Das zweite Leben
Ein Toter beherrscht das Universum


Rasco griff sich ans Herz, entfärbte sich und sackte zu Boden. Er lag inmitten eines Saales aus dunkelgrauem Stein. Mattes Licht rieselte durch die Deckenfenster.
"Wir müssen den Rettungsdienst rufen", sagte Rascos Berater Schreber, der hinzulief.
"Da hilft kein Rettungsdienst mehr", meinte Claustrow, Schrebers Sekretär. "Der ist schon bei den Engeln und lernt das Fliegen."
"Aber einen Arzt brauchen wir doch - für den Totenschein."
"Wenn die den sehen, denken die, wir hätten nachgeholfen."
"Haben wir doch, oder?"
"Ach, du hast nachgeholfen?"
"Nein, für sein frühes Ableben hat Rasco schon selber gesorgt", versicherte Schreber. "So, wie der gelebt hat, mußte das eines Tages passieren."
"Und wie beseitigt man einen toten Diktator?"
"Überhaupt nicht!" grinste Schreber. "Man läßt ihn weiterleben!"
"Und als was? Rasco, die sprechende Mumie - oder wie?"
"Es gibt so viele Filmaufnahmen von Rasco, da ist es ein Leichtes, ihn am Computer wieder auferstehen zu lassen ... Animation statt Reanimation ... Wenn es sein muß, lebt er für immer und ewig."
"Rasco, der Unsterbliche? Rasco, der Gott?"
"Wir können ihn sogar am Computer altern lassen."
"Da müssen wir uns aber entscheiden: Rasco als unsterbliches Astralwesen oder Rasco als netter Diktator von nebenan."
"Bevor wir darüber nachdenken, sollte uns einfallen, was wir mit der Leiche machen."
"Um diese Zeit ist hier keiner mehr", überlegte Claustrow. "Und hinter dieser Tür ist das Kaminzimmer. Ich kann aus dem Auto den Reservekanister holen. Und den Fusel aus dem Barschrank können wir auch drübergießen."
"Stimmt, wenn nur noch die Knochen übrig sind, läßt er sich besser wegschaffen ... und die Knochen vergraben wir draußen im Wald."
So wurden Rascos sterbliche Überreste entfernt, und sein virtuelles Leben begann, das schillernde Leben eines Hologramms, ein dreidimensional animiertes "Second Life".
Fernsehansprachen zu halten, in Videokonferenzen aufzutreten, das war eine der leichteren Übungen für den wieder auferstandenen Rasco. Doch wenn es darum ging, Hände zu schütteln und Grundsteine zu legen, wurde es schwieriger. Schreber und Claustrow inszenierten eine Anschlagsserie mit mehr als einhundert Toten, und angesichts der offenkundigen Terrorgefahr konnten sie rechtfertigen, daß Rasco nur noch am Bildschirm oder als Hologramm in Erscheinung trat.
Rascos Ehefrau Charlene, ein ehemaliges Fotomodell, war von ihrem Mann in einer prunkvollen Villa in den Bergen untergebracht worden. Rasco war die meiste Zeit abwesend; er entschuldigte sich mit Regierungsgeschäften und der eigenen Wichtigkeit. Charlene glaubte Rasco und hielt ihn für treu. Sie war es gewohnt, monatelang nichts von ihrem Angetrauten zu hören ... außer durch die Medien. Die Geliebten von Rasco wunderten sich ebenfalls nicht über sein Fernbleiben. Doch Schreber zerbrach sich den Kopf - zum Einen, weil er auch im Hinblick auf die Frauen Rascos Platz einnehmen wollte, zum Anderen, weil er verhindern wollte, daß die Frauen mißtrauisch wurden. Endlich kam ihm eine Idee. Er schrieb unter Rascos Namen eine E-Mail an Charlene:
"Schatz, ich will dich in Lack. Habe auch eine Überraschung für dich."
Schreber hatte in etwa Rascos Statur, wodurch er Claustrow gegenüber im Vorteil war. Mit Ganzkörper-Lackanzug und Gasmaske besuchte er nun die Frauen. Er hatte Rascos Parfüm aufgelegt, und durch die Gasmaske war seine Stimme verändert; er hoffte, sich auf diese Weise erfolgreich verstellen zu können.
Für Rascos Parfüm gab es einen Werbespruch:
"Nichts ist erotischer als Erfolg."
Dieses traf auf Rasco durchaus zu, und Schreber konnte nun in der Rolle des Diktators erleben, wie es war, begehrter Mittelpunkt des Universums zu sein.
Zum Plaudern, zu Urlauben und zu gesellschaftlichen Anlässen traf Schreber sich in der Gestalt von Rascos Avatar mit den Frauen im virtuellen Raum im Internet; dort besuchten ihre Avatare glanzvolle Parties, sie tranken Cocktails am Pool und spielten Roulette im Casino. Bei offiziellen Anlässen und medienwirksamen Traumurlauben war Charlenes Avatar an seiner Seite, bei nächtlichen Streifzügen waren es die Avatare der Geliebten. Jede Frau durfte sich beim virtuellen Juwelier Schmuck aussuchen und in virtuellen Designer-Stores Kleider und Schuhe kaufen. Was gekauft wurde, konnten sowohl die Avatare als auch sie selbst tragen; die wirklich existenten Sachen kamen per Versand.
"Und was ist mit mir?" beschwerte Claustrow sich bei Schreber. "Wann kriege ich eine von den Frauen ab? Du hast ja mehr als genug."
"Dein Avatar muß mitkommen zu den virtuellen Parties", schlug Schreber vor. "Da könnten wir etwas arrangieren."
"Na ja, ob meine Frau mich zu einer von diesen Parties läßt ...?" zweifelte Claustrow. "Die ist doch immer so schnell eifersüchtig."
"Ach, das ist ganz einfach ... du erzählst ihr, daß wir einen Herrenabend machen. Dann läßt sie dich schon mit. Zu Charlene sage ich auch immer, daß ich zu einem Herrenabend gehe, wenn ich auf diesen Parties bin."
Schreber sorgte dafür, daß Claustrows Avatar die Avatare von Rascos Geliebten kennenlernte. Dann stieß Schrebers Avatar - eigentlich ja Rascos Avatar - eine der Geliebten vor den Kopf:
"Ich liebe dich nicht mehr. Außerdem bist du mir zu alt, du bist schon zweiundzwanzig."
Nun war Claustrows Avatar am Zug. Er bot der Verlassenen eine Schulter zum Ausweinen, und schließlich verabredete er mit ihr ein Treffen in einem Luxushotel, wo sie beide in ihrer wahren Gestalt erschienen. Das junge Mädchen, geblendet von all der Pracht, war schnell verführt und lag in Claustrows Armen.
Schreber fand Rascos Leben aufregend, doch zugleich anstrengend. Er wußte durch das Lesen von Rascos E-Mails, wie Rasco dafür gesorgt hatte, daß seine Geliebten an eine gemeinsame Zukunft mit ihm glaubten, obwohl er augenscheinlich nie vorgehabt hatte, Charlene zu verlassen. Charlene war die Anspruchsloseste von allen. Sie redete nur, wenn sie gefragt wurde, und sie sagte nur das, was Rasco erlaubte. Wenn sie angesprochen wurde und nicht wußte, was Rasco von ihr hören wollte, lächelte sie nett. Damit sich an Charlenes Verhalten nichts änderte, drohte Rasco zuweilen, daß er sie verlassen werde, wenn sie Widerworte hatte.
Auch die Unterwürfigkeit von Rascos Geliebten mußte gepflegt werden. Rasco hatte jeder von ihnen versichert, eines Tages werde er Charlene ihretwegen verlassen und sie heiraten. Daß sie ihm jahrelang glaubten, lag an Rascos Fähigkeit, Menschen von offensichtlichen Lügen zu überzeugen - eine Begabung, die ihn an die Spitze des Universums gebracht hatte. Wenn Rasco es sagte, war die Erde eine Scheibe. Wenn Rasco es sagte, war er Charlene treu.
Schreber spürte die Bürde der Macht. Er kannte die Drogen, die Rasco genommen hatte, weiße Pülverchen aus eigener Herstellung. Als Schreber diese Pülverchen versuchte, stellte er fest:
"Keine Macht ohne Drogen."
Die Pülverchen trugen ihn durch die dünne Luft der Alleinherrschaft, sie waren seine Begleiter in der Einsamkeit der totalen Kontrolle. An sie konnte er sich klammern, wenn ihn der Sog eines unheimlichen, dumpfen, hohlen Gefühls in die Tiefe zu reißen drohte. Schreber war an der Spitze angekommen, er hatte den Platz erobert, den er Rasco immer geneidet hatte. Er stand in der Mitte des Saales aus dunkelgrauem Stein, eingehüllt in mattes Licht, das durch die Deckenfenster rieselte.
"Wer ist noch über mir?" fragte Schreber in die leere Luft. "Keiner! Nicht einmal Gott; ich bin Gott! Ich darf jeden umbringen, ich darf alles! Ich kann alles, mir gehört alles!"
Lautlos sackte er zusammen. Claustrow kam herzugelaufen.
"Was du kannst, kann ich schon lange!" jubelte er. "Jetzt bin ich dran! Jetzt mache ich mit Charlene und den ganzen Geliebten Schluß und mache meinen eigenen Harem auf. Jetzt bin ich Gott!"
Ächzend brach die Saaldecke ein. Claustrow wurde mitsamt dem Leichnam von Schreber unter den Trümmern begraben. Die Konstruktion des gewaltigen Saales war instabil, einem Kartenhaus vergleichbar. Das wurde beim Bau vor über dreißig Jahren schon erkannt, doch der Statiker verschwieg diesen Umstand dem damaligen Herrscher, weil es ihm sonst den Kopf gekostet hätte. Dem Statiker gelang es, eines natürlichen Todes zu sterben, ehe das Gebäude in sich zusammenfiel.






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