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Eine Menschenseele

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Es war ungewöhnlich, daß die U-Bahn an dieser Station hielt, denn sie war noch nicht fertiggestellt. Ariadne stieg aus und schaute sich neugierig um. Sie war allein auf dem Bahnsteig. Es roch nach Kunststoffen. Die Fugen zwischen den gelben Kacheln waren frisch und weiß. Einen Namen hatte die Station noch nicht erhalten, es gab auch noch keinen Fahrplan und keine Uhr. Sogar ein Ausgang fehlte. Ariadne ging bis zum Ende des Bahnsteigs, wo das grauschwarze Dunkel des Schachts begann. Sie wollte lieber auf die nächste Bahn warten, als durch den Schacht zu gehen und sich in Lebensgefahr zu bringen. Die nächste Bahn kam nach kurzer Zeit, hielt hier aber nicht. Ariadne betrachtete den gegenüberliegenden, ebenfalls menschenleeren Bahnsteig und stellte fest, daß auch dort der Ausgang fehlte. Sie schritt an der gelben Kachelwand entlang, Meter um Meter, und entdeckte eine Tür aus beschichtetem Stahl. Die Klinke ließ sich herunterdrücken, die schwere Tür ließ sich öffnen. Ein hoher Flur tat sich auf, ganz aus Beton. Unter der Decke blinkte eine Leuchtröhre. Ariadne griff ein herumliegendes Holzstückchen und steckte es in die Tür, daß sie nicht ins Schloß fallen konnte. Sie ging durch den Flur und kam nach einer Biegung an die nächste Tür, eine Flügeltür aus silbrigem Stahl. Hinter dieser Tür tat sich ein Treppenhaus auf, so hoch und weit, daß Ariadne das Ende nicht sehen konnte. Es war eine Welt aus Treppen und Aufzügen. Ariadne fand kein Holzstückchen, um es in die Tür zu schieben; sie fiel mit einem dumpfen Krachen ins Schloß.
"Es wird schon weitergehen", dachte Ariadne.
Das Treppenhaus wirkte so neu wie die U-Bahn-Station, schien aber fertiggestellt zu sein. Die Geländer, die Aufzüge, alles strahlte im Glanz des Ungebrauchten. Die matt schimmernden Aufzüge waren in Betonschächte eingelassen. Die Wände, die sie umgaben, waren verblendet mit einem grauschwarzen Mauerwerk, dessen Lochstruktur es leicht wirken ließ, ähnlich wie Pappe. Die Fußböden und Treppenstufen waren grauschwarz gefliest. Die Treppengeländer hatten dasselbe kalte, reine Gelb wie die Kacheln in der U-Bahn-Station. Das Halogenlicht, das diese Welt erleuchtete, kam indirekt hinter Abschirmungen und aus Ecken hervor.
Ariadne sah sich selbst in vielen Spiegeln. Sie war zu einem Androiden geworden, einem Kunstwesen, erstarrt in verzaubernder Schönheit. Sie hatte vergessen, wohin sie wollte. Warum sie hier war, wußte sie nicht, es kümmerte sie aber auch nicht. Ihr genügte es, treppauf und treppab zu gehen und in Aufzügen hinauf und hinunter zu fahren, wobei sie mehr und mehr in die Unendlichkeit dieser Welt aus Treppen und Aufzügen hineingeriet. Sie schaute von Treppenabsätzen in die Tiefe, einen Abgrund aus Treppen mit gelben Geländern. Sie schaute in einen leeren Aufzugschacht, der offenstand, ein Abgrund aus grauem Beton, der in nachtschwarzer Dunkelheit endete. Sie fuhr in Paternostern, die unterhalb weiterer Paternoster ihr oberes Ende hatten und oberhalb weiterer Paternoster ihr unteres.
Zeit hatte hier ebenso wenig Bedeutung wie Raum. Ariadne hatte keine Uhr und konnte nicht ermessen, ob Jahre, Monate oder nur Sekunden vergangen waren, als ihre Energie sie zu verlassen begann. Sie fühlte sich aber nicht erschöpft, sie wurde nur langsamer. Schließlich blieb sie stehen, vor einer anthrazitgrauen Wand, in der sich mehrere Aufzugtüren befanden.






Die Tür eines Aufzugs fuhr zur Seite. Altea stieg aus.
"Eine Menschenseele hier!" dachte Ariadne.
Seit sie ein Android war, konnte sie nichts mehr fühlen, dennoch wurde sie bei Alteas Anblick von einer seltsamen Wärme erfüllt, und ein Teil der verlorenen Energie kehrte in sie zurück.
"Wie kommst du hierher?" fragte sie.
"Ich suche die universelle Wahrheit", erklärte Altea. "So lange irre ich hier nun schon herum, und ich kann die universelle Wahrheit nicht finden!"
Ariadne hatte Altea früher sehr geliebt, doch er beschäftigte sich nicht mit Ariadne, sondern mit sich selbst und seiner Suche nach der universellen Wahrheit.
"Wenn es dir so wichtig ist, die universelle Wahrheit zu finden, vielleicht kann ich dir helfen?" bot Ariadne ihm an. "Vielleicht findest du sie nicht allein, sondern nur mit mir gemeinsam?"
"Was hast du mit der Wahrheit zu tun?" fragte Altea. "Du bist ein Trugbild. Du siehst aus, als wärst du Ariadne, aber du kannst es nicht sein, du bist doch nur ein Android."
"Warum suchst du die universelle Wahrheit ausgerechnet hier?" erkundigte sich Ariadne.
"Weil hier alles so unendlich ist, so ... unsterblich", erklärte Altea. "Ich will unsterblich werden, und ich glaube, wenn ich die universelle Wahrheit finde, werde ich unsterblich."
Ariadne und Altea fanden gemeinsam etwas, das vorher keiner von ihnen gefunden hatte: eine Tür, die sich neben einer Reihe von Aufzugtüren befand, aber keine Aufzugtür war. An dieser Tür war ein gläsernes Schild befestigt, auf dem stand in gelben Lettern:

Kammer der Wahrheit

"Mach' du sie auf", verlangte Ariadne.
Altea drückte die Klinke herunter, die Tür war aber verschlossen. Und es gab kein Schloß, so daß man keinen Schlüssel hätte finden können, um sie aufzuschließen.
Ariadne versuchte gleichfalls, die Klinke herunterzudrücken, doch für sie öffnete sich die Tür auch nicht.
"Wie war das noch mit der Hochzeitstorte?" erinnerte sich Ariadne. "Die müssen beide gemeinsam anschneiden. Vielleicht geht das hier auch."
Als sie gemeinsam auf die Klinke drückten, ließ sie sich weiter herunterdrücken als für einen von ihnen, und die Tür öffnete sich.
Der Raum, den Ariadne und Altea betraten, war ein Vorflur. Er endete mit einer gläsernen Wand, in der es eine Tür nach draußen gab. Man sah einen Bürgersteig und gegenüber der Straße ein dunkles Gebäude, das ein Bürohaus sein konnte. Der Vorflur wurde erhellt durch das Licht der Straßenlaternen.
"Hier geht es 'raus!" staunte Ariadne.
Sie fühlte sich nun wahrhaft wieder, sie fühlte ihren Atem wieder und ihre ganze Kraft, und sie fühlte ihre Liebe zu Altea.
Vor ihr verwandelte sich Altea in ein stählernes Gestell, einen Androiden, der sie aus kalten Augen anblickte. Allmählich fiel Teil um Teil zu Boden, das Gestell brach auseinander. Gleichgültig sah der Android seinem eigenen Zerfall zu. Das starre Gesicht legte sich endlich zu den anderen Teilen auf den Boden und brach selbst auseinander. Ariadne suchte mit ihren Händen in dem Haufen herum, fand aber nichts wieder von dem lebenswarmen Geschöpf, das sie liebte.
"Es gibt keine universelle Wahrheit", folgerte sie. "Es gibt nur meine und deine Wahrheit, die eigene Wahrheit für jeden Einzelnen von uns."

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