keine Tasche. Wieso willst du den Leuten unbedingt die Taschen wegnehmen?"
"Ja, da sind schon so viele Sachen passiert."
"Im 'Elizium' geht das auch so, ohne daß die Leute die Taschen abgeben müssen."
"Im 'Elizium' haben die eben bislang nur verdammtes Glück gehabt", meint Kappa. "Das ist nicht professionell. Ich bin professionell."
"Ich war auf einem großen Festival in KA.", erzähle ich. "Da haben sie den Leuten die Taschen nicht weggenommen. Da durfte man nur keine Flaschen, Dosen und so weiter mit 'reinnehmen."
"Dann waren die eben auch nicht professionell."
"Was ist denn professionell?" möchte ich wissen.
"Professionell ist, wenn man überhaupt nichts mit 'reinnehmen darf", antwortet Kappa. "Nach dem Gesetz ist noch nicht mal Haarspray erlaubt."
Ich möchte Kappa vor Augen führen, daß Theorie und Praxis nicht immer vereinbar sind.
"Was soll an Haarspray gefährlich sein?" frage ich.
"Das ist eine Druckflasche, und die kann platzen", erwidert Kappa, und es klingt, als hätte er das irgendwo gelesen.
"Und wenn man Flaschen ohne Treibgas nimmt?" frage ich weiter.
"Ist immer noch brennbar", sagt Kappa mit einem Lächeln.
Anscheinend wird ihm klar, daß man grundsätzlich alles als "Waffe" oder "gefährlich" bezeichnen kann, von der Uhu-Tube bis zum Regenschirm. Eigentlich müßte man auch seine Knochen und Zähne an der Garderobe abgeben.
"In der Praxis sieht das ganz anders aus", erkläre ich.
"Ja, gut, ja, gut, gegen Haarspray will ich auch gar nichts sagen", erwidert Kappa rasch. "Von mir aus darfst du Haarspray mit 'reinnehmen."
"Das ist in Ordnung."
"Wenn Mädchen sich nachschminken müssen, dürfen sie ihre Taschen mit 'reinnehmen."
"Ja, gut. Das heißt - man kann auch seine Bürste mit 'reinnehmen ... und den Fächer ..."
"Ja. Es sei denn, daß mal großer Andrang ist und die Türsteher keine Zeit haben, in jede Tasche zu gucken."
"Was soll ich denn genau tun, wenn ich meine Tasche mit 'reinnehmen will?"
"Du sagst höflich, du brauchst deine Tasche zum Schminken, und dann gucken die die nur durch und lassen dich 'rein."
"Und was ist, wenn sie es nicht tun? Der eine, der hat mich nämlich auf dem Kieker. Der hat einen Hass auf mich."
"Ja, dann sagst du es mir, wenn ich unten bin, gleich - oder am nächsten Tag. Es ist keine Sache für die Nacht, sondern eine für den nächsten Morgen, und dann ziehe ich Konsequenzen, und die können hart sein. Die können heißen, daß die Türsteher 'rausfliegen. Spätestens am nächsten Tag teilst du es mir mit, und dann werden die Konsequenzen gezogen. Dann geht das Spiel los: Türsteher 'raus, andere ausprobieren und so weiter."
"Ja, und ich warte und hoffe auf diese Konsequenzen."
"Ich hätte die Türsteher 'rauswerfen können, aber jetzt kann ich es nicht mehr. Ich habe keine Handhabe mehr."
"Ich sage nur - bis der Türsteher jemanden umbringt", warne ich. "Dann habt ihr wirklich euren Skandal."
"Es war falsch, daß Rafa mit deiner Tasche da 'reingelaufen ist", tadelt Kappa.
"Rafa weiß, was in meiner Tasche drin ist", entgegne ich.
Kappa sucht nach Kompromissen:
"Kannst du da nicht vielleicht auch eine kleinere Tasche ... für Schminkzeug?"
"Nein, da ist mein Schminkzeug, mein Kamm, meine Bürste drin, da ist mein ganzes Zeug drin. Die ist immer so groß, da kann ich nichts machen."
"Ja, gut."
Einer der Türsteher - Karol - macht um den Tisch herum sauber.
"Hier! Gesetz ist Gesetz!" ruft er mir zu. "Und das gilt auch für dich!"
"Siehst du?" sage ich zu Kappa.
"Das gilt auch für die!" ruft Karol und weist auf mich. "Die kann auch nicht ... Gesetz ist Gesetz!"
"Hier, Moment mal!" ruft Kappa. "Komm' mal her, du!"
Er steht auf und geht Karol ein paar Schritte hinterher. Nach kurzem Wortwechsel sagt Karol in bemühtem, unterwürfigem Tonfall:
"Ja, ist ja schon o.k., ist ja schon o.k."
Auch Hunde hören meistens nur auf ihr Herrchen.
"Siehst du, es geht doch", zeigt mir Kappa stolz, wie ihm der Türsteher aufs Wort folgt. "Karol ist ein Lieber."
Die Musik schweigt. Kappa springt auf.
"Was ist denn das hier?" ruft er in den Saal. "Macht da mal jemand Musik weiter!"
Er geht hinters DJ-Pult und legt Musik ein. Ich nehme an, er füllt einen CD-Wechsler.
"Heroes" von David Bowie ist zu hören. Es sind noch Leute da, die tanzen, und sie jubeln. Ich freue mich, daß Kappa nicht wegläuft, sondern zu mir zurückkommt, um das Gespräch fortzusetzen. Freilich ist Kappa der Ansicht, daß es nicht mehr viel zu bereden gibt.
"In dem einen wesentlichen Punkt haben wir uns doch bereits geeinigt", sagt er.
"In dem Punkt haben wir uns auch geeinigt", stimme ich ihm zu.
Ich möchte aber mehr erreichen. Ich möchte erreichen, daß den Türstehern gekündigt wird.
"Ich bezweifle, daß die Türsteher zu ihrer Aufgabe fähig sind", sage ich. "Die Gäste sind hier friedlich, und die Türsteher sind Randalierer, und das ist ein Mißverhältnis."
Kappa stört sich daran, daß ich immer "die Türsteher" sage. Er glaubt, daß ich seine sämtlichen Angestellten schlechtmachen will.
"Es geht hier vor allem um den Lennart", lenke ich ein. "Gegen die anderen Angestellten habe ich nichts gesagt."
Sasa setzt sich links neben mich und erinnert Kappa daran, daß Lennart mich zu Boden geworfen hat.
"Das kommt auch noch dazu", erzähle ich Kappa. "Das ist zwar nur eine Nebensache, aber es kommt auch noch dazu."
"Das war aber wirklich ganz schön heftig", meint Sasa, "und ich möchte mir sowas hier nicht ansehen müssen. Das verdirbt mir wirklich den Spaß hier. Das macht mir dann keinen Spaß mehr hier, wenn ich mir sowas hier ansehen muß."
"Na ja, es ging ja in dem Fall nicht um mich", werfe ich ein. "Es geht darum, daß er Rafa nichts tut."
"Wenn ich hier sowas erleben würde, wäre das für mich schon ein Grund, nie wieder hierher zu kommen", meint Sasa.
Kappa möchte darauf abstellen, daß ich die Türsteher gleichfalls gereizt habe.
"Ich habe mit den Türstehern nur genau zweimal geredet", erzähle ich, "einmal am Anfang, bevor Rafa eingegriffen hat und dann erst wieder in dem Moment, wo der eine Rafa über die Bank geworfen hat. Da habe ich gerufen:
'Du kriegst gleich eins in die Fresse!'
Und das habe ich gerufen, um ihn zu verteidigen. Du glaubst mir nicht, hm?"
"Doch, ich glaube dir", versichert Kappa.
"Eh, das kommt mir aber nicht so vor."
"Was ich da gesehen habe, das war echt nicht mehr schön", sagt Sasa wütend. "Ich meine, ich kenne Hetty kaum, aber das weiß ich, daß die kein Mensch ist, der einfach so jemanden provoziert. Zwischen die Barhocker schmeißen, das war bestimmt nicht mehr verhältnismäßig. Echt, das kenne ich gar nicht, das ist in keinem Laden so, daß die Türsteher die Gäste durch die Gegend schmeißen können. Das geht so nicht. Ich sage, dein Laden wird auf Dauer zu Bruch gehen, wenn du sowas duldest. Es wird ja schon die ganze Zeit schlecht über das 'Nachtlicht' geredet, weil da solche Sachen abgehen."
"Trotzdem, wenn ich den Lennart jetzt 'rauswerfen würde, müßte ich Rafa auch 'rauswerfen", entgegnet Kappa, "und ich werfe Rafa nicht 'raus, weil, Rafa ist mein Freund."
Kappa findet, daß ein tätlicher Angriff seitens der Türsteher kein Kündigungsgrund ist. Er sieht die Schuld bei Rafa, der die Türsteher gereizt hat.
Sasa findet nicht, daß Rafa sich "fehlverhalten" hat. Sie nimmt ihn in Schutz.
"Wenn ich jemanden in Schutz nehme, den ich nicht mag, dann muß das schon einen ernsten Grund dafür geben", sagt sie.
Wie Kappa redet Sasa viel und schnell und ohne Punkt und Komma. So wird aus dem Gespräch von Sasa und Kappa schnell ein Streit. Ich versuche, Sasa und Kappa abwechselnd zu beruhigen.
"Sasa, ruhig, ruhig, es geht jetzt nicht, es hat jetzt keinen Zweck", sage ich, wenn Sasa Kappa dazwischenreden will.
Dem Kappa lege ich immer wieder die Hand auf die Schulter und sage:
"Ja, ja."
Und ich verfolge weiter mein Ziel:
"Es gibt doch schon eine Handhabe, Lennart 'rauszuwerfen, nämlich die, daß er tätliche Übergriffe gemacht hat, daß er Rafa zusammenhauen wollte."
Kappa bittet um etwas Zeit:
"Ich habe jetzt noch mit niemandem geredet. Ich habe das noch nicht mal andiskutiert."
"Nun gut, du hast jetzt Zeit, um nachzudenken", sage ich. "Du hast Zeit, um mit allen Leuten zu reden. Du wirst jetzt darüber nachdenken, und dann wird sich das finden. Es wird eine Entscheidung geben, in welche Richtung auch immer. Es wird irgendwann eine Entscheidung geben."
Sasa wirft Kappa auch vor, daß im "Nachtlicht" mehrere Gäste nur deshalb Hausverbot bekommen hätten, weil jemand sie bei Kappa angeschwärzt hat.
"Früher habe ich mich immer gut mit dir verstanden", sagt sie zu Kappa. "Ich habe immer gerne mit dir geredet. Du hast damals zu mir gesagt, du willst einen Laden, in dem es keine Intrigen gibt. Und jetzt werden Leute nur aufgrund von übler Nachrede aus dem 'Nachtlicht' geworfen. Das kann ich nicht akzeptieren. Es werden auch immer wieder Rufe laut aus dem Umkreis, daß das mit dem 'Nachtlicht' wohl nicht so toll ist."
Kappa vergräbt sich in Minderwertigkeitsgefühlen:
"Ja, ja, ich weiß, ich weiß, alle Leute sagen immer, ich bin Sch..., und trotzdem mache ich jetzt schon seit dreizehn Jahren ..."
"Ich habe nie gesagt, daß du Sch... bist", suche ich Kappas finsteres Weltbild lichter zu machen.
"Du brauchst dich doch nicht zu rechtfertigen", sagt Sasa zu mir.
Die Auseinandersetzung geht noch eine Weile; dann bekommt Kappa die Nachricht, da sei ein Anruf für ihn.
"Moment, ich muß mal kurz ans Telefon", entschuldigt er sich und verschwindet im Hinterzimmer.
Sasa und ich warten. Sasa möchte sich mit Kappa unbedingt wieder vertragen.
"Ich will das mit dem noch klären", sagt sie. "Ich hoffe, der kommt bald wieder."
Sie ist sehr erhitzt und redet immer noch ohne Punkt und Komma.
"Sasa!" rufe ich mehrmals leise und warte, bis sie mir zuhört. "Sasa! Ich gebe dir einen guten Rat. Kappa ist sehr oft angegriffen worden in seinem Leben."
"Allerdings!" ruft Darryl, der zu uns an den Tisch getreten ist.
"Der verträgt praktisch keine Kritik", fahre ich fort. "Du mußt ihn ganz vorsichtig anfassen, mit Samthandschuhen. Du mußt im freundschaftlichen Tonfall kommen, niemals im streitenden Tonfall. Im Streittonfall erreichst du bei ihm überhaupt nichts. Du mußt ihn wirklich sehr zart anfassen."
"Den Rat würde ich befolgen", sagt Darryl eindringlich zu Sasa. "Das würde ich unbedingt befolgen!"
Ich empfehle Sasa, nach jedem Satz, den sie sagt, eine Pause zu machen und Kappa stets ausreden zu lassen. So kommt Kappa nicht in Verteidigungsbereitschaft und gewinnt Vertrauen zu ihr. Ich sage Sasa, daß man bei Kappa nur etwas erreicht, wenn man sein Vertrauen erwirbt. Darryl bestärkt mich darin.
"Ich will nicht alles hinnehmen", sagt Sasa. "Ich will nicht alles fressen. In zwei Jahren Therapie habe ich gelernt, nicht alles in mich 'reinzufressen."
"Das mußt du auch nicht", erwidere ich. "Deine Wut ist berechtigt. Nur darfst du sie Kappa nicht unmittelbar zeigen."
"Du mußt das mehr hintenrum machen, so daß er es nicht merkt", rät Darryl.
Er verteilt Zigaretten. Auch Carl bekommt eine.
"Ich rauche nicht", sage ich.
"Weiß ich doch", sagt Darryl. "Wir kennen uns doch auch nicht erst seit gestern."
Carl möchte aufbrechen. Ich ziehe meinen Mantel an. Gerade will ich Carl nach oben folgen, da sehe ich, wie Sasa und Darryl sich vor den Toiletten umarmen.
"Sie sind verliebt", denke ich.
Ich gehe zu den beiden und will mich verabschieden. Sasa kann sich noch nicht entschließen, heimzufahren. Sie möchte noch ein wenig auf Kappa warten. Jemand kommt aus dem Hinterzimmer und berichtet:
"Das dauert noch mit Kappa."
"Der telefoniert bestimmt mit Rafa, und wenn Kappa mit Rafa telefoniert, kann das Ewigkeiten dauern", sage ich aus einem Gefühl heraus. "Rafa ist bestimmt zu Kappa gefahren in die Wohnung und ruft jetzt Kappa an."
"Na, das muß nicht sein", meint Darryl. "Das kann auch seine Freundin sein."
Carl ist ungeduldig und geht. Ich bleibe noch mit Darryl und Sasa da. Sasa spricht über die Taschenkontrolle.
"Es haben ja auch viele Mädchen ihre Regel", sagt sie. "Und ich finde, das geht die Türsteher nichts an. Nicht, daß die Mädchen denen da ihre Tampons zeigen müssen und die dann wohl noch einzeln abzählen müssen."
"Ja", sagt Darryl.
"Ja, das ist nämlich auch die Privatsphäre", meine ich.
Die Musik ist inzwischen aus.
"Was glaubst du, was ich schon gelitten habe wegen diesen Türstehern", erzähle ich Darryl. "Ich habe tagelang geweint, nächtelang geweint, nur deswegen."
"Ruhig! Ruhig!" warnt Darryl. "Sie sind in der Nähe!"
Die Türsteher putzen und kehren immer noch. Ich vermute, daß sie das Reinigungspersonal des "Nachtlicht" darstellen und daß es gar keine Putzfrau gibt.
Darryl will Sasa und mich gerade nach oben begleiten, da kommt Kappa wieder zum Vorschein. Er geht hinter die Bar.
"In Ruhe lassen", bestimmt Darryl.
Er geht mit Sasa hinauf. Ich frage Kappa noch kurz über die Theke, wann er denn die nächste Tanznacht in der "Halle" veranstaltet.
"Am 25.11.", gibt er Auskunft.
"Ist das EBM?"
"Gemischt. Alles."
"Und ab nächsten Monat ist dann wieder jeden Freitag was?"
"Eigentlich nur noch jeden letzten Freitag im Monat."
Ich stoße gegen einen Besen, und er fällt um.
"Gut", sage ich, "am nächsten Freitag komme ich wieder hierher, und dann können wir noch weiterreden."
"Ich glaube, du hast da was umgeworfen", sagt Kappa.
Ich hebe den Besen auf; ich halte das für angemessen, weil er mir umgefallen ist. Ansonsten habe ich wenig Lust, den Türstehern Zureichungen zu machen.
Draußen in dem Torweg vorm Eingang stehen Darryl und Sasa immer noch beisammen. Ich geselle mich zu ihnen. Es ist hell geworden und regnet ohne Unterlaß. Doch im Torweg haben wir es trocken.
"Kappa ist das 'Nachtlicht'", sagt Darryl.
Demnach muß Kappa einige sehr schlechte Wesenszüge haben, wenn er die groben Türsteher dauerhaft im "Nachtlicht" läßt.
Es ist deutlich zu spüren, wie sehr Darryl Kappa verehrt.
"Auf Kappa lasse ich nichts kommen", sagt er immer wieder.
Es kostet einige Mühe, Darryl klarzumachen, daß Kappa ebenso fehlbar ist wie andere Menschen auch.
Sasa ist unruhig. Sie will gerne noch "in aller Ruhe" mit Kappa reden.
"Kappa braucht Zeit", sagt Darryl, "Zeit, um das zu verarbeiten. Er macht sich sowieso schon kaputt. Der muß das 'Nachtlicht' in den Griff kriegen ... die 'Halle' ... die Plattenfirma ... der will die Zeitschrift wieder aufbauen ... und dann muß der seine Freundin in den Griff kriegen ..."
"Und er muß seine Psyche in den Griff kriegen", sage ich.
"Ja, das auch!" bestätigt Darryl.
"Das vor allem", meine ich.
"Kappa hat kaum noch Schlaf", erzählt Darryl. "Der macht sich echt kaputt."
"Dann wird es Zeit, daß er Prioritäten setzt", rate ich. "Der kann nicht alles auf einmal. Der sollte dem "Nachtlicht" erstmal Priorität einräumen, weil der Laden neu ist und da die ganze Szene mit drinhängt."
Darryl betont immer wieder, Kappa sei von vielen guten Freunden im Stich gelassen worden, und das hätte ihn so gemacht, wie er jetzt ist. Ich glaube, Kappa hat seine Selbstwertstörung schon von Kindheit an. Ich äußere diese Vermutung aber nicht.
Als ich Darryl frage, ob er Kappa schon lange kennt, sagt er:
"Was heißt 'lange'? Ich kenne ihn gut."
"Bist du etwas jünger als Kappa?"
"Ja."
Über sein Verhältnis zu Kappa ergänzt Darryl:
"Ich stehe hinter Kappa, ich stehe hinter dem 'Nachtlicht', aber ich stehe nicht hinter mir selber."
"Das ist aber gar nicht gut", sage ich.
"Du vertrittst doch deine Meinung", wendet sich Sasa an Darryl. "Du sagst doch, ich stehe hinter Kappa, und du vertrittst deine Meinung, und wenn du deine Meinung vertrittst, vertrittst du ja im Grunde dich auch. Das heißt, dann stehst du irgendwie doch hinter dir, und wenn du jetzt meinetwegen sagst, ich finde Sasa toll und so, dann stehst du doch auch hinter dir."
"Du hast mich geoutet!" ruft Darryl. "Du hast mich geoutet!"
Er springt herum und lacht.
"Nächste Woche ist das Schild weg von 'McGlutamat', und stattdessen hängt da ein Riesenplakat, auf dem steht:
'Darryl findet Sasa toll.'
Du hast mich geoutet!"
Dann stellt er sich wieder vor Sasa.
"Für dich bin ich bestimmt nur ein Stück Dreck", wertet er sich ab. "Aber du bist für mich die absolute Frau. Das bezieht sich vor allem auf Sex ..."
"Na, es geht dir doch bestimmt nicht nur um Sex", mische ich mich ein. "Es geht dir doch bestimmt auch um das Persönliche."
"Ja, um das Ganze, um das Ganze", sagt Darryl eifrig und widerspricht seinen eigenen Äußerungen. "Sex steht für mich ganz weit hinten. Das kommt irgendwann, sicher. Aber viel wichtiger finde ich Zärtlichkeit und Streicheln und Kuscheln."
"Ja! Ja!" fällt Sasa ihm ins Wort.
"Aber du willst mich ja sowieso nicht", meint Darryl. "Ich bin für dich ja nur ein Stück Dreck. Du willst mich ja sowieso nicht. Ich bin ja gar nichts."
"Das habe ich doch immer gesucht", erzählt Sasa wehmütig und blickt Darryl in die Augen, "nach jemandem, der nicht immer nur gleich Sex will. Ich habe doch immer nach sowas gesucht. Und jetzt habe ich fünf Monate lang um einen Jungen gekämpft, bis er sich endlich in mich verliebt hat, und jetzt erst, seit Donnerstag, ist das gut mit dem, und das will ich jetzt nicht alles wieder gleich aufgeben. Wenn du etwas eher gekommen wärst, dann hätte ich dich genommen. Dann hätte ich nicht zu kämpfen brauchen."
Kappa kommt nach oben, mit dunkler Brille, hinter der er wahrscheinlich seinen inneren Aufruhr versteckt. Er wendet sich uns zu, und Sasa kann ihre Auseinandersetzung mit ihm endlich beilegen.
"Ich will mich nicht von dir im Streit trennen", sagt sie. "Ich hoffe, du trägst mir nichts nach."
"Ich bin nie nachtragend", erklärt Kappa. "Das ist schon in Ordnung."
"Ich will so gerne später nochmal mit dir ganz in Ruhe weiterreden."
"Das ist o.k."
Kappa bittet mich darum, die Sache mit den Türstehern nicht "an die große Glocke" zu hängen.
"Versprochen ist versprochen", erwidere ich.
In der Szene wird es auch ohne mein Zutun herumgehen, und in die Presse muß es nicht.
Kappa will zu "Halle 1" fahren und Darryl mitnehmen. Darryl und Sasa beschließen aber, im "Nachtlicht" zu warten, bis Kappa zurückkommt. Kappa fährt seinen Porsche in den Innenhof hinterm "Nachtlicht" und steigt zu Karol und einem anderen Jungen ins Auto.
"Ich werde mich jetzt zurückziehen", kündige ich an.
Sasa und Darryl gehen wieder ins "Nachtlicht". Kappa setzt sich auf den Beifahrersitz und kurbelt das Fenster herunter. Ich gehe zu ihm und drücke ihm die Hand. Seit ich Rafa kenne, bin ich daran gewöhnt, durch spiegelnde Brillengläser hindurchzulächeln. Ich lächle Kappa also freundlich an und tue, als gäbe es die Brille nicht.
"Und, bitte - richte Rafa aus, daß er spitze ist", sage ich.
"Ich habe eben mit ihm telefoniert", erzählt Kappa.
"Hast du es ihm gesagt?"
"Ja, ich habe es ihm gesagt."
"Und? Was hat er gesagt?" frage ich voll Neugierde und Sehnsucht.
"Er war traurig", antwortet Kappa. "Aber jetzt ist schon wieder alles o.k."
Ich drücke Kappa noch einmal die Hand, und das Auto fährt los.
Warum war Rafa traurig? Warum nur?
Carl hat mir beschrieben, wie es zuging, als er Rafa zu den Türstehern nach oben holte. Er sah Rafa nicht gleich, denn Darryl stand hinterm DJ-Pult. Carl wollte eben Daria nach Rafa fragen, da entdeckte er ihn vor der Hauptbar. Er war umgeben von allerlei Leuten und kehrte Carl den Rücken zu. Carl tippte ihn an. Rafa drehte sich um.
"Da oben gibt es wieder Ärger mit den Türstehern, wegen den Taschen", berichtete Carl.
"Nochmal ganz langsam", sagte Rafa, der es wohl nicht verstanden hatte.
Carl wiederholte den Satz. Rafa kam sofort mit ihm.
"Was Rafa gemacht hat, das war Verantwortung", findet Carl. "Das war so wie beim Sockenschuß."
Kappa klammert sich an äußere Regeln. Rafa hält an inneren Grundsätzen fest. Das Letztere zeugt mir von Stärke.
So wie damals, als wir letztes Jahr Anfang April in der "Halle" dem Sockenschuß gegenüberstanden, lehnte ich mich an Rafa und schloß vertrauensvoll die Augen. Carl findet, daß das ausgesehen hat wie "King Kong und die weiße Frau".

In einem Traum war es wieder so, daß Rafa sich hinter mich stellte und ich mich hinter ihn. Es ging auch darum, daß Constri und ich uns seit unserer Kleinkinderzeit füreinander verantwortlich fühlen.

Sator war zwischenzeitlich wieder mit Janine zusammen und ist auch schon wieder von ihr getrennt. Er will nicht "spielen müssen", sagt er. Ich hatte ihm vorher schon geraten, keine Frau auszusuchen, die er nicht liebt, doch er wollte ein weiteres Mal diese Erfahrung machen.
Zu Allerheiligen kam Sator mit auf unseren Friedhofsspaziergang, den wir jedes Jahr machen. Außer Sator, Constri und mir waren auch Carl und Brinkus dabei. In der abendlichen Dunkelheit suchten wir nach kleinen roten Ewigkeitslämpchen und betrachteten sie, wie sie auf den Gräbern leuchteten. Danach gab es ein Essen im "Labyrinth".
Sator erzählte, daß das "Trash" geschlossen worden ist. Als Ersatz soll gegenüber vom "Elizium" das "Nirvana" aufmachen. Das "Nirvana" soll gitarrenlastig sein und keine unmittelbare Konkurrenz für das "Elizium" darstellen.
Malda hat Carl neulich etwas über einige Mädchen erzählt, die auf Rafa stehen. Das sollen sehr junge Mädchen sein. Sie haben für Rafa ein Briefchen geschrieben und ihm das auch gegeben. Als Malda dies mitbekam, sagte sie zu den Mädchen:
"Der ist doch schon mit Hetty zusammen."
"Was?" riefen die Mädchen entrüstet. "Mit dieser Marionette? Wie die immer tanzt ...!"
Mal rief an und gab den Termin für die nächste "Klangwerk"-Veranstaltung durch. Ich erzählte ihm von den Skinheads an der Tür des "Nachtlicht". Mal sagte mir, auch vom "ZMK" wüßte er, daß die Türsteher dort furchtbar sind. Das konnte ich nur bestätigen. Wie ich später herausfand, ist Türsteher Lennart Brehler vorbestraft wegen Körperverletzung.

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