Blendwerk


In der Frühe hatte es geregnet, und als die ersten Sonnenstrahlen zwischen den hohen Bäumen hindurchschienen, blinkten die Blätter im Unterholz auf, dunkelgrün glänzend zwischen den weiß leuchtenden Blüten der Maiglöckchen. Regentropfen glitzerten an einem schmiedeeisernen Lanzenzaun mitten im Wald. Hinter dem Zaun sah Yvaine die weißen Mauern eines Hauses zwischen weiß blühenden Fliedersträuchern hervorschimmern. Der schwere Duft der Fliederblüten wehte bis zu dem geschotterten Weg herüber. Das Gebäude sah aus wie ein Palast mit seinen Türmchen und seinen prunkvoll verzierten Balkons. Yvaine war sicher, noch nie ein Haus an diesem Weg gesehen zu haben. Sie fragte sich, ob sie aus Versehen einen anderen Weg genommen hatte als sonst.
"Und wenn es nun verwunschen ist und hier eigentlich gar nicht steht?" ging ihr durch den Sinn.
Sie betrachtete einen Erker mit Scheibengardinen aus feiner weißer Spitze und hoffte, daß niemand sie von drinnen her sah. Sie betrachtete die Terrasse mit der gemauerten Brüstung. Auf der Terrasse standen eiserne Gartenmöbel. Yvaine stellte sich vor, dort oben zu sitzen - mit jemandem, den sie nicht kannte und den sie sich nicht einmal vorstellen konnte.
Das einsame Haus erinnerte Yvaine an ein Mausoleum; sie konnte sich nicht erklären, weshalb. Hinter den Scheibengardinen schien es eine fremdartige, stille und erstarrte Welt zu geben, die so nah war und doch unerreichbar.
Yvaine verbarg sich hinter einem Strauch, als die Terrassentür geöffnet wurde. Ein junges Paar erschien, sie im flatternden weißen Kleid, mit gelockter Steckfrisur - das Mädchen wirkte auf Yvaine überirdisch schön. Der Mann an ihrer Seite trug einen Anzug aus leichter Wolle, der sehr teuer aussah. Yvaine verstand nicht, was die beiden miteinander sprachen. Sie sah, wie sie sich küßten.
Yvaine mußte warten, bis die beiden verschwunden waren, wenn sie nicht gesehen werden wollte. Sie schaute zu, wie die junge Frau sich auf die Brüstung der Terrasse setzte, und der Mann legte sich dort hin mit dem Kopf in ihrem Schoß. Die steinerne Brüstung wurde von der Morgensonne gewärmt.
"Dies alles wird mir nie zuteil werden", ging Yvaine durch den Sinn. "Es ist zu schön, um wahr zu sein."
Schließlich stellte Yvaine fest, daß sie die junge Frau bereits kannte. Sie war die ältere Schwester einer Mitschülerin von Yvaine, und sie hieß Julienne.
"So wie Julienne kann ich niemals sein", dachte Yvaine. "Was sie erreicht hat, kann ich niemals erreichen."







Das Haus im Wald ging Yvaine nicht aus dem Sinn. Am nächsten Morgen versuchte sie, es wiederzufinden. Sie verlief sich beinahe und wollte schon aufgeben, um nicht zu spät zur Schule zu kommen. Da endlich sah sie die weißen Mauern in der Ferne, von den hohen Bäumen halb verdeckt. Es gelang ihr noch, einen Blick auf die Terrasse zu werfen, ehe sie fortmußte. Dieses Mal sah sie niemanden.
Yvaine beschloß, sich auch ein weißes Kleid zu kaufen. Sie durchsuchte die kleinen Altstadt-Boutiquen und fand in einem Second Hand Shop ein Kleid aus den fünfziger Jahren, dessen Ausschnitt von einer Rüsche gesäumt war und die Schultern fast frei ließ. Weiße Pumps mit Pfennigabsatz gab es hier ebenfalls.
Es war nicht einfach, in den Pumps durch den Wald zu spazieren, doch Yvaine hatte bald heraus, wie sie damit zurechtkam. Es wurde immer früher hell, und Yvaine konnte sich vor der Schule immer mehr Zeit lassen. Sie nahm ihren Fotoapparat mit und hatte bald eine Serie mit märchenhaften Bildern beisammen.
Yvaine sah Julienne und ihren Freund nicht mehr auf der Terrasse. Auch sonst begegnete ihr niemand. Eines Morgens entdeckte sie einen schneeweißen Oldtimer in der Einfahrt, einen Mercedes aus den sechziger Jahren. Der Motor war noch warm, man hörte das Knacken des Metalls. Yvaine wollte dem Grundstück nicht zu nahe kommen; sie erwartete, daß sich jederzeit die Haustür öffnete. Mit dem weißen Kleid konnte Yvaine nicht ins Unterholz laufen, ohne den zarten Voile-Stoff zu zerreißen.
Yvaine häkelte weiße Scheibengardinen für ihre Dachfenster. Sie lebte in einem Gebäude mit weiß gestrichenen Mauern und schwarzen Fensterrahmen, das Anfang der siebziger Jahre entstanden war. Yvaine gehörte zu den wenigen Schülern, die zumindest außerhalb der Schule von hierarchischen Strukturen befreit waren. Ihre Eltern waren aus beruflichen Gründen in Südostasien und finanzierten Yvaine die Wohnung, weil sie nicht mitkommen wollte.
Anscheinend hatten Yvaines Eltern Juliennes Eltern den Auftrag gegeben, sich um Yvaine zu kümmern. Nur so konnte Yvaine sich erklären, warum Juliennes jüngere Schwester Cilly Yvaine in der Schule ansprach. Cilly und Yvaine waren eine Zeitlang in derselben Klasse gewesen, hatten aber nie miteinander geredet. Cilly wirkte auf Yvaine abgehoben und unnahbar; das konnte damit zusammenhängen, daß Cilly stets durch Yvaine hindurchsah. Selbst wenn die beiden in einem Flur aneinander vorbeiliefen, erwiderte Cilly Yvaines Gruß nicht. Es kam Yvaine so vor, als wenn Cilly nicht mit Yvaine in Verbindung gebracht werden wollte, weil Cilly glaubte, etwas Besseres zu sein. Nun aber zeigte Cilly sich ungewohnt höflich. Wie ein folgsames Kind, das ein eingeübtes Gedicht aufsagt, lud Cilly ihre jahrelang ignorierte Mitschülerin zum Kaffeetrinken ein.

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Zum ersten Mal durfte Yvaine den gepflasterten Weg betreten, der zwischen weiß blühenden Rhododendronbüschen zu der Waldvilla führte. Zum ersten Mal durfte sie die Stufen hinaufsteigen zu der schweren Eichentür, deren Fenster mit einem kunstvoll geschmiedeten Gitter geschützt war. Yvaine hatte ihr weißes Kleid an, das sie in der Schule nicht trug.
"Oh - die weiße Dame von Persil", kommentierte Cilly, als sie öffnete.
Im Wintergarten war bereits gedeckt.
"Du wohnst sehr schön", sagte Yvaine.
"Es ist nicht unser Haus", erklärte Cilly. "Wir sind nur in diesem Sommer hier. Wir bauen gerade und dürfen hier wohnen, bis wir umziehen können."
"Wem gehört denn das Haus?"
"Einem Gespenst! Das sagt meine Mutter immer. Das Gespenst kommt manchmal hierher mit einem Oldtimer ..."
"Neulich war hier ein Oldtimer", wollte Yvaine sagen, hielt sich aber zurück, damit Cilly nichts von ihren morgendlichen Spaziergängen erfuhr.
"Warum glaubt deine Mutter, daß das Haus einem Gespenst gehört?" fragte Yvaine stattdessen.
"Also ... also ...", kam Cilly ins Erzählen, "irgendwann gab es Erbstreitigkeiten, und dabei ist auf seltsame Art jemand umgekommen ... eigentlich verschwunden ... man weiß bis heute nicht, ob er tot ist, aber man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Jedenfalls reichte die Blutspur bis zur Einfahrt."
"Und der Täter?"
"Der kam nicht ins Gefängnis, weil man ihm nichts nachweisen konnte. Er ist vor zehn Jahren gestorben und liegt hinten im Garten in der Familiengrabstätte."
"Und was hat es mit dem Oldtimer auf sich?"
"Das ist der Wagen von dem früheren Besitzer. Es heißt, das Gespenst leiht sich den Wagen manchmal aus."
"Wer steht denn als Hausbesitzer im Grundbuch?"
"Das sind entfernte Verwandte von den Leuten, denen das Haus früher gehört hat."
Julienne kam herein mit ihrem Freund. Die beiden begrüßten Yvaine. Juliennes Freund stellte sich vor. Er hieß Tyron.
Zwischen Cilly, Julienne und Tyron entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch. Yvaine stellte fest, daß alle drei sich vorzugsweise über Belanglosigkeiten unterhielten. Yvaine wagte nicht, Tyron anzuschauen, und das störte sie. Sie wollte einem Menschen, der so oberflächlich wirkte, keine außergewöhnliche Bedeutung zugestehen. Daß sie ihn hübsch fand, ließ Yvaine nicht gelten als Grund, ihm gegenüber verlegen zu sein.
"Es wird Zeit, daß ich jemanden kennenlerne, der zu mir paßt", seufzte sie innerlich. "Vielleicht bin ich dann unbefangener, wenn ich Menschen begegne, die nicht zu mir passen."

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In ihrer Klasse wurde Yvaine von nun an immer wieder auf Tyron angesprochen:
"Du hast mit Tyron an einem Tisch gesessen? Du hast mit ihm geredet? Echt, mit Tyron?"
Die Mitschülerinnen schienen Tyron als Gottheit zu betrachten.
Inzwischen blühten an den Mauern der Waldvilla die Rosen. Yvaine hatte sich im Second Hand Shop noch mehr Kleider gekauft und beschlossen, stilistisch an Julienne vorbeizuziehen. Ihr Friseur hatte ihr gezeigt, wie man sich effektvoll schminkte und Haarteile ansteckte. Nun endlich wagte Yvaine, in einem Kleid zur Schule zu gehen. Wider Erwarten gab es mehr bewundernde als hämische Äußerungen.
Cilly zog mit ihrer Familie um. Yvaine vermutete, daß die Waldvilla nun leerstand. An einem der längsten Tage des Jahres stieg sie morgens um vier Uhr die breiten Stufen zur Terrasse hinauf, im Kopf eine sorgsam zurechtgelegte Erklärung für den Fall, daß jemand sie ansprach. Die Brüstung und die eisernen Gartenmöbel waren naß vom Tau. Die hölzernen Fensterläden waren geschlossen. Büsche und Bäume standen im Nebel. Yvaine machte Fotos. Dabei entging ihr, daß jemand auf einem der nassen Gartenstühle Platz nahm. Es geschah in völliger Stille, kein Schritt war zu hören, kein Rücken des Stuhles. Yvaine dachte, es handelte sich um Tyron, und sie ging ohne Scheu auf ihn zu. Als Yvaine erkannte, daß es nicht Tyron war, hielt sie inne. Der Fremde schien sie nicht zu bemerken. Er hatte Lavendel auf die hölzerne Tischplatte gelegt, die in der Nässe dunkel wirkte, und war damit beschäftigt, einen Kranz zu flechten. Yvaine blieb stehen, wo sie war, und fotografierte den Fremden. Er blickte nicht auf, sondern flocht weiter an dem Kranz. Es wurde ein Diadem, das er mit Blumendraht verstärkte. Als es fertig war, erhob sich der Fremde und steckte Yvaine das Diadem in die Frisur. Sie reichte ihm den Fotoapparat, und er machte Bilder von ihr. Dann gab er ihr den Fotoapparat zurück und ging die Stufen hinunter.
"Hm", sagte Yvaine.
Er drehte sich um.
"Woher kennst du mich denn?" wollte sie wissen.
Er schaute etwas hilflos und legte sich die Hände vor den Mund.
"Wie heißt du denn?" fragte sie.
Er legte aus Lavendelzweigen ein Wort auf die unterste Treppenstufe und eilte davon. Yvaine fotografierte das Wort. "CATO" stand da.

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In allen Märchen- und Sagenbüchern war es dasselbe: Gespenster konnten nicht fotografiert werden. Demnach war Cato kein Gespenst. Yvaine rahmte die Bilder ein, die Cato und sie auf der Terrasse gemacht hatten, und hängte sie auf. Das Lavendel-Diadem hängte sie dazu. Morgen für Morgen war Yvaine im Garten der Waldvilla, doch sie sah Cato nicht wieder.
In einer Nacht träumte Yvaine, daß sie in ihrer Wohnung vor einem der Bilder stand und Cato ansah. Da begann er zu sprechen:
"Jeden Tag habe ich dich gesehen, wie du zu meinem Haus gekommen bist. Mir kam es vor, als wenn du nach etwas gesucht hast oder auf etwas gewartet hast. Du kannst nicht wissen, daß ich in meinem eigenen Haus ein Gefangener bin. Es sind keine irdischen Mächte, die mich in ihrem Bann halten. Keine irdische Gewalt kann mich befreien. Du sollst wissen, daß in diesem Haus jemand wohnt, auch wenn es leersteht."
"Wer fährt den Oldtimer?" wollte Yvaine wissen.
"Das war unser Auto, als ich klein war", erzählte Cato. "Es steht in der Garage."
"Hat Cillys Familie nie gemerkt, daß du in dem Haus wohnst?"
"Die erzählen sich nur die Gespenstergeschichten von damals."
"Wie alt warst du, als du verschwunden bist?"
"Acht. Meine Eltern waren damals schon lange tot."
"Hat dich wirklich jemand umgebracht?"
"Nein, ich bin verbannt worden."
"Warum denn das?"
"Weil ich sonst gestorben wäre."
"Das heißt, du bist gerettet worden, aber zu dem Preis, daß du nicht mehr unter den Menschen leben darfst."
"So ist es."
"Warum darfst du dann mit mir sprechen?"
"Es ist die Treue", erklärte Cato. "Es liegt an deiner Treue."
"Wer hat dich denn gerettet?"
"Jemand, der Leben verkauft ... für einen Preis."
"Sowas kann doch keiner."
"Es ist kein Irdischer."
"Ein Außerirdischer?"
"Außerirdische sind nicht anders als wir Irdischen, weil auch sie im Diesseits leben und sich diesseitigen Gesetzen unterwerfen müssen."
"Ist es einer aus dem Jenseits, der dir sein Leben verkauft hat?"
"Kein Mensch kann darüber entscheiden."
"Wer war es dann?" fragte Yvaine. "Wer konnte dafür sorgen, daß du weiterlebst?"
"Wir sind nicht die, die uns das Leben geschenkt haben. Wir sind nicht die, die wollten, daß wir sind. Wir haben uns nicht erfunden. Wir können nicht wissen, wer für uns sorgt und warum."
"Cato, wenn ich an deiner Haustür klingele, wer macht mir auf?"
Ehe Cato antworten konnte, erwachte Yvaine.
"Ich muß es selbst herausfinden", sagte sie sich.
In der Gewißheit, daß noch immer niemand in dem Hause wohnte, klingelte sie frühmorgens an Catos Tür. Nichts rührte sich.
In der Schule erzählte heute jeder etwas anderes. Ein Lehrer warf Yvaine vor, zu langsam zu arbeiten. Ein Lehrer warf Yvaine vor, zu schnell zu arbeiten. Eine Klassenkameradin warf Yvaine vor, zu laut zu reden. Eine Lehrerin warf Yvaine vor, zu leise zu reden. Den ganzen Nachmittag über war Yvaine mit der Frage beschäftigt, wie sie sich in Sicherheit bringen konnte. Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als es an ihrer Tür klingelte.
"Wer ist da?" fragte sie durch die Gegensprechanlage.
"Cato."
Ein Blick durch den Spion bestätigte dies. Yvaine öffnete vorsichtig die Tür und winkte Cato herein. Dann half sie ihm, die Jacke auszuziehen, und schloß ihn in die Arme. Er trug ein Hemd aus weißem Nicki-Stoff, einem Material zwischen Samt und Trikot, das gerade modern war.
"Bist du immer noch verbannt?" fragte Yvaine.
Cato nickte.
"Wir können uns endlich treffen", sagte er mit etwas unbeholfener Stimme, "aber es kann niemand erfahren ... verzeih', daß ich noch nicht richtig reden kann, ich habe zehn Jahre lang kein Wort sagen dürfen ..."
"Warum kannst du wieder sprechen?"
"Weil ich bei dir bin. Hier bin ich wieder ein Mensch. Aber niemand außer dir kann mich sehen oder hören. Die Leute werden glauben, daß du keinen Mann an deiner Seite hast. Du kannst dich nicht mit mir sehen lassen, du kannst mich niemandem vorführen, und du kannst nicht mit mir angeben."
"Darauf kann ich gut verzichten."
"Sag' das nicht", mahnte Cato. "Es ist ein hoher Preis."
"Warum bist du dir so sicher, daß ich ihn zahlen kann?"
"Weil ich dir als Mensch gegenübertreten kann. Und weil du mir die Stimme wiedergegeben hast."
"Vielleicht sollte ich meinen Mitschülern und meinen Lehrern auch mal gegenübertreten und meine Stimme gebrauchen", überlegte Yvaine. "Vielleicht würden die dann mal ihren Mund halten."

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