Flutland

"... mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir ..."

Am Meer gab es eine Wohnanlage auf Stelzen, Haus an Haus, verbunden durch Bretterwege. Die Häuser sahen alle gleich aus, grauweiß, mit großen Fenstern zum Meer hin, Glaswänden, wie weit geöffnete Augen. Wer hier lebte, hatte es zu etwas gebracht; zumindest wurde das behauptet.
Als Darienne auf dem Parkplatz hinter den Dünen aus ihrem silbernen Benz stieg, betrachtete sie die Wagen neben sich und stellte fest, daß alle anderen Autos ebenfalls silbern waren - eine Modefarbe. Was als schick galt, wurde gekauft.
Silbern schimmernde Münzen fielen aus Dariennes Handtasche auf die Betonsteine. Sie sammelte sie ein und dachte:
"So haben die Münzen unter Judas auf dem Boden gelegen, als er sich erhängt hat. Nach diesen Münzen wurde eine Pflanze benannt, der Judaspfennig."
Als die Münzen in ihrem geschürzten Rock lagen, dachte sie:
"So hat das Mädchen in 'Die Sterntaler' die Münzen in seinem Hemdlein gesammelt, eine Himmelsgabe für seine Hilfsbereitschaft."
Darienne öffnete die Tür zu einem der Häuser auf Stelzen, eine schwere Tür aus grauweiß gestrichenem Holz. Sie sah im Flur eine Plastiktüte stehen, gefüllt mit Sachen, die für Marilene bestimmt waren, die Tochter ihrer Freundin Cyris. Dariennes Schwester Ida war vorhin da gewesen, um die Sachen zu bringen. Obenauf lag ein hellrosa Body. Der Body hatte Dariennes Nichte Victoire gehört.
Das Wohnzimmer war mit wenigen grauweißen Möbeln eingerichtet. In einem Vitrinentisch aus weiß lasiertem Holz lag feiner Sand, darin lauter Muscheln und ein Seestern. Vor dem Fenster hingen durchsichtige weiße Baumwollstores. Darienne legte ihr eisblaues Jäckchen auf die Sofalehne und band sich das Haar mit einer eisblauen Spange zusammen.
"Was für ein Frevel", dachte sie. "Ich will immer alles und immer das Beste. Dabei gibt es nichts, was ich nicht hätte, außer dem, was ich am meisten will."
Vor der Glaswand setzte sie sich auf das Sofa und blickte hinaus auf die Wellen. Rechts neben ihr hatte vor zwei Monaten Cato gesessen und seine Arme um sie geschlungen.
"Er war eine Niete", dachte sie. "Er hat Unheil gestiftet, wohin er auch kam. Wenn er etwas sagte, war es gelogen. Ehrlich war er nur, wenn er nichts sagen konnte, weil es ihm die Sprache verschlagen hat."
Cato hatte eine Stunde lang mit Darienne auf dem Sofa gelegen, halb neben, halb über ihr, und nichts gesagt. Dann war die CD zuende gewesen, und Cato hatte nach der Fernbedienung gegriffen.
Cato machte nicht nur die CD wieder an, er schaltete auch den Fernseher ein. Darienne nahm ihm die Fernbedienung aus der Hand und schaltete den Fernseher wieder ab.
"He, ich will fernsehen", sagte Cato. "Ich muß mich ablenken. Mir geht das hier schon wieder viel zu viel ans Herz."
Er griff nach einem Aschenbecher. Darienne fiel auf, daß er in der vergangenen Stunde, als er mit ihr eng umschlungen dalag, keine Zigarette geraucht hatte.
Cato rauchte seit zwanzig Jahren und behauptete, es lohne sich für ihn nicht, aufzuhören, denn ohne Zigaretten könne er sein Leben nicht genießen.
"Sein armes, schäbiges Leben", dachte Darienne, "ein Leben, geprägt von Argwohn und Haß, ein Leben ohne Freunde und ohne Freude, voller Lügen und Scham. Daß ich ihn geliebt habe, hat er mir nie geglaubt und es wohl auch nicht gemerkt. Wenn er Gefühle hatte, hielt er das für Schwäche und hat alles getan, um sie zu verdrängen. Er hat dann immer gesagt, es geht ihm zu sehr ans Herz."
Das Telefon klingelte. Darienne fand es neben dem Sofa auf einem Tischchen. Cyris meldete sich und fragte, ob Darienne die Tüte mit den Kleidern schon erhalten hatte. Darienne ging mit dem Telefon vor der Glaswand auf und ab.
"Die Kleider sind hier", berichtete sie. "Ida hat sie vorbeigebracht, als ich auf der Arbeit war. Da ist ein Body von Victoire dabei, der müßte Marilene schon passen."
"Bestimmt", meinte Cyris.
"Ich habe seltsam geträumt", erzählte Darienne, "letzte Nacht. Da ging ich einen Berghang hinauf, der Boden war aus schwarzer Asche. Und oben war ein Grab mit einem schwarzen Holzkreuz, an dem hing ein Taufkleid. Und dann war ich hier in der Wohnung, und in welche Ecke ich auch schaute, überall lagen diese kleinen Kleidchen, wie Victoire sie getragen hat. Ich habe so viel geweint, daß ich das Meer hätte füllen können, das Meer da draußen vorm Fenster."
"Es ist halt erst zwei Monate her."
"Trauer ist nichts, was man mit Worten beschreiben kann. Trauer gehört nirgendwo hin. Trauer ist uferlos. Es gibt keine Grenze, keinen Raum. Ich weiß nicht, was ich damit machen soll."
"Cato hat nicht nur sein eigenes Leben zerstört, er hat Victoire mitgenommen."
Cato wollte über das Wasser gehen, auf einem Holzweg. Das Land wurde immer wieder überflutet und hieß deshalb das Flutland, und die Wege hatten Stelzen. Victoire wollte mit hinaus; sie freute sich an dem Wasser, das unter dem Weg in Wellen hindurchlief. Ida erlaubte ihr, mitzukommen, wenn Cato sie auf die Schultern nahm. Am Ende eines Weges hörte das Geländer auf, und dort draußen mußte es passiert sein.
"Ida ist vorsichtig", sagte Cyris. "Sie hat auf Victoire immer sehr aufgepaßt. Warum hat sie sie Cato anvertraut, diesem Windhund, den sie fast nur von deinen Erzählungen kennt?"
"Niemand hätte wissen können, daß Catos Herz ausgerechnet auf diesem Weg stehenbleiben würde."
"Cato hat in seinem Leben niemals Verantwortung getragen, weder für sich noch für andere. Er hat alles getan, um seine Gesundheit zu ruinieren."
"Victoire mochte ihn. Sie wollte mit ihm spazierengehen."
"Und das Ergebnis war, daß beide untergegangen sind."
"Victoire fühlte sich durch Cato vielleicht an ihren Vater erinnert, meinen Schwager Evan", vermutete Darienne. "Ida hat Evan hinausgeworfen, als Victoire zwei Jahre alt war. In zehn Ehejahren war Evan kein einziges Jahr treu."
"Und jetzt hat Cato Victoire auf dem Gewissen."
"Und ihn habe ich auch verloren. Eigentlich hatte ich Cato ja nie, aber jetzt kann ich ihn nicht einmal mehr sehen."
Nach dem Telefongespräch mit Cyris setzte Darienne sich wieder auf das Sofa. Sie erinnerte sich an einen Satz aus einem Spiel:
"Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir ..."
Man saß im Kreis, ein Stuhl war frei, und derjenige, der links neben dem Stuhl saß, mußte das Sprüchlein sagen und sich jemanden aus der Runde herwünschen.
"Cato sitzt nicht mehr in dem Kreis", dachte Darienne. "Und seit er fort ist und meine Nichte mit in den Tod gerissen hat, geht es mir so, als wären mir mein Mann und meine Kinder gestorben. Dabei hat Cato sich nie zu seinen Gefühlen bekannt, nie hätten wir heiraten und Kinder haben können."
Darienne holte sich einen Becher Kaffee aus der Küche. Im Flur fiel ihr Blick auf Victoires hellrosa Body, der oben in der Tüte lag. Sie stellte den Becher auf dem Vitrinentisch ab, legte sich aufs Sofa und weinte bitterlich.
"Und das geht jetzt die nächsten zwanzig Jahre so weiter", dachte sie.
Zwanzig Jahre später saß Darienne mit einem Becher Kaffee auf dem Sofa, und Cyris rief an.
"Hast du von dem Brennplatz gehört?" fragte sie. "Da kann man Sperrmüll verbrennen, das ist wie ein dauerndes Osterfeuer, das hat die Zentraldeponie angelegt. Der Brennplatz liegt am Rand des Moores. Jeder kann dort etwas verbrennen, für das er keinen Platz mehr hat."
"Es gibt vieles, für das ich keinen Platz habe", sagte Darienne. "Es gibt vieles, von dem ich nicht weiß, wohin damit."
Dunkelgrau geschotterte Wege führten durch Aschefelder, dort lagen Haufen von Grünschnitt und Sperrmüll. Die Menschen, die hingingen, hatten Korbmöbel, Bretter und Zweige mitgebracht und warfen sie zu den brennenden Haufen. Die Luft war grauweiß vom Rauch.
Darienne hielt nichts in ihren Händen. Sie begegnete Cyris, und die fragte, was sie zum Verbrennen mitgebracht hatte.
"Es ist nichts, was man sehen kann", erwiderte Darienne. "Ich will etwas loswerden, das man nicht sehen kann."






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